Blueserszene

DDR-spezifische Jugendkultur
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Die Blueserszene oder Kundenszene war eine DDR-spezifische Jugendkultur bzw. eine Strömung in der Jugendkultur in der DDR, die zum Ende der 1970er Jahre ihren Höhepunkt erreichte. Ihre Anhänger bezeichneten sich selbst als Blueser, Kunden oder Tramper. Der Begriff der BlueserIn ist ein unscharfer Sammelbegriff und beschreibt phänotypische Gemeinsamkeiten wie Kleidungsstil und bestimme Formen von Verhalten (Trampen, Blueskonzerte besuchen). Dabei pflegten die mit diesem Begriff beschriebenen Personen ganz unterschiedliche Haltungen und Lebensweisen. Eine Quelle für die Begriffsbildung von "Blueserszene" sind neben der Präferenz des Musikgenres Blues(rock) die Blues-Messen, stark frequentierte Blueskonzerte in kirchlichen Räumen zwischen 1979 und 1988.[1]

Der Begriff Kunde bezeichnet hier nicht den heute bekannten Geschäftskunden, sondern bezieht sich auf die seit dem frühen 19. Jahrhundert belegte rotwelsche Bezeichnung Kunde für ‚wandernde Handwerksburschen, Bettler, Landstreicher‘[2]als positives Synonym für «unterwegs sein». Inspiriert nicht zuletzt durch den auch in der DDR erschienenen Roman Unterwegs von Jack Kerouac (original: „On The Road“) für eine andere Lebensform. Identitätsbildend wurde zugleich untereinander der Soziolekt „Typ“ (ebenf. aus der Gaunersprache) gebraucht.

Die Bezeichnung Gammler hingegen wurde ausschließlich außerhalb der Szene benutzt, insbesondere durch die Staatsmacht.

Ihr Leitsatz waren die Ideale aus der Hippie-Bewegung wie Freiheit, Authentizität und Nonkonformismus. Sie zeichnete sich durch identische Verhaltensmuster, gemeinsame musikalische Vorlieben und „ihr“ spezielles Outfit aus, das ein Wir–Gefühl erzeugte. Die überwiegende Mehrzahl der Blueser nahm eine betont antimilitaristische Geisteshaltung ein, was mit Wehrdienstverweigerungen in der NVA und während der Friedensbewegung in der DDR Anfang der 1980er Jahre mit der kirchlich organisierten Aktion Schwerter zu Pflugscharen und öffentlichen Tragens des Aufnähers kumulierte. Ein Beispiel dafür ist die Dresdner Gruppe Wolfspelz, die 1982 einer folgenreichen landesweiten Friedens-Protestaktion an der Frauenkirche in Dresden aufrief.[3]

Die Blueser- oder Kundenszene war die langlebigste und zugleich lebendigste Jugendkultur der DDR und stellte als signifikante Bewegung eine Gegenkultur zum vorgezeichneten DDR–Alltag dar.

Geschichte

In den 1960er Jahren erlangte der Blues in der DDR zunehmend offiziell Anerkennung. Neben traditionellen Jazzliebhabern begannen sich auch rockbegeisterte Jugendliche für den Blues zu interessieren. Ihre Idole waren u.a. die Rolling Stones oder die Animals, Jimi Hendrix, Cream, Janis Joplin und The Doors. Über deren live gespielten Coverversionen gelangte die erste „Bluesergeneration“ zu den Wurzeln des Blues. Ihren Höhepunkt erreichte die Blueser- oder Kundenszene zum Ende der 1970er Jahre. Insbesondere die am Rock orientierten Vertreter, wie John Mayall, Rory Gallagher, Canned Heat, Lynyrd Skynyrd oder ZZ Top fanden Anklang in der Szene. In der Identifikation mit dem Blues verkörperte sich die Aneignung von Werten wie Echtheit und Ursprünglichkeit. Analogien zum DDR-Alltag leitete man aus dem Freiheitskampf der Afroamerikaner ab und äußerte sich in der Suche nach Überlebensstrategien und Nischen innerhalb der DDR-Gesellschaft. Mitte der 1980er Jahre ging die Bewegung der aufmüpfigen „Blueser“ zurück, während Punks und Metaller gegen die Staatsmacht rebellierten.

Charakteristik

 
Michael Linke von Monokel, 2008
 
Parka, Hirschbeutel, Levi’s, Klettis
 
Römersandalen/Jesuslatschen

1979 zeichnete die Berliner Band Monokel in ihrem Song „Bye, Bye Lübben City“ ein treffendes Selbstporträt der Szene. „BlueserInnen“ waren eine Mischung aus Bluesfan, Beatkunde, Rockfan und Blumenkind.

Äußerliche Merkmale waren lange Haare, häufig mit Mittelscheitel, die Männer trugen oft Vollbart. Die "Bekleidungsstandards" wirken nachträglich uniform, beinhalten aber auch eine gewisse Bandbreite kreativer Modifikationen und Dekontextualisierungen tradierter Kleidung, die Ausdruck der Individualität der TrägerInnen war: Jeanshose und -jacke, Parka, langer wallender Rock, gebatikte T-Shirts, gefärbte historische Unterkleider, Fleischerhemd, Jesuslatschen oder Tramperschuhe machten das spezielle Outfit aus. Charakteristische Accessoires sind der Hirschbeutel, der aus kitschigen DDR-Gobelin-Wandteppichen selbst genäht wurde, häufig mit röhrendem Hirschmotiv, und bei Bedarf die Nickelbrille. Diese selbstgewählten Äußerlichkeiten waren stark identitätsstiftend und damit Erkennungszeichen. Sie symbolisierten Freiheit, Unangepasstheit und symbolisierten den Gegenentwurf zum sozialistischen Menschenbild, das geprägt war von kleinbürgerlichen Werten wie Sauberkeit, Fleiß, Patriotismus und Unterordnung unter das sozialistische Kollektiv.[4] Von diesem Erscheinugsbild, besonders von langen Haaren bei Männern und westlichen Jeans fühlten sich häufig Erwachsene und die Polizei provoziert.

Rauschmittel

Starker Alkoholkonsum war an den Wochenenden häufig. Insoweit wichen die Blueser kaum von der allgemeinen, zeit- und landestypischen Feierkultur ab. Andere Drogen waren im abgeschotteten Ostblock schwerlich zu beschaffen gewesen – wurden aber trotz des kleinen Grenzverkehrs sowie des Austausches zwischen West-Berlin und Umland kaum nachgefragt.

Kleidung

Studentenkutte

Das wohl wichtigste Markenzeichen war der grüne Shell-Parka (auch Studentenkutte oder Shelli), der im Original vom US-Militär stammte und gleichzeitig als Bekleidung und Schlafsack diente. Als Ersatz mussten oftmals Drillichjacken der FDJ aus den fünfziger Jahren oder nicht mehr aktuelle Uniformjacken von NVA und der GST dienen, die ein ähnliches Outfit hatten. Etabliert hatten sich auch alte, dunkle Ledermäntel und später Lodenmäntel, die nur noch gebraucht zu kaufen waren.

Jeans

Als nonplusultra galten Jeans, vor allem die Levi’s 501 – mit Knöpfen und ohne Reißverschluss. Dazu häufig die passende Jeansjacke. Ein Schlüssel zu genau dieser Jeansmarke ist u. a. in dem 1972 erschienenen Roman von Ulrich Plenzdorf Die neuen Leiden des jungen W. zu sehen, in dem neben dem Fehlen von Entfaltungsmöglichkeiten parallel zur Erziehung einer sozialistischen Persönlichkeit in der DDR und der Flucht aus der kleinbürgerlichen Enge, ausführlich und genau zu „dieser Jeans“ gesprochen wurde. Dieser Roman war sofort – zunächst durch Mundpropaganda – unter den Jugendlichen Kult, mit der Folge, dass er selbst im Kinderferienlager gelesen wurde und die kommende Blueser-Generation nachhaltig beeinflusste. Neben diesem Buch wurde auch der 1975 erschienene Jugendroman von Joachim Walther „Ich bin nun mal kein Yogi“ (später 1980 als „Light–Version“ verfilmt unter Und nächstes Jahr am Balaton) zu einem Dokument der unangepassten Jugendlichen und deren spezielle Sprachkultur.

Jeans waren in der DDR ein kostbares Gut; sie waren bis Ende der 1970er Jahre nur über Umwege aus dem Westen zu bekommen. Wer eine Levi’s besaß, trug sie, bis sie auseinanderfiel. Daraus entstand eine – neue – identifikationsstiftende Komponente: Die Flickenjeans wurde Kult[5]. Die Jugendlichen nähten und arrangierten sich die passenden, häufig kleinteiligen Flicken möglichst ästhetisch, in verschiedenen Blautönen abgestimmt, auf „ihre“ Jeans. Um den schweren Baumwollstoff zu bewältigen, wurden die alten Singernähmaschinen plötzlich sehr gefragt. Manche Jeans bestanden mit bis zu 50 Flicken fast nur aus diesen. Zerrissene Jeans, wie sie heute bereits ladenneu erworben werden können, waren dagegen nicht angesagt. Wichtig war die persönliche Individualität, die der Blueser mit seinem Beinkleid nach außen dokumentierte.

Tramper (Schuhe)

An den Füßen trug der „Blueser“ braune knöchelhohe aber leichte Bergkletterschuhe aus Wildleder (Tramper bzw. Klettis) oder die sogenannten Jesuslatschen. Als Oberbekleidung dienten T-Shirts oder blau-weiß-gestreifte Arbeitshemden (Fleischerhemden), bei den jungen Frauen häufig selbst kreierte Batikkleider oder eingefärbte Unterröcke. Als ständiger Begleiter galt ein möglichst historischer Brotbeutel oder auch Tornister. Der Hirschbeutel, eine aus einem alten Wandteppich mit Hirschmotiv oder ähnlichem selbstgenähte Umhängetasche, setzte sich erst in den 1980er-Jahren als unverwechselbares Attribut durch.

Musikgeschmack

Musikalisch orientierte sich der „Blueser“ am Folk, Blues, Southern Rock und Bluesrock. Als Motor der Szene fungierten einheimische Bands wie Engerling, Freygang, Die Firma, Monokel, Hof-Blues-Band, Passat, Jonathan Blues Band, Hansi Biebl, Mama Basuto, Kerth, Blues vital, Pasch, ergo und Stefan Diestelmann. Vornehmlich in Dorfkneipen in den südlichen DDR-Bezirken oder am Rande der großen Städte vermittelten diese Bands Blues-Seligkeit. Im Schatten der offiziellen Kulturpolitik und des Mainstreams frönten Bands und „Blueser“ dem Blues, eroberten die Provinz und „besetzten“ zunehmend auch „sozialistische Volksfeste“, wie zum Republikgeburtstag, Pressefeste, Stadtfeste oder den Weimarer Zwiebelmarkt und gerieten somit ins Visier der Staatsmacht.

Freizeitkultur

An den Wochenenden war der „Blueser“ häufig unterwegs, reiste per Bahn oder trampte den Bands hinterher und lebte seine Auffassung von Freiheit und Moral. Die Blueser- oder Kundenszene war eine heterogene Gemeinschaft und männlich dominiert. Ihr gehörten mehrheitlich junge Facharbeiter, aber auch Oberschüler und Studenten an. Der gemeinsame Nenner bestand in der Ablehnung staatlich verordneter Kulturmuster und in dem Drang zur Flucht aus der Enge und Beschränktheit des DDR-Alltages.

Noch heute wird diese Kultur bei diversen Festivals in Refugien gepflegt, wie z.B. in der Berliner WABE „Kunden–Blues−Nacht“[6] oder dem Bluesfasching im thüringischen Apolda mit Ausstellungen und Lesungen[7].

Siehe auch

Literatur

Einzelnachweise

  1. [0]=blues Bluesmessen, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V.
  2. Siegmund A. Wolf, Wörterbuch des Rotwelschen / Deutsche Gaunersprache, Bibliographisches Institut, Mannheim 1956, S. 188, Nr. 3017
  3. „Dresden und die Gruppe Wolfspelz“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung März 2012
  4. Die „Norm“ der sozialistischen Persönlichkeit. In: Opposition und Repression in der DDR, Bildungsserver Berlin-Brandenburg
  5. Shell-Parka, Schlafsack und Flickenjeans – Monokel Blues Band ist 35 Jahre alt, in MELODIE & RHYTHMUS 5/2011
  6. 2. Kunden–Blues−Nacht in der WABE
  7. Ausstellung „Von Liebe und Zorn. Jung Sein in der Diktatur”, nach einem Titel der 1975 verbotenen Band Renft Zwischen Liebe und Zorn