Mathematischer Konstruktivismus

mathematik-philosopische Richtung, die eine Reihe von Axiomen in Frage stellt
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Der mathematische Konstruktivismus ist eine Richtung der Philosophie der Mathematik, die den ontologischen Standpunkt vertritt, dass die Existenz mathematischer Objekte durch ihre Konstruktion zu begründen ist. Der Konstruktivismus kann eine objektivistische (ein mathematisches Objekt existiert unabhängig vom Denken, seine Existenz wird aber erst durch seine Konstruktion begründet) und eine subjektivistische Form einnehmen (ein mathematisches Objekt entsteht als Produkt der konstruierenden Intuition des Mathematikers und wird von ihm dabei überhaupt erst hergestellt, Intuitionismus). Mathematische Aussagen der Form „Es gibt …“ werden abgelehnt und − wenn möglich − ersetzt durch Sätze der Form „Wir können … konstruieren“ (bspw.: „Es gibt irrationale Zahlen , , so dass rational ist.“ vs. „Wir können solche Zahlen , konstruieren“).[1]

Entwicklung

Erste Ansätze zur konstruktiven Mathematik stammen aus dem Intuitionismus von L. E. J. Brouwer. Weitere Ansätze wurden von Hermann Weyl, Andrei Nikolajewitsch Kolmogorow und Errett Bishop, Arend Heyting, Solomon Feferman, Paul Lorenzen, Michael J. Beeson und Anne Sjerp Troelstra entwickelt. Der insbesondere durch Weyl vertretene Konstruktivismus war eine der Positionen, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts im Grundlagenstreit der Mathematik gegenüberstanden, er konnte sich dabei aber nicht durchsetzen.

Theorie

In einem konstruktiven Beweis werden die mathematischen Objekte und Lösungen von Problemen tatsächlich konstruiert. Joseph Liouville lieferte zum Beispiel eine transzendente Zahl bei seinem Beweis, dass es transzendente Zahlen gibt.[2]

Die konstruktive Mathematik vermeidet ausdrücklich nicht-konstruktive Beweise und kommt mit der intuitionistischen Logik aus, die keine nicht-konstruktiven Beweise zulässt. Wird etwa (wie in einem indirekten Beweis) aus der Falschheit einer negierten Behauptung diese Behauptung selbst gefolgert, so wird dabei eine logische Schlussform verwendet, die nicht zur Konstruktion zwingt.[3] Der wesentliche Kernpunkt des Konstruktivismus besteht also darin, nur jene Sätze zu formulieren, deren Objekte (und Problemlösungen) konstruierbar sind. Dieser Anspruch führt dazu, Anwendungen des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten sowie des Auswahlaxioms abzulehnen, da mit beiden Sätzen[4] auch Aussagen über mathematische Objekte (bzw. Lösungen) hergeleitet werden können, ohne anzugeben, wie diese konstruiert werden.

In der Arithmetik lässt sich immer beides durchführen, konstruktive Beweise und nicht-konstruktive Beweise. Die eigentliche Diskussion um die Grundlagen der Mathematik tritt erst in der Analysis auf:

Reelle Zahlen lassen sich auf der Konvergenztheorie für rationale Zahlen aufbauend als Äquivalenzklassen einer geeignet gewählten Äquivalenzrelation auf den rationalen Cauchyfolgen definieren. Eine irrationale Zahl ist dann also, ähnlich wie die ihnen zugrunde liegenden rationalen Zahlen, eine Menge.[5]

Beispiel:

 

Die Folge   hat als rationale Zahlenfolge keinen Grenzwert. Sie ist aber eine Cauchyfolge. Die Menge der zu   äquivalenten rationalen Cauchyfolgen,  , wird mit dem Symbol   bezeichnet, erst einmal ohne dass die Wurzel eine Bedeutung hätte. Für Äquivalenzklassen werden dann die Verknüpfungen   und   eingeführt und es zeigt sich, dass tatsächlich   gilt.

So lassen sich als Grundlage für eine konstruktivistische Analysis alle nötigen reellen Zahlen bestimmen. Da eine Menge mit ausschließlich konstruierten reellen Zahlen nie alle reellen Zahlen enthalten kann, betrachten Konstruktivisten immer nur konstruierbare Teilmengen der Menge aller reellen Zahlen   oder benutzen indefinite Quantoren (das Wort alle wird dann nicht wie in der konstruktiven Logik benutzt) zur Bestimmung von  .

Da jede Konstruktionsanweisung eine endliche Folge von Anweisungen aus einer endlichen Menge   ist, gibt es eine bijektive Funktion  . (Dabei ist   die Menge aller Wörter über  .) Also sind diese konstruktivistischen Mengen reeller Zahlen abzählbar. Aus Cantors Diagonalbeweis folgt, dass die jeweilige Menge konstruktivistisch-reeller Zahlen eine niedrigere Kardinalität hat als die Menge aller reellen Zahlen und somit eine echte Teilmenge von ihr ist. Konstruktivisten vertreten den Standpunkt, dass man nur konstruierbare reelle Zahlen für Anwendungen braucht, und fassen die cantorschen Diagonalargumente als Konstruktionsvorschrift auf, Mengen reeller Zahlen abzählbar zu erweitern.[6]

Standpunkt der Mathematiker

Traditionell sind die meisten Mathematiker misstrauisch, wenn nicht sogar kritisch gegenüber dem mathematischen Konstruktivismus eingestellt, größtenteils wegen der Einschränkungen, welche die konstruktive Analysis fordert. Diese Ansichten wurden von David Hilbert deutlich zur Sprache gebracht: „Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen, soll uns niemand vertreiben können.“ Mit dem Paradies war die Mengenlehre gemeint, die trotz ihrer Paradoxien eine besondere Bereicherung der theoretischen Mathematik darstellte und Aspekte beinhaltet, die eine weit über die konstruktive Mathematik hinausgehende Grundlage der modernen Mathematik schuf. Die konstruktivistische Mathematik enthält nicht den ganzen Satzbestand der Mathematik.

Insbesondere in der Analysis halten die meisten Mathematiker die Einschränkungen der konstruktiven Mathematik für unnötig und haben Ende des 20. Jahrhunderts die Analysis um etliche Gebiete erweitert, die nicht konstruktiv rekonstruierbar sind. Mathematische Konstruktivisten wie Bishop und Lorenzen versuchten dagegen, möglichst die konstruktive Analysis zu retten. Errett Bishop strebte 1967 in seinem Buch Foundations of Constructive Analysis an, Zweifel durch die Entwicklung eines großen Teils der Analysis nach konstruktivistischen Prinzipien zu entkräften. Auch der deutsche Mathematiker und Philosoph Paul Lorenzen zeichnete die klassische Analysis konstruktiv nach.[7] Lorenzen begann zunächst mit einer operativen Mathematik und Logik und führte später die so genannte Abstraktion in den Aufbau (Hugo Dingler) der Mathematik ein. Terme werden zum Beispiel nach Lorenzen durch Abstraktion (von den Unterschieden) zu Funktionen. Diesem mathematisch-philosophischen Ansatz, der auch in den Erlanger Konstruktivismus einfloss, geht es um einen Aufbau der Mathematik durch die ausübende und kalkulierende Tätigkeit des Mathematikers.

Unabhängig von konstruktiven Ausarbeitungen sehen jedoch nahezu alle Mathematiker keine Notwendigkeit, sich auf konstruktivistische Verfahren zu beschränken.

Siehe auch

Schriften konstruktiver Mathematiker

  • du Bois-Reymond, Paul: Allgemeine Functionentheorie. Tübingen 1882
  • Beeson, Michael: Foundations of Constructive Mathematics. Springer-Verlag, Heidelberg 1985
  • Bishop, Errett: Foundations of Constructive Analysis. McGraw-Hill, New York 1967
  • Bridges, D., and Richman, F.: Varieties of Constructive Mathematics. London Math. Soc. Lecture Notes 97, Cambridge: Cambridge University Press 1987.
  • Kronecker, Leopold: Vorlesungen über die Theorie der einfachen und der vielfachen Integrale. Hrsg: Netto, Eugen, Leipzig Teubner 1894
  • Martin-Löf, P.: Notes on Constructive Analysis. Almquist & Wixsell, Stockholm 1968.
  • Lorenzen, Paul: Maß und Integral in der konstruktiven Analysis. Mathematische Zeitung 54: 275
  • Lorenzen, Paul: Einführung in die operative Logik und Mathematik. Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955
  • Lorenzen, Paul: Metamathematik. Mannheim 1962
  • Lorenzen, Paul: Differential und Integral. Eine konstruktive Einführung in die klassische Analysis. Frankfurt 1965
  • Lorenzen, Paul: Konstruktive Wissenschaftstheorie. Frankfurt 1974
  • Lorenzen, Paul: Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie. Zürich 1987, Stuttgart 2000 ISBN 3-476-01784-2
  • Lorenzen, Paul: Elementargeometrie als Fundament der Analytischen Geometrie. Mannheim/Zürich/Wien 1983, ISBN 3-411-00400-2
  • Zahn, Peter: Ein konstruktiver Weg zur Masstheorie und Funktionalanalysis. (Broschiert) 1978, ISBN 3534077679

Literatur

Einzelnachweise

  1. Douglas Bridges: Constructive Mathematics. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.
  2. Beispiel siehe Konstruktivismus in: Serres, Michel; Nayla Farouki: Thesaurus der exakten Wissenschaften. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2001, 508
  3. Zum Verhältnis von Konstruktivismus und Intuitionismus siehe auch Matthias Baaz and Rosalie Iemhoff: Konstruktivismus und Intuitionismus (PostScript; 267 KB) In: Internationale Mathematische Nachrichten 201 (2006; PDF; 1,3 MB)
  4. Vgl.: Bridges, l. c.! Ohnehin benutzt bereits das Auswahlaxiom den Satz von ausgeschlossenen Dritten: N. D. Goodman, J. Myhill (1978): Choice Implies Excluded Middle. In: Zeitschrift für Mathematische Logik und Grundlagen der Mathematik 24, 461.
  5. Bei Paul Lorenzen wird dagegen eine irrationale Zahl durch Abstraktion bestimmt. Von den Unterschieden zweier Folgen wird abgesehen, wenn ihre Differenz eine Nullfolge ist.
  6. vergleiche: Paul Lorenzen, Elementargeometrie
  7. P.Lorenzen, Differential und Integral