Die Biografieforschung ist ein Forschungsansatz der Qualitativen Sozialforschung und befasst sich mit der Rekonstruktion von Lebensverläufen und zugrunde liegender individuell vermittelter, gesellschaftlicher Sinnkonstruktionen auf der Basis biografischer Erzählungen oder persönlicher Dokumente. Das Textmaterial besteht in der Regel aus verschriftlichten Interviewprotokollen, die nach bestimmten Regeln ausgewertet und interpretiert werden.
Geschichte der Biografieforschung
Biografieforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Die biografische Methode wurde zuerst von F. Znaniecki ab den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts in die polnische Soziologie eingeführt und dort über Jahrzehnte hinweg als dominanter Forschungsansatz der empirischen Sozialforschung entwickelt und ausgebaut. Der von Thomas und Znaniecki publizierten Untersuchung über die polnischen Bauern in Polen und den Vereinigten Staaten liegt eine umfangreiche Sammlung von Tagebüchern, Briefen, Memoiren, Autobiografien und Verwaltungsdokumenten zugrunde, die thematisch geordnet und interpretiert werden. Die Rezeption dieser Arbeit geschah aufgrund der sprachlichen Hindernisse zuerst langsam, wurde dann aber im Social Sciense Research Council (SSRC) aufgenommen und verbreitet. Der biografische Forschungsansatz bildete eine wichtige Grundlage für die Entwicklung der Chicagoer Schule, die später den symbolischen Interaktionismus hervorbrachte. Ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung der Biografieforschung stellten die von Cliford R. Shaw 1930 und 1931 verfassten Analysen von Lebensläufen straffälliger Jugendlicher dar. Nach 1945 das Interesse an der Biografieforschung und wurde die sich entwickelnde quantitative Sozialforschung und den strukturfunktionalistischen Theorieansatz zurück gedrängt, bei dem das System und nicht das handelnden Individuum im Zentrum der Betrachtung stand.
Neuere Biografieforschung
Seit den 80er Jahren erlebte die Biografieforschung im Zuge einer erstarkenden qualitativen Sozialforschung einen neuen Aufschwung und entwickelt sich zu einem anerkannten Forschungsansatz in der Soziologie (siehe M.Kohli, W.Fuchs und andere). Unterstützt wurde diese Entwicklung von einer tendenziellen Abkehr des Fokus soziologischer Betrachtung von System und Struktur hin zu Lebenwelt, Alltag und Individuum und das Wiederaufleben phänomenologischer Theorieansätze.
Mit der zunehmenden Pluralisierung der Lebenswelten, der Modernisierung und Differenzierung der postmodernen Gesellschaften, der Auflösung traditioneller Werte und Sinngebung stellte sich gegen die Jahrtausendwende die Sinnhaftigkeit biografische Analyse in einer neuen Dringlichkeit dar. Das Individuum wurde zu einem Schnittpunkt unterschiedlicher und teilweise divergierender Anforderungen, Teilsystemlogiken, Erwartungshaltungen, normativer Leitbilder und institutionalisierten Regulierungsmechanismen. Die "Normalbiografie" löste sich auf und entließ den Einzelnen in die Notwendigkeit, seinen Lebenslauf in eigener Regie zu managen und Lösungen für die unterschiedlichen und sich widersprechenden Einflussfaktoren und Figurationen zu finden. In dieser Situation wird die selbsterfundene biografische Identität mit ihren gefährdeten Übergängen, Brüchen und Statuswechseln zu einem Konfliktfeld zwischen institutioneller Steuerung und individueller Handlungsstrategie. In einem DFG-Sonderforschungbereich "Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf" an der Universität Bremen wurde in den Jahren 1998-2001 die Dynamik des modernen Lebenslaufregimes empirisch erforscht. Die Ergebnisse inzwischen öffentlich zugänglich gemacht worden. Andere Ansätze in der Biografieforschung, die phänomenologischen und gestalttheoretischen Theorieansätzen nahe stehen, verfolgen weniger den institutionellen und gesellschaftlichen Aspekt der Lebenslaufkonstruktion als mehr die individuellen, gesellschaftlich mitkonstituierten Strukturen und generativen Regeln der Konstruktion von Lebenssinn, der Verarbeitung von Brüchen, Gefährdung und Anderssein in biografischen Verläufen. (siehe Rosenthal 1995).
Methoden und Probleme der Biografieforschung
Erlebte und erzählte Lebensgeschichte
Einzelfallaproach versus Verallgemeinerung
Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen
Literatur
- Fuchs, W., Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden, Opladen 1984
- Kohli, M., Soziologie des Lebenslaufs, Darmstadt 1978
- Lamnek, S., Qualitative Sozialforschung Bd. 2, Methoden und Techniken, Weinheim 1995
- Rosenthal, G., Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biograohischer Selbstbeschreibung, Ffm 1995
- Shaw, C., The Jack Roller. A Delinquent Boy's Own Story, Chicago, London 1966 (1930)
- Shaw, C., The Natural History of a Delinquent Career, New York 1968 (1931)
- Thomas, W.I./Znaniecki, F., The Polish Peasant in Europe and America, New York 1958 (1918-20)