Migrationsforschung

interdisziplinäres wissenschaftliches Arbeitsfeld
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Definition

Unter räumlicher Mobilität wird jede Positionsveränderung eines Individuums zwischen verschiedenen Einheiten eines räumlichen Systems verstanden. Räumliche Mobilität ist unabhängig von der Reichweite der Bewegung (große oder geringe Distanzen) und ihrer Frequenz (einmalig oder regelmäßig, selten oder häufig) definiert.

Von einem Wanderungsvorgang oder einer Migration spricht man erst dann, wenn die Wohnsitzverlegung eines Individuums über eine

  • administrative Grenze hinweg und
  • dauerhaft, jedoch zumindest für einen längeren Zeitraum

angelegt ist.

Zur Messung und zum Vergleich von Wanderungsvorgängen werden folgende Einheiten/Kennziffern verwendet:

  • Wanderungsvolumen/Bruttowanderung = Summe aller Wanderungsvorgänge: Zuzüge + Fortzüge
  • Wanderungsbilanz/ -saldo = Differenz aus Zu- und Fortzügen
  • Wanderungsrate = Wanderungsvolumen bezogen auf 1.000 Einwohner
  • Mobilitätsziffer(n) = Wanderungsraten bestimmter Bevölkerungsgruppen (z.B. jüngere / ältere Bevölkerungsschichten)

Die auf diese Weise beschriebenen Wanderungsvorgänge lassen sich weiter differenzieren nach Reichweite, Motiven und strukturellen Merkmalen der Wandernden.

Forschungsansätze

Mit dem Einsetzen der großen Überseewanderungen aus Europa ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts nahm auch das wissenschaftliche Interesse an der Erforschung und Erklärung solcher Wanderungsprozesse stark zu. Zunächst versuchte man, Wanderungsvorgänge summarisch zu erklären, später kamen Erklärungsansätze hinzu, die von der subjektiven Entscheidung einzelner Individuen ausgehend, Wanderung zu erklären versuchten (verhaltentheoretische Ansätze).

Historischer Ansatz

Einer der ersten Erklärungsansätze von E.G. Ravenstein ging vom empirischen Befund der Wanderung selbst aus. Er veröffentlichte in der zweiten Hälfte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts seine Wanderungsgesetze, die er aus der Auswertung von Daten von Volkszählungen gewonnen hatte. Diese Gesetzmäßigkeiten weckten das Interesse weiterer Forscher, die die Ravenstein'schen Gesetze teilweise bestätigten und ergänzten. Sinngemäß lauten diese Theoreme:

  1. Die Mehrzahl der Wanderungsvorgänge erfolgt über kurze Distanzen,
  2. Wanderungen über größere Distanzen verlaufen häufig in Etappen (Kettenwanderung),
  3. Bei Wanderungen über größere Distanzen werden große Industrie- und Hafenstädte als Zielorte bevorzugt,
  4. Wanderungsströme bestehen stets aus zwei gegenläufigen Komponenten,
  5. Die Landbevölkerung ist in Wanderungsströmen überrepräsentiert,
  6. Frauen wandern eher über kürzere, Männer eher über längere Distanzen,
  7. Die Mehrzahl der Migranten sind Alleinstehende,
  8. Die Bevölkerungszunahme in Städten ist mehr durch Wanderungsgewinne, als durch natürliche Bevölkerungsbewegungen bedingt,
  9. Das Wanderungsvolumen steigt synchron mit der industriellen und verkehrstechnischen Entwicklung,
  10. Die meisten Wanderungsvorgänge werden durch ökonomische Anlässe ausgelöst.

Ein weiterer grundlegender Ansatz zur Erklärung von Wanderungen ist Zelinskis Modell des Mobilitätsübergangs (1971), das das Mobilitätsverhalten einer Gesellschaft mit ihrem sozioökonomischen Entwicklungsstand in Verbindung bringt. In Analogie zum Modell des demographischen Übergangs werden fünf Entwicklungsphasen unterschieden.

Distanz- und Gravitationsmodelle

Bei der empirischen Betrachtung von Wanderungsprozessen zwischen einem Quellort und verschiedenen, unterschiedlich weit entfernten Zielorten über einen längeren Zeitraum, wird ein starker Zusammenhang zwischen Wanderungsvolumen und Distanz deutlich, wie bereits von Ravenstein erkannt. Bei der Suche nach einem geeigneten Modell für die Erklärung dieses Zusammenhangs, erkannten Geografen (Kant, 1946; Stewart, 1941; Zipf 1949) Gemeinsamkeiten mit dem physikalischen Gravitationsgesetz von Newton. Der Zusammenhang zwischen dem mit der Distanz zwischen Quell- und Zielort abnehmenden Wanderungsvolumen lässt sich gut mit diesem Distanzmodell beschreiben (dem jedoch noch die "Masse" als Eigenschaften von Quell- und Zielort fehlt, siehe unten):

 

Hierbei ist F die Wanderungsrate zwischen den Orten i und j, d die Distanz zwischen i und j, k eine empirisch ermittelte Konstante (zumeist = 1) und b ein die Distanz gewichtender Exponent (zumeist = 2). Wenn k=1 und b=2, dann nimmt ein gegebenes Wanderungsvolumen mit der Verdoppelung der Distanz auf ein Viertel des Ausgangsvolumens ab (quadratische Abnahme). Während dieses Modell bei geeigneter Anpassung von k und b gut beobachtete Wanderungsströme modellieren kann, sagt es nichts über die Motive und Ursachen von Wanderungsprozessen aus.

Beim Vergleich zwischen empirisch und mathematisch ermittelten Werten fällt auf, dass das obige Modell die Wanderungsvolumina für kurze Distanzen überschätzt. G. Zipf und J. Stewart entwickelten daher die im Modell enthaltene Ausgangsüberlegung weiter und erweiterten es zu einer für Zwecke der Demografie geeigneten Abwandlung des Newton'schen Gravitationsgesetzes.

 

wobei   die "Masse" des Ortes i und   die "Masse" des Ortes j ist.

Zumeist wird "Masse" mit den Bevölkerungszahlen gleichgesetzt, die sich leicht der amtlichen Statistik entnehmen lassen. Damit wird das Wanderungsvolumen also nicht nur ansteigen, wenn die Distanz   verringert wird, sondern auch wenn die Masse von zwei betrachteten Regionen größer ist als die Masse anderer Regionen. Sicherlich wird allein die Bevölkerungszahl keine befriedigende Modellierung ergeben, denn unterschiedliche Bevölkerungszusammensetzungen in den betrachteten Regionen wirken ebenfalls auf die Wanderungsströme ein. Eine bevölkerungsreiche Region, in der eine hohe Arbeitslosigkeit herrscht, hat sicherlich eine geringere Anziehungskraft und damit Masse, als eine gleichgroße Region mit einer sehr niedrigen Arbeitslosigkeit. Ein Vorschlag (Haggett, 1991) lautet daher, die Masse als das Produkt aus Bevölkerungszahl und Durchschnittseinkommen zu bestimmen.

Regressionsmodelle

Gravitationsmodelle können Wanderungen zwar gut beschreiben aber nicht vollständig erklären. Als einzige Eigenschaften von Quell- und Zielgebiet gehen in diese Modelle Bevölkerung und Distanz ein. Neben der Masse von interagierenden Regionen gibt es aber noch eine Vielzahl weiterer Merkmale, die die vom einzelnen Individuum als positiv oder negativ empfundenen Eigenschaften (push- und pull-factors) bestimmen und Wanderungsvorgänge ebenso beeinflussen, wie die zwischen den Regionen liegenden Zwischenräume, die entweder eine Wanderung hemmen (intervening obstacles) oder ablenken (intervening opportunities) können.

Mathematische Modelle für die Abbildung und Erklärung eines derartigen Komplexes von einflussgrößen, werden mit Hilfe der statistischen Regressionsanalyse erstellt. Multiple Regressionsanalysen versuchen, eine abhängige Variable - hier das Wanderungsvolumen - mit einer Anzahl von unabhängigen Variablen (z.B. Durchschnittseinkommen, Zahl der Arbeitsplätze in verschiedenen Branchen, Wohnungsangebot, Distanz etc.) zu erklären. Das Ziel bildet eine Regressionsgleichung, als ein mathematisches Modell, welches die Ausprägungen der Zielvariablen aus einer mathematischen Funktionsbeziehung der erklärenden Variablen herleitet. Auch sie repräsentiert eine Wenn-Dann-Beziehung wie das Distanz- und das Gravitationsmodell, wird allerdings in der Regel wesentlich komplexer ausfallen.

Auch wenn dieser Ansatz durch die größere Zahl der eingehenden Faktoren wirklichkeitsnäher erscheint, darf nicht übersehen werden, dass eine Vielzahl von Faktoren, die eine Wanderung ebenfalls beeinflussen, sich nicht unmittelbar messen lassen (beispielsweise das Image einer Region).

Die bisher vorgestellten Modelle dienen zur Beschreibung und Erklärung von summarischen Wanderungseffekten. Auf der Mikroebene der Entscheidungen einzelner Individuen lassen sich mathematische Kausalbeziehungen jedoch nicht formulieren. Wanderungsentscheidungen lassen sich hier - wie alle individuellen Entscheidungen - lediglich auf wahrscheinlichkeitstheoretischer Basis (Probabilistik) vorhersagen. Probabilistische Modelle berücksichtigen bei Standortentscheidungen den unterschiedlichen Informationsgrad der Wandernden.

Den Prozess der Informationsgewinnung und -bewertung, der (möglicherweise) zu einer Standortverlagerung führt, versuchen entsprechende Modelle abzubilden (Roseman u.a., siehe auch Migration (Soziologie)). Die Informationen, die in eine Entscheidung für oder gegen eine Wanderung einfließen, entstammen zumeist dem typischen, wöchentlichen Aktionsradius (Aktionsraum, activity space) einer Person oder eines Haushaltes. Eine Unzufriedenheit mit der Ausgangssituation kann dabei auf unterschiedlichen Faktoren beruhen, die sich nach den Daseinsgrundfunktionen (Wohnen, Arbeiten, Versorgung, Bildung, Erholung) gliedern lassen. Aus jedem Faktorenbereich können einzelne Umweltreize als Stressoren die Bewertung des gegenwärtigen Wohnstandortes beeinflussen.

Die Modelle bilden - meist in Form von Flussdiagrammen - die Entscheidungsalternativen des Individuums/Haushaltes auf, die jeweils zufällig jedenfalls nicht deterministisch getroffen werden. Grundsätzlich lassen sich vier Handlungsalternativen beim Auftreten von Stressoren unterscheiden:

  1. Durch Erhöhung der Toleranzgrenze passt sich das Individuum/der Haushalt an die Gegebenheiten an.
  2. Durch aktive Beeinflussung wird versucht, die Stressoren abzubauen (z.B. Engagement für eine höhere Umweltqualität).
  3. Es setzt eine aktive Suche nach einem neuen Wohnstandort ein.
  4. Es wird eine prinzipielle Entscheidung für einen Standortwechsel gefällt, der jedoch erst bei einer günstigen Gelegenheit tatsächlich vollzogen wird und möglicherweise durch verschiedene externe Faktoren zusätzlich beeinflusst wird.

Globale Bedeutung

Wanderungen sind ein wesentliches Element für Bevölkerungsveränderungen insbesondere, weil sie wesentlich kurzfristiger wirksam werden als die natürlichen Bevölkerungsbewegungen. In den frühindustrialisierten Ländern bestimmen Wanderungsvorgänge derzeit weit überwiegend die Bevölkerungsbewegung insgesamt. Die Dimensionen sowie die sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen von großen Wanderungsbewegungen treten damit angesichts eines

  • zunehmenden Wohlstandsgefälles zwischen den hochentwickelten Industrienationen und den sogenannten Entwicklungsländern,
  • weltweit stetig zunehmender Bevölkerungszahlen sowie
  • einer Vielzahl aktueller kriegerischer Konflikte

immer mehr ins öffentliche Bewußtsein.

Erklärungsansätze für aktuelle Wanderungsbewegungen und Modelle für die Prognose zukünftiger Wanderungen haben daher mehr als nur rein wissenschaftliche Bedeutung. Sie finden immer häufiger Berücksichtigung in aktuellen politischen Handlungsfeldern (vgl. Zuwanderungsgesetz).

Literatur

  • BÄHR, J. (1983):Bevölkerungsgeographie. Stuttgart.
  • BÄHR, J. (1988):Bevölkerungsgeographie: Entwicklung, Aufgaben und theoretischer Bezugsrahmen. in: Geographische Rundschau 40:2, S. 6-13.
  • HAGGETT, P. (1991): Geographie - Eine moderne Synthese. Stuttgart.
  • Gravity and spatial interaction