Samuel (Semjon) Lwowitsch Kljatschko (russisch Самуил (Семён) Львович Клячко; * 2. Juni 1851 in Wilna, Russland, heute Litauen; † 17. April 1914 in Wien) war ein russischer Revolutionär. Er war kein professioneller Politiker, aber dank seiner Intelligenz, seiner moralischen Autorität und seinen weiten Freundes- und Bekanntenkreises, beeinflusste er die Orientierung der jungen
Sozialisten in der österreichisch-ungarischen Monarchie. Als inoffizieller Verbindungsmann zwischen den russischen Revolutionären aller politischen Tendenzen in Europa, unterstützte er die revolutionäre Bewegung in Russland.

Leben
Elternhaus und Jugend
In Wilna des 19. Jahrhunderts stellten die Klatschkos, auch Klatchko, Klaczko oder Klatzko geschrieben, eine weit verzweigte und geachtete Familie dar. Es gab eine Klatschko Strasse, und Klatschkos waren Kaufleute und angesehene Rabbiner. Seit der Jahre 1830 wurde in Wilna von der russischen Verwaltung ein Staatsrabbiner ernannt, und unter diesen war ein Sheftel Klaczko. Die Haskala, die jüdische Aufklärungsbewegung, entwickelte sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts in Wilna und die Stadt wurde eines der wichtigsten Zentren dieser Bewegung in Osteuropa. Die Kaufmannsfamilien der Stadt, die Klatschkos, die Blochs und andere, unterstützten diese Bewegung durch die Finanzierung moderner Schulen.[1]. In dieser Atmosphäre der erwachenden Modernität, die ihren Platz im orthodoxen Judentum suchte, wurde Samuel Klatschko als Sohn eines Rabbiners, Lewin Smulowitsch Klatschko und dessen Frau, Serl Gdaljowa geb. Rosenzweig, geboren. Der Junge besuchte eine der modernen Schulen, lernte Russisch und Deutsch und beschäftigte sich intensiv mit der russischen Literatur. Im Alter von 16 Jahren verließ er seine Familie und begab sich nach Moskau, wo ihn ein neues Leben erwartete.
Studium und politische Aktivität in Russland
Samuel Klatschko schrieb sich an der Universität Moskau ein und besuchte drei Jahre die Medizinische Fakultät (1867-1870), wechselte dann für zwei Jahre auf die Fakultät für Rechtswissenschaft (1870-1872). Der junge Student wurde in seiner Umgebung als eine praktische und energische Persönlichkeit respektiert. [2] Die Universitäten von Sankt Petersburg und Moskau brausten von intellektueller Aktivität. Die "Historischen Briefe" von Lawrow, die ins Russisch übersetzten Werke von Lassalle und John Stuart Mill und andere ökonomische und soziale Abhandlungen zirkulierten in den Universitäten und wurden eifrig diskutiert. Es formten sich geheime Studentenverbindungen, speziell die 1869 von Natanson und Nikolai Tschaikowski [3] an der Universität von Sankt Petersburg gegründete: der Tschaikowski Verein [4] oder die "Tschaikowskie". Klatschko schloss sich an diesem Verein an und war in den Jahren 1871-1872 Leiter der Zweigstelle der Tschaikowskie an der Moskauer Universität. Als solcher unterhielt er die Kontakte mit Tschaikowski und seiner Gruppe in Sankt Petersburg. Er beteiligte sich am Aufbau von Handwerksbetrieben, am Druck und an der Verbreitung sozialistischer und nationalökonomischer Werke und an der Gründung von populären Bildungsvereinen. Die Verbindung mit Revolutionären im Exil, wie Valerian Smirnow[5], Aleksandr Elsnits [6] und anderen, war auch eine seiner Aufgaben. [7] Im Herbst 1871 fuhr Samuel Klatschko im Auftrag der Tschaikowskie nach Zürich und verhandelte dort über die Herausgabe revolutionärer Literatur und deren Vertrieb in Russland. Höchstwahrscheinlich war es damals, dass er das Buch von Karl Marx "Der Bürgerkrieg in Russland" ins Russische übersetzte. Er machte die Übersetzung nicht vom englischen Originaltext, sondern von der deutschen Fassung, die Friedrich Engels zum ersten Mal in der Zeitschrift "Volksstaat" vom 28.-29. Juli 1871 veröffentlicht hatte.[8] Im April 1872 wurde Samuel Klatschko, zurück in Moskau, verhaftet und verhört, unter der Beschuldigung, einem revolutionären Verein in Moskau anzugehören und Beziehungen zu verurteilten Mitgliedern der Netschajew Gruppe (Varlaam Tscherkesow, Uspensky und andere ) zu unterhalten. Seine Wohnung, sowie die seiner Kollegen Tsakni, Bika und Nikolaijewa wurden durchsucht, was Unruhe unter den Studenten des vierten Jahrganges erzeugte. Daraufhin beschlossen diese eine Abordnung zu bilden um eine Petition an die Regierung einzubringen: Studenten nicht durch Verhaftungen einzuschüchtern, eine eigene Kasse führen zu können und das Drucken der Kurstexte, sowie den billigen Verkauf von zugelassenen Büchern an arme Jugendliche zu erlauben. [9] Klatschko wurde vor seinem Prozess freigelassen und konnte 1873 in die Schweiz emigrieren. Dort arbeitete er in Zürich als Mitarbeiter bei der Zeitschrift Vorwärts (Вперед) unter der Leitung von Pjotr Lawrow.
Die Utopische Kolonie in Amerika
Anfangs 1874 kam es zu einer Spaltung des Tschaikowski Vereins: Die Mehrzahl der Mitglieder wollte die revolutionären Aktivitäten, das "zum Volk gehen" fortsetzen und ausweiten. Nikolai Tschzikowski selbst, gefolgt von einigen Freunden, war zum Schluss gekommen, dass diese Aktivitäten scheitern würden, da die Kluft zwischen der Intelligenzija und dem Volk zu gross war.[10] Er suchte einen anderen Weg zur Änderung des Regimes uns fand ihn im Bogochelovechestevo, der Gott-Menschlichkeit. Der Entwickler und Verbreiter dieses Begriffes war Alexander Malikow, ein Untersuchungsrichter im Distrikt Zhidrin. Es war eine mystische Theorie des passiven Widerstand: der Mensch sollte erst sich selbst, seine Seele, verbessern um durch sein Beispiel das Böse in der Gesellschaft auszumerzen. Es war kaum möglich, diese Theorie in Russland in die Praxis umzusetzen. [11]. Nach einigem Zögern beschlossen Tschaikowski und Malikow nach Amerika auszuwandern und dort eine ideale Kolonie zu gründen. Samuel Klatschko schloss sich diesem Unternehmen an.[12]. Im Frühjahr 1875 brachen sie auf, 12 junge Männer und Frauen und 3 Kinder, und reisten in drei Gruppen nach den Häfen Westeuropas. Klatschko, Seine Frau Jane und sein Freund Tschaikowski gingen in Liverpool and Bord der RMS Abyssinia und erreichten, im Zwischendeck, New York am 7. Juli 1875. [13] Die neuen Einwanderer versammelten sich in einer Wohnung in New York, und Ende Oktober zogen sie los zur Gründung einer Kolonie in Kansas, obwohl einige in der Passagiersliste, Kalifornien als Ziel ihrer Reise angegeben hatten. Ein anderer mystischer Utopist, der Russe William Frey , sein wahrer Name war Vladimir Konstantinovitch Heins, hatte dort schon 1871 eine kleine Kolonie in Chautauqua County, Kansas, nahe der kleinen Stadt Cedar Vale, gegründet. [14] Malikow und Tschaikowski kauften 160 Acres (65 Hektare) Land, vier Meilen von der Niederlassung Freys entfernt, mit einer kleinen Farm, zwei Pferden und einer Kuh. Die kleine Truppe siedelte sich in den zwei Zimmern des Farmhauses ein und im Winter bauten die Männer neue Wohnräume dazu. Eine neue Cedarvale Kolonie war entstanden. Im Frühjahr kauften sie noch zwei Kühe und begannen zu ackern und Mais und Weizen zu sähen. Alles schien zum Besten zu gehen. [15]. Doch bald stellte es sich heraus, dass die jungen Intellektuellen und Theoretiker wenig von der Feldarbeit und von der praktischen Leitung einer Kolonie, mit all den Problemen des Zusammenlebens, verstanden. Sie wandten sich daher an den Nachbarn Frey, der mehr Erfahrung auf diesem Gebiet hatte. Dieser übernahm die Führung von Cedervale und brachte seine Leute mit sich.Samuel Klatschko spielte keine besondere Rolle in der Kolonie; er arbeitete auf den Feldern und besorgte von Zeit zu Zeit die Einkäufe in der Stadt. Der Einfluss Freys, der einen mystischen und starren Character hatte, verschlechterte die Lage der Kolonie anstatt sie zu verbessern. Er führte Sitzungen mit Kritik und Selbstkritik ein, die oft, wegen Kleinigkeiten, zu gegenseitigen Beschuldigungen degenerierten. [16]. Die Mahlzeiten waren karg, kein Fleisch, kein Kaffee, Tee, Alkohol oder Zucker. Das Zusammenlen auf engem Raum schuf persönliche Probleme, Ehen zerbrachen, neue Paare formten sich und auch Heimweh setzte ein. [17]. Die Auflösung der Kolonie begann im Sommer 1877 und ihre Mitglieder zerstreuten sich. Malikow kehrte noch im selben Jahr nach Russland zurück, während Tschaikowski ein Jahr in einer Kolonie der Shaker verbrachte. Erst im Februar 1878 kam er nach Europa zurück, und nach einem Aufenthalt in Paris, liess er sich 1880 in Harrow, England nieder. Samuel Klatschko verdiente sich seine Schiffskarte auf dem "Rinder Trail", der Vieh von Texas nach den Kopfbahnhöfen in Kansas und von dort zu den Schlachthäusern Chicagos führte. [18]. 1878 überquerte er den Atlantik und erreichte über England Paris. Von dort wurde er am 14. Juli 1878 nach Wien ausgewiesen.
Als Emigré in Wien
Die Familie
In Vorbereitung
Kreis der Freunde und die jungen Sozialisten
In Vorbereitung
Theodor Herzl
Theodor Herzl veröffentlichte sein Werk Der Judenstaat am 14. Februar 1896 und er hatte die russische Übersetzung an Samuel Klatschko vergeben.[19] Die russische Version des Buches erschien noch im selben Jahr. Das Massaker an den Armeniern 1894-1896 und der Widerstand von Zeytun 1895-1896 erschütterte in diesen Jahren die öffentliche Meinung in Westeuropa. In Herzl erwachte die Idee, in diesem Konflikt zwischen Armeniern und Türken zu vermitteln und damit den Sultan zu bewegen, einer Abgabe Palästinas an die Juden zuzustimmen.( Die Sanierung des osmanischen Haushalts mit jüdischem Geld war dabei auch vorgesehen.) Dank seinen Beziehungen im Kreise der Revolutionäre, spielte Klatschko eine, wenn auch kleine , Rolle in diesem Vermittlungsversuch. Er kannte den Führer der Armenier in Tiflis, Alawerdoff, und zu dem Vertreter der Armenier in London, Avetis Nazarbekian, Gründer der revolutionären Sozialdemokratische Huntschak-Partei, hatte er Zugang über seinen Freund Nikolai Tschaikowski, der in Harrow, bei London, lebte. Alawerdoff reiste nach Wien und sprach mit Herzl am 2. Juli 1896. Klatschko fungierte als Dolmetscher. Das einzige Ergebnis dieses Treffens war eine Botschaft nach London, dass Herzl als ein Freund der Armenier kommen würde. [20] Tschaikowski, von Klatschko angesprochen, half eine Begegnung von Nazarbekian und Herzl in London zustande zu bringen. Herzl konnte die Armenier nicht vom Kompromisswillen der Türken überzeugen und sie zu einen Waffenstillstand zu bringen. Sein Vermittlungsversuch scheiterte.
Tod
Samuel Klatschko, von seinen russischen Freunden Semjon Lwowitsch genannt, starb nach langem Leiden an Nierenkrebs, in Wien am 17. April 1914. Die Todesanzeige veröffentlichten seine Berufskollegen am 18. April in der Neuen Freien Presse. Die Grabrede am 19. April hielt Victor Adler, der Begründer der österreichischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Als besonderes Merkmal des Charakters Samuel Klatschko's betonte er seinen Sanftmut und seine bezwingende moralische Autorität. In seiner Nekrologie schrieb Leo Trotzki „er war ein Bürger der zivilisierten Welt“ und „er hatte alles um ein hervorragender Politiker zu sein, außer den dazu notwendigen kleinen Fehler.“ [21] Sein Grab ist im Zentralfriedhof 1.Tor, Gruppe 52, Reihe 9, Grab 3.
Veröffentlichungen
- Zur Entwicklungsgeschichte der Revolution in Russland. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung Ignaz Brand, Wien 1905.
Literatur
- Сост. А. А. Шиловым, М. Г. Карнауховой: Деятели революционного движения в России. Государственная публичная историческая библиотека России, Moskau 1931. (A. A. Schilowym, M. G. Karnauchowoi: Die Persönlichkeiten der revolutionären Bewegung in Russland.)
- Charles Nordhoff: The Communistic Societies of the United States. From Personal Visit and Observation. Dover Publications, Inc., New York 1966
- Paul Kutos: Russische Revolutionäre in Wien 1900-1917: eine Fallstudie zur Geschichte der politischen Emigration. Passagen Verlag, Wien 1993
- Abbott Gleason: Young Russia: The Genesis of Russian Radicalism in the 1860s. Viking Press, New York 1980.
- Kuropiatnik, G. P. : "Russians in the United States: Social, Cultural, and Scientific Contacts in the 1870s" in "Russian-American Dialogue on Cultural Relations, 1776 - 1914", edited by Norman E. Saul and Richard D. McKenzie, University of Missouri Press, Columbia, Missouri, 1997.
Einzelnachweise
- ↑ ’ ’ Vilnius ’ ’ . The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, Seite 3. Abgerufen am 8 April 2014
- ↑ ЦГАО, Ф. 109, 1872 г., д. 198, лл. 1-3об. Государственный архив Российской Федерации (Staatsarchiv der Russischen Föderation.)
- ↑ [1]Nikolai Tschaikowski, Wikipedia.en.
- ↑ [2]Tschaikowski Verein, Wikipedia.fr
- ↑ [3]Valerian Smirnow
- ↑ freedictionary.com/Elnits,+Aleksandr+LeontevitchAleksandr Leontevitch Elnits, The Free Dictionary
- ↑ Сост. А. А. Шиловым, М. Г. Карнауховой: Деятели революционного движения в России. Государственная публичная историческая библиотека России, Moskau 1931. (A. A. Schilowym, M. G. Karnauchowoi: Die Persönlichkeiten der revolutionären Bewegung in Russland, S. 585-586.)
- ↑ ЦГАЛИ, Ф, 1158, оп. 1, д. 528, л. 43. TsGALI, F. Tsentral'nyi gosudarstsvennyi arkhiv literaturyi i isskusstva.
- ↑ ЦГАОР, Ф. 109, 1872 г., д. 198, лл. 1 - 3об.
- ↑ Bogucharsky, V. Ya.: "Active Populist of thr 70's", Moskau, 1912, Seite 185
- ↑ Rosamund Bartlett: "Tolstoy: A Russian Life". Haughton Mifflin Harcourt Publishing Company, New York, 2011, Seite 259.
- ↑ [4]Andrey Fatuschenko: "Communes of Russian Intellectuals in the USA in the Late 19th Century", Faculty of Foreign Languages and Area Studies, Lomonosov Moscow State University, 2012
- ↑ Passagiersliste, Castle Garden Immigration
- ↑ Avraham Yarmolinsky: "A Russian's American Dream: A memoir of William Frey", University of Kansas Press, 1965.
- ↑ Vasily Alexeyev: "Recollections", Chronicles of the Government Literatur Museum, Issue 12, V. 2, Mokau 1948, Seite 134
- ↑ A. Faresov: "Odin iz 'semidesyatnikov'" ("Einer der Siebziger") VE, XXXIV/V, Mai 1904, Seiten 146-147.
- ↑ Korolenko, V. G.: "Istoria moego sovremennika", Sank Petersburg, 1906_22; translated as the "History of my Contemporary" by Neil Pardon, London, Oxford University Press, 1972, Seiten 642 -656.
- ↑ Erinnerungen der Familie
- ↑ Theodor Herzl: Theodor Herzl Tagebücher, 1895-1904. Jüdischer Verlag, 1922, Seite 400 .
- ↑ Theodor Herzl: Theodor Herzl Tagebücher, 1895-1904. Jüdischer Verlag, 1922, Seite 465.
- ↑ L. D. Trotzki: S. L. Klatschko. In Der Kampf (Борьба). Nr. 4, 28. April 1914 (russisch).
Personendaten | |
---|---|
NAME | Klatschko, Samuel |
ALTERNATIVNAMEN | Klatschko, Samuel Lwowitsch (vollständiger Name); Клячко, Самуил Львович |
KURZBESCHREIBUNG | russischer Revolutionär |
GEBURTSDATUM | 2. Juni 1851 |
GEBURTSORT | Wilna, Russland |
STERBEDATUM | 17. April 1914 |
STERBEORT | Wien |