Diese Baustelle befindet sich fälschlicherweise im Artikelnamensraum. Bitte verschiebe die Seite oder entferne den Baustein {{Baustelle}} .
|
Der Archipelagus ist ein Gedicht in Hexametern von Friedrich Hölderlin, mit 296 Verszeilen sein längstes. Es entstand in den Jahren 1800 und 1801. Mit seinem Versmaß, seinen teils epischen, teils lyrischen Partien, diese teils elegisch klagend, teils hymnisch preisend, nimmt es in Hölderlins Werk eine Sonderstellung ein. Neben der gleichzeitigen Elegie Brod und Wein ist es Hölderlins vollkommenste Darstellung seines Pantheismus. Er glaubte die göttlich gesehene “Natur“ und die menschengeschaffene Kultur in der Vergangenheit der griechischen Polis, vor allem Athens, harmonisch verbunden, erlebte „Natur“ und Menschenwerk in seiner Gegenwart schmerzhaft zerfallen und hoffte sie wieder zusammen blühend in der Zukunft.


Entstehung
Im Herbst 1798 hatte Hölderlin nach dem Bruch mit Jakob Friedrich Gontard-Borkenstein (1764–1843) Frankfurt fluchtartig verlassen und lebte seitdem im nahen Homburg. Am 8. Mai 1800 traf er Susette Gontard, seine Diotima, zum letzten Mal. Mitte Juni wanderte er über Nürtingen, wo die Mutter und die Schwester lebten, nach Stuttgart. Dort wohnte er bei dem befreundeten Kaufmann Christian Landauer (1769–1845). Sein Gefühl einer Heimkehr gestaltete er in dem Gedicht Die Heimath – „Froh kehrt der Schiffer heim an den stillen Strom“, seine Freundschaft mit Landauer in der Elegie Der Gang aufs Land – An Landauer – „Der Freunde Freund zu seyn, bis du geboren“. Im Januar 1801 trat er eine Hofmeisterstelle bei dem Leinenfabrikanten Anton von Gonzenbach (1748–1819) in Hauptwil in der Schweiz an. Schon Anfang April kehrte er aber nach Nürtingen zurück, wieder mit der Empfindung der Heimkehr, aus der die Elegie Heimkunft – An die Verwandten entstand – „Dort empfangen sie mich. O Stimme der Stadt, der Mutter!“. Am 10. Dezember brach er zu einer weiteren Hofmeisterstelle bei dem Weinhändler und hamburgischen Konsul Daniel Christoph Meyer (1751–1818) in Bordeaux auf. Es war eine Zeit voller Pläne, aber zugleich bedrängender Nöte. Der Plan, sich durch die Herausgabe einer Zeitschrift Iduna eine finanzielle Grundlage zu schaffen, scheiterte.
Der Mutter schrieb er am 29. Januar 1800 aus Homburg:[1] „Um meine Gesundheit dürfen Sie ja nicht bange seyn, theuerste Mutter! Ich habe schon seit guter Zeit dieses kostbare Gut ungestört genossen, und es freut mich um so mehr, weil ich immer fürchtete, daß der böse krampfhafte Zustand bleibend werden möchte.“ Ähnlich freudig an die Mutter Mitte des Jahres aus Stuttgart:[2] „Die Theilnahme und Aufmunterung treuer wohlmeinender Gemüther ist mir auf der Stelle meines Lebens, worauf ich jezt bin, ein größeres Geschenk, als irgend etwas, worauf man sonst großen Werth zu legen Ursache hat. Mein Logis und die Aufnahme in meines Freundes Hauße fand ich ganz nach meinem Wunsche. Überhaupt haben mich meine alten Bekannten so gutmüthig empfangen, daß ich wohl hoffen darf, hier eine Zeit im Frieden zu leben, und ungestörter, als bisher, mein Tagwerk thun zu können.“ Andererseits berichtet Gustav Schwab über Hölderlins Verfassung in Stuttgart:[3] „Seine Gemüthsstimmung schien gefährlich. Schon sein Aeußeres zeugte von der Aenderung, die sein Wesen in den vergangenen Jahren erlitten hatte; als er von Homburg zurückkehrte, glaubte man einen Schatten zu sehen, so sehr hatten die inneren Kämpfe und Leiden den einst blühenden Körper angegriffen. Noch auffallender war die Gereiztheit seines Seelenzustandes; ein zufälliges, unschuldiges Wort, das gar keine Beziehung auf ihn hatte, konnte ihn so sehr aufbringen, daß er die Gesellschaft, in der er sich eben befand, verließ und nie zu derselben wiederkehrte.“
In dieser labilen Lebenslage ist außer Brod und Wein und mehreren Oden, darunter Heidelberg, Der Archipelagus entstanden.
- Erstdruck
-
Titelseite der Zeitschrift
-
Erste Verse
-
Letzte Verse
Überlieferung
Zwei Manuskripte Hölderlins mit Bruchstücken und zweí vollständige oder fast vollständige Manuskripte sind erhalten, alle heute in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Hölderlin schickte das Gedicht im Frühjahr 1801 an Johann Bernhard Vermehren in Jena mit der Bitte, es an Ludwig Tiecks Poetisches Journal zu vermitteln. Die Vermittlung blieb erfolglos, weil das Journal eingestellt wurde. Gedruckt wurde Der Archipelagus zuerst 1804, herausgegeben von Ludwig Ferdinand Huber, in den Vierteljährlichen Unterhaltungen der Cotta’schen Verlagsbuchhandlung in Tübingen. Von den beiden Historisch-kritischen Ausgaben, der Stuttgarter Ausgabe von Friedrich Beißner und Adolf Beck und der Frankfurter Ausgabe von Dietrich Sattler, ist in diesem Artikel nach der Stuttgarter Ausgabe zitiert.
Inhalt
Das Wort Archipelagus, gebildet aus ἀρχή, Beginn, und πέλαγος, Meer, ist aus Antike und Mittelalter nicht belegt. Für Hölderlin ist der Archipelagus geographisch das Ägäische Meer mit seinen Inseln und Küsten, die griechische bewohnte Welt, Oikumene, in seinem Wesen aber die göttliche Natur, das göttliche All, die liebende Gemeinschaft alles Lebendigen. Die altgriechischen Meergötter Okeanos, Pontos und Poseidon sind in ihm aufgegangen. Der Eingansgteil (Vers 1–61) ist hymnischer Preis des Archipelagus; der Mittelteil (Vers 62–199) ruft die Blütezeit Athens wach; der Schlussteil (Vers 200–296) ist Bewusstwerden der Gegenwart in Trauer und Hoffnung. Eine Grundstimmung der Trauer, des Verlusts färbt aber das ganze Gedicht; schon im Eingangsteil trauert (Vers 39) und klagt (Vers 55) der Archipelagus.
Eingangsteil (Vers 1–61)
In den ersten 9 Versen ruft das „Ich“ den Archipelagus in der Freude des Frühlings mit liebend drängenden rhetorischen Fragen an.
Ufern wieder die Schiffe den Lauf? umathmen erwünschte
Lüfte dir die beruhigte Fluth, und sonnet der Delphin,
Aus der Tiefe gelockt, am neuen Lichte den Rüken?
5 Blüht Ionien? ists die Zeit? denn immer im Frühling,
Wenn den Lebenden sich das Herz erneut und die erste
Liebe den Menschen erwacht und goldner Zeiten Erinnrung,
Komm ich zu dir und grüß' in deiner Stille dich, Alter!
Von der Höhe, wo die Kraniche aus südlicheren Ländern zurückkehren und „erwünschte Lüfte“ wehen, erstreckt sich der Archipelagus bis in die Tiefe des Meeres, aus der der Delphin auftaucht. Sechs Inseln repräsentieren die horizontale Dimension.
10 Deiner Berge, wie sonst; mit Jünglingsarmen umfängst du
Noch dein liebliches Land, und deiner Töchter, o Vater!
Deiner Inseln ist noch, der blühenden, keine verloren.
Kreta steht und Salamis grünt, umdämmert von Lorbeern,
Rings von Strahlen umblüht, erhebt zur Stunde des Aufgangs
15 Delos ihr begeistertes Haupt, und Tenos und Chios
Haben der purpurnen Früchte genug, von trunkenen Hügeln
Quillt der Cypriertrank, und von Kalauria fallen
Silberne Bäche, wie einst, in die alten Wasser des Vaters.
Alle leben sie noch, die Heroenmütter, die Inseln,
20 Blühend von Jahr zu Jahr, und wenn zu Zeiten, vom Abgrund
Losgelassen, die Flamme der Nacht, das untre Gewitter
Eine der holden ergriff, und die Sterbende dir in den Schoos sank,
Göttlicher! du, du dauertest aus, denn über den dunkeln
Tiefen ist manches schon dir auf und untergegangen.
Der Archipelagus, immer wieder als „du“ angesprochen, ist der „Gewaltige“, „Alte“ und doch zugleich Jüngling (Vers 10). Er ist der „Vater“ der ägäischen Inseln. Hölderlin charakterisiert sie so, wie er sie unter anderem aus Richard Chandlers Reiseberichten kannte.[4] Kreta „steht“ mit seinen über 2000 Meter hohen Gebirgen. Salamis „grünt“ wie im Hyperion. Delos, die Insel Apollons, der auch ein Lichtgott war, ist „rings von Strahlen umblüht“. Tenos, Chios und Zypern sind Weininseln. Kalauria, die Heimat Diotimas, besitzt – wie hier „silberne Bäche“ – im Hyperion Hügel mit „schäumenden Bächen“.[5] Vergänglich sind die Inseln. Vulkanismus, „die Flamme der Nacht, das untre Gewitter“ kann die „Töchter“ des Vaters zerstören, dem allein als dem göttlichen All Dauer zukommt. In seinen Preis wird der Kosmos einbezogen.
Die den heiteren Tag und süßen Schlummer und Ahnung
Fernher bringen über das Haupt der fühlenden Menschen
Aus der Fülle der Macht, auch sie, die alten Gespielen
Wohnen, wie einst, mit dir, und oft am dämmernden Abend,
30 Wenn von Asiens Bergen herein das heilige Mondlicht
Kömmt und die Sterne sich in deiner Wooge begegnen,
Leuchtest du von himmlischem Glanz, und so, wie sie wandeln,
Wechseln die Wasser dir, es tönt die Weise der Brüder
Droben, ihr Nachtgesang im liebenden Busen dir wieder.
35 Wenn die allverklärende dann, die Sonne des Tages,
Sie, des Orients Kind, die Wunderthätige, da ist,
Dann die Lebenden all' im goldenen Traume beginnen,
Den die Dichtende stets des Morgens ihnen bereitet,
Dir, dem trauernden Gott, dir sendet sie froheren Zauber,
40 Und ihr eigen freundliches Licht ist selber so schön nicht
Denn das Liebeszeichen, der Kranz, den immer, wie vormals,
Deiner gedenk, doch sie um die graue Loke dir windet.
Und umfängt der Äther dich nicht, und kehren die Wolken,
Deine Boten, von ihm mit dem Göttergeschenke, dem Strale
45 Aus der Höhe dir nicht? dann sendest du über das Land sie,
Daß am heißen Gestad die gewittertrunkenen Wälder
Rauschen und wogen mit dir, daß bald, dem wandernden Sohn gleich,
Wenn der Vater ihn ruft, mit den tausend Bächen Mäander
Seinen Irren enteilt und aus der Ebne Kayster
50 Dir entgegenfrohlockt, und der Erstgeborne, der Alte,
Der zu lange sich barg, dein majestätischer Nil itzt
Hochherschreitend aus fernem Gebirg, wie im Klange der Waffen,
Siegreich kömmt, und die offenen Arme der Sehnende reichet.
Die Himmelskörper sind die „alten Gespielen“ (Vers 28) des Archipelagus. Zwischen ihnen und dem Meer waltet kosmische Sympathie. Das „heilige Mondlicht“ und die Sterne leuchten auf der „Wooge“ in „himmlischem Glanz“ wider, die durch die Bewegung der Himmelskörper entstehende Sphärenharmonie klingt „im liebenden Busen“ des Meeres wider. Gemäß den Mondphasen „wechseln die Wasser“ in Ebbe und Flut. Die Sonne sendet dem „trauernden Gott“ Freude und als „Liebeszeichen“ ihr Spiegelbild. Das Umfangenwerden des Archipelagus vom „Äther“ (Vers 40), der All-Natur mit Betonung des Geistigen in der Natur, deutet „den innigen Zusammenhang von Natur und Geist“ an.[6] Das Miteinander von Archipelagus-Meer-Land und Äther-Geist wird entfaltet. Vom Meer verdunstet das Wasser und kondensiert sich in Wolken, den „Boten“ des Archipelagus, die blitzgeladen über das Land treiben und das Wasser regnen lassen, so dass die Flüsse schwellen und in die „offenen Arme“ des Meeres eilend den Kreis schließen. Die Nennung der Flüsse weitet die Oikumene. „Kayster“, heute Kleiner Mäander und „Mäander“, heute Großer Mäander, sind Flüsse im westlichen Kleinasien; die „Irren“ (Vers 49) des letzteren haben dem „Mäander“ der Geographie und der Ornamentik den Namen gegeben. Der Nil war der „Erstgeborne“ des Okeanos und der Titanin Thetys. Dass er „zu lange sich barg“, spielt auf die Unbekanntheit seiner Quellen im Altertum an. Warum aber trauert der Archipelagus, der Inseln entstehen und vergehen lässt und Wasser spendet und empfängt?
55 Deine Weheklage der Fels, und öfters entflieht dir
Zürnend von Sterblichen weg die geflügelte Woge zum Himmel,
Denn es leben mit dir die edeln Lieblinge nimmer,
Die dich geehrt, die einst mit den schönen Tempeln und Städten
Deine Gestade bekränzt, und immer suchen und missen,
60 Immer bedürfen ja, wie Heroen den Kranz, die geweihten
Elemente zum Ruhme das Herz der fühlenden Menschen.
Den Blick zurück vorbereitend, wird ein Defizit konstatiert: Jene Kultur „mit den schönen Tempeln und Städten“, die sich mit der alles durchdringenden Gott-Natur im Einklang, mit allem Bestehenden durch ein heiliges Band verflochten wusste, ist vergangen. Die rühmende Bejahung durch die Menschen vermisst der Archipelagus.
Mittelteil (Vers 62–199)
Deine Stadt, die geliebteste dir, an den heiligen Ufern,
Trauernder Gott! dir ganz in Asche zusammengesunken,
65 Oder ist noch ein Zeichen von ihr, daß etwa der Schiffer,
Wenn er vorüberkommt, sie nenn' und ihrer gedenke?
Stiegen dort die Säulen empor und leuchteten dort nicht
Sonst vom Dache der Burg herab die Göttergestalten?
Rauschte dort die Stimme des Volks, die stürmischbewegte,
70 Aus der Agora nicht her, und eilten aus freudigen Pforten
Dort die Gassen dir nicht zu geseegnetem Hafen herunter?
Siehe! da löste sein Schiff der fernhinsinnende Kaufmann,
Froh, denn es wehet' auch ihm die beflügelnde Luft und die Götter
Liebten so, wie den Dichter, auch ihn, dieweil er die guten
75 Gaaben der Erd' ausglich und Fernes Nahem vereinte.
Fern nach Cypros ziehet er hin und ferne nach Tyros,
Strebt nach Kolchis hinauf und hinab zum alten Aegyptos,
Daß er Purpur und Wein und Korn und Vließe gewinne
Für die eigene Stadt, und öfters über des kühnen
80 Herkules Säulen hinaus, zu neuen seeligen Inseln
Tragen die Hoffnungen ihn und des Schiffes Flügel, indessen
Anders bewegt, am Gestade der Stadt ein einsamer Jüngling
Weilt und die Wooge belauscht, und Großes ahndet der Ernste
Wenn er zu Füßen so des erderschütternden Meisters
85 Lauschet und sitzt, und nicht umsonst erzog ihn der Meergott.
Wie im Eingangsteil stehen am Anfang rhetorische Fragen. Sie konkretisieren den Verlust. Das Athen der prächtigen „Burg“ (der Akropolis), der prächtigen (auf der Mittelsilbe betonten) Agora, des zahlreichen Volks, repräsentiert durch die „Gassen“, die „zu geseegnetem Hafen herunter“ eilen – dies Athen ist nicht mehr. Mit seiner Nennung „deine Stadt“ (Vers 63) wird der Archipelagus noch einmal in der zweiten Person angeredet. Von hier bis zum Schlussteil wird in der dritten Person geschildert. Das verlorene, aber gegenwärtig gesehene Athen ist zunächst eine Handelsstadt. Ihre Beziehungen reichen, die Oikumene noch einmal ausdehnend, vom schon erwähnten Zypern mit seinem „Cypriertrank“ (Vers 17) zur phönizischen Purpurstadt Tyros an der Ostküste des Mittelmeers, von Kolchis an der Ostküste des Schwarzen Meeres, das „Vließe“, Tierfelle liefert, zur „Korn“kammer des Mittelmeerraumes „Aigyptos“. Sie reichen sogar über „des kühnen Herkules Säulen“, die Säulen des Herakles an der Straße von Gibraltar, hinaus zu den „seeligen Inseln“, von denen Herakles die Äpfel der Hesperiden holte, vielleicht den Kanarischen Inseln.
Jahrlang zählt' er sie schon, der Waffen Menge, der Knechte,
Spottend des griechischen Lands und seiner wenigen Inseln,
Und sie deuchten dem Herrscher ein Spiel und noch, wie ein Traum, war
90 Ihm das innige Volk, vom Göttergeiste gerüstet.
Leicht aus spricht er das Wort und schnell, wie der flammende Bergquell,
Wenn er furchtbar umher vom gärenden Ätna gegossen,
Städte begräbt in der purpurnen Flut und blühende Gärten,
Bis der brennende Strom im heiligen Meere sich kühlet,
95 So mit dem Könige nun, versengend, städteverwüstend,
Stürzt von Ekbatana daher sein prächtig Getümmel;
Weh! und Athene, die herrliche, fällt; wohl schauen und ringen
Vom Gebirg, wo das Wild ihr Geschrei hört, fliehende Greise
Nach den Wohnungen dort zurück und den rauchenden Tempeln,
100 Aber es weckt der Söhne Gebet die heilige Asche
Nun nicht mehr, im Tal ist der Tod, und die Wolke des Brandes
Schwindet am Himmel dahin, und weiter im Lande zu ernten,
Zieht, vom Frevel erhitzt, mit der Beute der Perse vorüber.
Aber an Salamis Ufern, o Tag an Salamis Ufern!
105 Harrend des Endes stehn die Athenerinnen, die Jungfraun,
Stehn die Mütter, wiegend im Arm das gerettete Söhnlein,
Aber den Horchenden schallt von Tiefen die Stimme des Meergotts
Heilweissagend herauf, es schaun die Götter des Himmels
Wägend und richtend herab, denn dort an den bebenden Ufern
110 Wankt, seit Tagesbeginn, wie langsamwandelnd Gewitter
Dort auf schäumenden Wassern die Schlacht und es glühet der Mittag,
Unbemerket im Zorn, schon über dem Haupte den Kämpfern.
Aber die Männer des Volks, die Heroenenkel, sie walten
Helleren Auges jetzt, die Götterlieblinge denken
115 Des beschiedenen Glücks, es zähmen die Kinder Athenes
Ihren Genius, ihn, den todverachtenden jetzt nicht;
Denn wie aus rauchendem Blut das Wild der Wüste noch einmal
Sich zuletzt verwandelt erhebt, der edleren Kraft gleich,
Und den Jäger erschreckt; kehrt jetzt im Glanze der Waffen,
120 Bei der Herrscher Gebot, furchtbargesammelt den Wilden,
Mitten im Untergang die ermattete Seele noch einmal.
Und entbrannter beginnts; wie Paare ringender Männer
Fassen die Schiffe sich an, in die Woge taumelt das Steuer,
Unter den Streitern bricht der Boden und Schiffer und Schiff sinkt.
125 Aber in schwindelnden Traum vom Liede des Tages gesungen
Rollt der König den Blick, irrlächelnd über den Ausgang
Droht er und fleht und frohlockt und sendet, wie Blitze, die Boten
Doch er sendet umsonst, es kehret keiner ihm wieder.
Blutige Boten, Erschlagne des Heers und berstende Schiffe,
130 Wirft die Rächerin ihm zahllos, die donnernde Woge
Vor den Thron, wo er sitzt am bebenden Ufer, der Arme
Schauend die Flucht und fort in die fliehende Menge gerissen,
Eilt er, ihn treibt der Gott, es treibt sein irrend Geschwader
Über die Fluten der Gott, der spottend sein eitel Geschmeid' ihm
135 Endlich zerschlug und den Schwachen erreicht' in der drohenden Rüstung.
Aber liebend zurück zum einsamharrenden Strome
Kommt der Athener Volk und von den Bergen der Heimat
Wogen, freudig gemischt, die glänzenden Scharen herunter
Ins verlassene Tal; ach! gleich der gealterten Mutter,
140 Wenn nach Jahren das Kind, das verlorengeachtete, wieder
Lebend ihr an die Brüste kehrt, ein erwachsener Jüngling,
Aber im Gram ist ihr die Seele gewelkt und die Freude
Kommt der hoffnungsmüden zu spät und mühsam vernimmt sie,
Was der liebende Sohn in seinem Danke geredet,
145 So erscheint den Kommenden dort der Boden der Heimat.
Denn es fragen umsonst nach ihren Hainen die Frommen,
Und die Sieger empfängt die freundliche Pforte nicht wieder,
Wie den Wanderer sonst sie empfing, wenn er froh von den Inseln
Wiederkehrt' und die selige Burg der Mutter Athene
150 Über sehnendem Haupt ihm fernherglänzend heraufging.
Aber wohl sind ihnen bekannt die verödeten Gassen
Und die trauernden Gärten umher und auf der Agora,
Wo des Portikus Säulen gestürzt und die göttlichen Bilder
Liegen, da reicht in der Seele bewegt und der Treue sich freuend
155 Jetzt das liebende Volk zum Bunde die Hände sich wieder.
Bald auch suchet und sieht den Ort des eigenen Hauses
Unter dem Schutt der Mann; ihm weint am Halse der trauten
Schlummerstätte gedenk, sein Weib, es fragen die Kindlein
Nach dem Tische, wo sonst in lieblicher Reihe sie saßen,
160} Von den Vätern gesehn, den lächelnden Göttern des Hauses.
Aber Gezelte bauet das Volk, es schließen die alten
Nachbarn wieder sich an, und nach des Herzens Gewohnheit
Ordnen die luftigen Wohnungen sich umher an den Hügeln.
So indessen wohnen sie nun, wie die Freien, die Alten,
165 Die, der Stärke gewiß und dem kommenden Tage vertrauend,
Wandernden Vögeln gleich, mit Gesange von Berge zu Berg' einst
Zogen, die Fürsten des Forsts und des weitumirrenden Stromes.
Doch umfängt noch, wie sonst, die Muttererde, die treue,
Wieder ihr edel Volk und unter heiligem Himmel
170 Ruhen sie sanft, wenn milde, wie sonst, die Lüfte der Jugend
Um die Schlafenden wehn und aus Platanen Ilissus
Ihnen herüberrauscht und neue Tage verkündend,
Lockend zu neuen Taten bei Nacht die Woge des Meergotts
Fernher tönt und fröhliche Träume den Lieblingen sendet.
175 Schon auch sprossen und blühn die Blumen mälig, die goldnen
Auf zertretenem Feld, von frommen Händen gewartet,
Grünet der Ölbaum auf und auf Kolonos Gefilden
Nähren friedlich, wie sonst, die Athenischen Rosse sich wieder.
Aber der Muttererd' und dem Gott der Woge zu Ehren
180 Blühet die Stadt itzt auf, ein herrlich Gebild, dem Gestirn gleich
Sichergegründet, des Genius Werk, denn Fesseln der Liebe
Schafft er gerne sich so, so hält in großen Gestalten,
Die er selbst sich erbaut, der immerrege sich bleibend.
Sieh! und dem Schaffenden dienet der Wald, ihm reicht mit den andern
185 Bergen nahe zur Hand der Pentele Marmor und Erze,
Aber lebend, wie er, und froh und herrlich entquillt es
Seinen Händen und leicht, wie der Sonne, gedeiht das Geschäft ihm.
Brunnen steigen empor und über die Hügel in reinen
Bahnen gelenkt, ereilt der Quell das glänzende Becken;
190 Aber umher an ihnen erglänzt, gleich festlichen Helden
Am gemeinsamen Kelch, die Reihe der Wohnungen, hoch ragt
Der Prytanen Gemach, es stehn Gymnasien offen,
Göttertempel entstehn, ein heiligkühner Gedanke
Steigt, Unsterblichen nah, das Olympion auf in den Äther
195 Aus dem seligen Hain; noch manche der himmlischen Hallen!
Mutter Athene, dir auch, dir wuchs dein herrlicher Hügel
Stolzer aus der Trauer empor und blühte noch lange,
Gott der Wogen und dir und deine Lieblinge sangen
Frohversammelt noch oft am Vorgebirge den Dank dir.
Schlussteil (Vers 200–296)
O die Kinder des Glücks, die frommen! wandeln sie fern nun
Bei den Vätern daheim und der Schicksalstage vergessen
Drüben am Lethestrom und bringt kein Sehnen sie wieder,
Sieht mein Auge sie nie? ach! findet über den tausend
Pfaden der grünenden Erd', ihr göttergleichen Gestalten!
Euch das Suchende nie, und vernahm ich darum die Sage,
Darum die Sprache von euch, daß immertrauernd die Seele
Vor der Zeit mir hinab zu euern Schatten entfliehe?
Aber näher zu euch, wo eure Haine noch wachsen,
Wo sein einsames Haupt in Wolken der heilige Berg hüllt,
Zum Parnassos will ich und wenn im Dunkel der Eiche
Schimmernd, mir Irrenden dort Kastalias Quelle begegnet,
Will ich, mit Tränen gemischt, aus blütenumdufteter Schale
Dort, auf keimendes Grün, das Wasser gießen, damit doch,
O ihr Schlafenden all! ein Totenopfer euch werde.
Dort im schweigenden Tal, an Tempes hängenden Felsen,
Will ich wohnen mit euch, dort oft, ihr herrlichen Namen,
Her euch rufen bei Nacht, und wenn ihr zürnend erscheinet,
Weil der Pflug die Gräber entweiht, mit der Stimme des Herzens
Will ich, mit frommem Gesang euch sühnen, heilige Schatten!
Bis zu leben mit euch, sich ganz die Seele gewöhnet.
Fragen wird der Geweihtere dann euch manches, ihr Toten!
Euch, ihr Lebenden auch, ihr hohen Kräfte des Himmels,
Wenn ihr über dem Schutt mit euren Jahren vorbeigeht,
Ihr in der sicheren Bahn! denn oft ergreifet das Irrsal
Unter den Sternen mir, wie schaurige Lüfte den Busen,
Daß ich spähe nach Rat und lang schon reden sie nimmer
Trost den Bedürftigen zu, die prophetischen Haine Dodonas,
Stumm ist der delphische Gott und einsam liegen und öde
Längst die Pfade, wo einst, von Hoffnungen leise geleitet,
Fragend der Mann zur Stadt des redlichen Sehers heraufstieg.
Aber droben das Licht, es spricht noch heute zu Menschen,
Schöner Deutungen voll und des großen Donnerers Stimme
Ruft es: denket ihr mein? und die trauernde Woge des Meergotts
Hallt es wider: gedenkt ihr nimmer meiner, wie vormals?
Denn es ruhn die Himmlischen gern am fühlenden Herzen,
Immer, wie sonst, geleiten sie noch, die begeisternden Kräfte
Gerne den strebenden Mann und über Bergen der Heimat
Ruht und waltet und lebt allgegenwärtig der Äther,
Daß ein liebendes Volk in des Vaters Armen gesammelt,
Menschlichfreudig, wie sonst, und Ein Geist allen gemein sei.
Aber weh! es wandelt in Nacht, es wohnt, wie im Orkus,
Ohne Göttliches unser Geschlecht. Ans eigene Treiben
Sind sie geschmiedet allein und sich in der tosenden Werkstatt
Höret jeglicher nur und viel arbeiten die Wilden
Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch immer und immer
Unfruchtbar, wie die Furien, bleibt die Mühe der Armen.
Bis erwacht vom ängstigen Traum, die Seele den Menschen
Aufgeht, jugendlichfroh, und der Liebe segnender Othem
Wieder, wie vormals, oft, bei Hellas blühenden Kindern,
Wehet in neuer Zeit und über freierer Stirne
Uns der Geist der Natur, der fernherwandelnde, wieder
Stilleweilend der Gott in goldnen Wolken erscheinet.
Ach! und säumest du noch? und jene, die göttlichgebornen,
Wohnen immer, o Tag! noch als in Tiefen der Erde
Einsam unten, indes ein immerlebender Frühling
Unbesungen über dem Haupt den Schlafenden dämmert?
Aber länger nicht mehr! schon hör' ich ferne des Festtags
Chorgesang auf grünem Gebirg' und das Echo der Haine,
Wo der Jünglinge Brust sich hebt, wo die Seele des Volks sich
Stillvereint im freieren Lied, zur Ehre des Gottes,
Dem die Höhe gebührt, doch auch die Tale sind heilig;
Denn, wo fröhlich der Strom in wachsender Jugend hinauseilt,
Unter Blumen des Lands und wo auf sonnigen Ebnen
Edles Korn und der Obstwald reift, da kränzen am Feste
Gerne die Frommen sich auch und auf dem Hügel der Stadt glänzt,
Menschlicher Wohnung gleich, die himmlische Halle der Freude.
Denn voll göttlichen Sinns ist alles Leben geworden,
Und vollendend, wie sonst, erscheinst du wieder den Kindern
Überall, o Natur! und, wie vom Quellengebirg, rinnt
Segen von da und dort in die keimende Seele dem Volke.
Dann, dann, o ihr Freuden Athens! ihr Taten in Sparta!
Köstliche Frühlingszeit im Griechenlande! wenn unser
Herbst kömmt, wenn ihr gereift, ihr Geister alle der Vorwelt!
Wiederkehret und siehe! des Jahrs Vollendung ist nahe!
Dann erhalte das Fest auch euch, vergangene Tage!
Hin nach Hellas schaue das Volk und weinend und dankend
Sänftige sich in Erinnerungen der stolze Triumphtag!
Aber blühet indes, bis unsre Früchte beginnen,
Blüht, ihr Gärten Ioniens! nur und die an Athens Schutt
Grünen, ihr Holden! verbergt dem schauenden Tage die Trauer!
Kränzt mit ewigem Laub, ihr Lorbeerwälder! die Hügel
Eurer Toten umher, bei Marathon dort, wo die Knaben
Siegend starben, ach! dort auf Chäroneas Gefilden,
Wo mit den Waffen ins Blut die letzten Athener enteilten,
Fliehend vor dem Tage der Schmach, dort, dort von den Bergen
Klagt ins Schlachttal täglich herab, dort singet von Ötas
Gipfeln das Schicksalslied, ihr wandelnden Wasser, herunter!
Aber du, unsterblich, wenn auch der Griechengesang schon
Dich nicht feiert, wie sonst, aus deinen Wogen, o Meergott!
Töne mir in die Seele noch oft, daß über den Wassern
Furchtlosrege der Geist, dem Schwimmer gleich, in der Starken
Frischem Glücke sich üb' und die Göttersprache das Wechseln
Und das Werden versteh' und wenn die reißende Zeit mir
Zu gewaltig das Haupt ergreift und die Not und das Irrsal
Unter Sterblichen mir mein sterblich Leben erschüttert,
Laß der Stille mich dann in deiner Tiefe gedenken.
Literatur
- Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Herausgegeben von Friedrich Beißner und Adolf Beck. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1946 bis 1985.
- Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe in 20 Bänden und 3 Supplementen. Herausgegeben von Dietrich Sattler. Frankfurter Ausgabe. Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt am Main und Basel 1975–2008.
- Friedrich Hölderlin: Gedichte Herausgegeben von Jochen Schmidt. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1992.
- Fridolin Ganter: Versus heroicus. Eine sprech-, sprach- und textanalytische ästhetische Konstruktion von Hölderlins Archipelagus. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main1999. ISBN 3-631-34211-X.
- Jürg Peter Walser: Hölderlins Archipelagus. Atlantis Verlag, Zürich 1962.