Seit dem 18. Jahrhundert forschen Theologen und Historiker im Gefolge der Aufklärung intensiv nach der historischen Person Jesus von Nazaret. Sie setzen meist voraus, dass Jesus existiert hat und die Literatur des Urchristentums auf seine geschichtliche Erscheinung reagierte, also als seine Wirkung anzusehen ist. Sie unterscheiden jedoch den historischen Juden Jesus aus Galiläa vom tradierten Christus des Glaubens.
Die ersten Forschungen dieser Richtung intendierten ein "Leben Jesu" im Sinne einer Biografie, die seinen inneren und äußeren Werdegang schilderte. Dabei flossen oft viel eigene Phantasie oder Fehldeutungen in die Darstellung ein. Obwohl diese Intention seit etwa 1900 radikal in Frage gestellt wurde, hat die historische Forschung gerade aus diesen Irrwegen viel gelernt und ihre Methoden fortlaufend verbessert. Gleichwohl wird die wissenschaftliche Erforschung des Neuen Testaments seitdem oft als Leben-Jesu-Forschung bezeichnet. Diese bildet einen Hauptteil der heutigen Neutestamentlichen Wissenschaft, die wiederum Teildisziplin der universitären christlichen Theologie ist.
Man teilt die Suche nach dem historischen Jesus oft in drei Hauptphasen ein. Dabei unterscheiden sich die Ansätze nicht nur zwischen den Phasen, sondern auch innerhalb jeder Phase. Was "Mythos" und was "historisches Faktum" ist, hat bisher jede Forschergeneration neu gefragt und beurteilt.
- In der ersten Phase wurden früh beobachtete Widersprüche zwischen und in den Evangelien auf die Kompositon verschiedener schriftlicher Quellen zurückgeführt. Daraus entwickelte sich die Zweiquellentheorie, deren Grundannahmen bis heute gültig sind.
- In der zweiten Phase trat die Suche nach dem historischen Jesus zurück: Nun wurden stärker die Einzeltexte, ihre Verwendung im Urchristentum und ihre redaktionelle Zusammenstellung erforscht. Zugleich wurde im Gefolge Rudolf Bultmanns versucht, die Botschaft des NT zu "entmythologisieren" und als existenziellen Ruf zu einem radikal neuen Selbstverständnis zu vergegenwärtigen.
- In der dritten Phase werden Anstöße aus der sozialgeschichtlichen Forschung, der Judaistik und der jüdischen Bibel-Exegese aufgenommen. Das außerbiblische Wissen über die damalige Gesellschaft wird heranzogen, um die Texte daraus zu erklären. Die Ergebnisse werden in ein neues Gesamtbild des historischen Jesus im Kontext des damaligen Judentums zu integrieren versucht.
Die heutige Bibelforschung relativiert die früher oft betonte Kluft zwischen dem Alten und dem Neuen Testament, zwischen Jesus, dem parallelen Judentum und dem Urchristentum. Sie sieht beide trotz ihrer gegenseitigen Abgrenzung als zwei eng verwandte Weiterentwicklungen des antiken palästinischen Judentums, zu dem Jesus voll und ganz gehörte.
Erste Phase: Kritische Anstöße und liberaler Optimismus
Mit dem Deismus und der Aufklärung begann die langanhaltende wissenschaftliche Bemühung, einen historischen Jesus hinter den "Übermalungen" des Neuen Testaments freizulegen, um diesen als alternatives Leitbild gegen das dogmatisierte Christusbild der Kirchen in Stellung bringen zu können.
Die Leben-Jesu-Forschung ist also eng mit der Emanzipation des Bürgertums von der mittelalterlichen Vorherrschaft der Kirche verbunden und ihr Ausdruck. Sie reflektierte anfangs noch nicht ihre eigenen hermeneutischen Axiome, sondern ging optimistisch von der Gewissheit aus, der historische Jesus sei in den Quellen auffindbar und rekonstruierbar. Obwohl dies seit 1900 radikal in Frage gestellt wurde und heute einer nüchternen Skepsis gewichen ist, haben sich bestimmte Grundannahmen, Methodik und Ergebnisse wie die Zweiquellentheorie insgesamt in der NT-Forschung bewährt und durchgesetzt.
Hermann Samuel Reimarus (1694-1768)
Reimarus war Professor für orientalische Sprachen in Hamburg und überzeugter Kämpfer für den englischen Deismus, den er öffentlich vertrat. Er begründete dies nur für seine engsten Freunden mit einer Privatschrift: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Darin stellte er das traditionelle Christusbild der Kirchen als Erster radikal in Frage, indem er den Glauben der Apostel methodisch streng von der Eigenverkündigung Jesu unterschied. Erst nach seinem Tod veröffentlichte Lessing sieben Fragmente daraus, ohne den Verfasser zu nennen.
Reimarus verstand Jesus ganz im Rahmen des Judentums seiner Zeit als politischen Reformator. Er habe das nahe Reich Gottes verkündet und die Juden zur Umkehr gerufen, um ein weltliches Messiasreich aufzurichten. Er sei dabei immer fanatischer geworden, bis er schließlich versagt habe und hingerichtet worden sei.
Das nachösterliche Christentum erklärte Reimarus als Betrug der Apostel: Sie hätten aus dem gescheiterten weltlichen Propheten einen himmlischen Erlöser gemacht, dazu seinen Leichnam gestohlen (vgl. Mt 28,11-15) und nach dessen Verwesung begonnen, seine Auferstehung und baldige Wiederkunft zu verkünden (7. Fragment: Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger). Aus den Anhängern dieses Aberglaubens sei die Kirche entstanden.
Reimarus war also bewusst anti-theologisch, anti-christlich und anti-dogmatisch. Er beabsichtigte nicht, den historischen Jesus zu finden, um darauf eine modernere Form des christlichen Glaubens zu gründen, sondern um den Kirchen das Fundament ihrer Lehren zu entziehen.
Während seine methodische Trennung von Jesusverkündigung und Glauben der Urchristen bis heute gültig ist, fand die Betrugstheorie bald Widerspruch. Die Veröffentlichung seiner Thesen bewirkte zunächst einen heftigen Streit zwischen Lessing und orthodoxen Kirchenvertretern (z.B. Johann Melchior Goeze), die ihren Niederschlag in Lessings Werken (vgl. Nathan der Weise 1779) fand (siehe Fragmentenstreit).
Thomas Jefferson (1743-1826)
Der Autor der Unabhängigkeitserklärung und dritte Präsident der USA war wie viele US-Gründerväter in religiösen Dingen ein Freidenker. Er versuchte, ein „von Aberglauben befreites“ historisches Leben Jesu aus allen vier Evangelien herauszufiltern:
- The Life and Morals of Jesus of Nazareth. Extracted textually from the Gospels in Greek, Latin, French and English.
Seine Jesusbiografie endet mit dem Begräbnis Jesu. Eine Auferstehung ließ Jefferson nicht folgen: Sie gehörte für ihn zu dem „Aberglauben", den er ablehnte. Aus Vorsicht gegenüber seinen konservativ-christlichen Landsleuten veröffentlichte er dieses Werk zu Lebzeiten jedoch nicht.
Jefferson kann als Pionier der synoptischen Betrachtungsweise gelten, die aus gemeinsamen Texten auf historische Zuverlässigkeit und Ursprünglichekit schließt. Dabei ging er jedoch noch ganz unkritisch vor und listete die Lebensstationen Jesu einfach auf, ohne die Widersprüche zwischen den Evangelien zu berücksichtigen und zu erklären zu versuchen.
Ferdinand Christian Baur (1792 – 1860)
Baur war seit 1836 Theologieprofessor und führte die historisch-kritische Methode in die NT-Forschung ein („Tübinger Schule“). Er war einer der gemäßigten Kritiker seines Schülers David Friedrich Strauß (s.u.) und versuchte, dessen Entwurf mit stärkerer Betonung der historischen Kontinuität zu begegnen.
Er sah in Jesus den Gründer des Urchristentums, der einen Messiasanspruch erhoben habe. Er betrachtete diesen also nicht als sekundäre mythische Vergöttlichung, sondern sah das Kerygma der Jerusalemer Urgemeinde als Wirkung der Eigenverkündigung Jesu.
Als Schüler Hegels übertrug Baur jedoch zugleich dessen Dialektik in die Darstellung des Urchristentums: Das von Simon Petrus vertretene Judenchristentum der Urgemeinde war für ihn die „These“ einer Gesetzeskirche, das Heidenchristentum des Paulus mit seiner Völkermission die „Antithese“ einer Geistkirche. Beides habe zur vorläufigen Synthese in der frühkatholischen Theologie des Johannesevangeliums geführt. Er fand auch in der christlichen Gnosis schon vieles von dem mythisch ausgedrückt, was Hegel dann philosophisch entfaltete.
David Friedrich Strauß (1808-1874)
Strauß war Schüler von Baur und Friedrich Schleiermacher. 1835 erschien sein Werk Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, das ihn berühmt machte und heftigen Streit mit Kirchen und Behörden auslöste.
Seine Hauptthese lautete, in den Evangelien seien durchweg mythische – vor allem messianische – Vorstellungen des AT auf Jesus übertragen worden. Damit übertrug er den Mythosbegriff der alttestamentlichen Theologie seiner Zeit auf das NT. Zudem erkannte er, dass das Johannesevangelium von theologischen Interessen aus gestaltet wurde und für historische Daten zu Jesus weniger zuverlässig als die Synoptiker sei.
Er stellte diese „Mythisierung" gegen aufgeklärt- rationalistische und dogmatisch-supranaturalistische Sichtweisen der Verkündigung Jesu. Die Wunderberichte etwa erklärte er nicht als urchristlichen Betrug, Konzession an die „jüdische Wundersucht" oder Illusion, sondern als unbewussten Prozess einer „absichtslos dichtenden Sage".
Er wollte diese zeitbedingten Mythen jedoch nicht widerlegen und beseitigen, sondern verstand die Erzählungen über Jesus als legitime Einkleidung einer zeitlosen „Idee der Gottmenschlichkeit", die sich in dem historischen Individuum Jesus realisiere. Er wollte die darin verborgenen „ewigen philosophischen Wahrheiten“ aus diesem Kleid herauslösen und versuchte dazu, die damalige mythische Sichtweise durch eine „mystische“ Sicht Jesu zu ersetzen. Darum war seine Christologie keine Lehre über den historischen Jesus, sondern über die „Menschheit“. Dass Gott in einem bestimmten Menschen Mensch wurde, war für Strauß also nur Ausdruck des Gedankens, dass die Menschheit göttlich sei.
Das Werk fand viel Kritik, so dass Strauß seinen Entwurf in der dritten Auflage von 1839 entschärfte, in der vierten Auflage jedoch wieder vertrat. Sein Hauptproblem war, dass er nicht erklären konnte, wie es vom „Christusmythos“ zum Neuen Testament und zum Christentum kommen konnte. Das versuchte sein Lehrer Baur zu zeigen, wobei er Strauß erheblich korrigierte.
In den folgenden Werken distanzierte sich Strauß immer mehr vom Christentum. Zuerst versuchte er noch, die kirchlichen Dogmen in philosophische Ideen umzuwandeln, ohne die Glaubenswahrheiten aufzugeben. Doch schließlich sagte er sich förmlich vom Christentum los. In seinem zweiten Leben Jesu, für das deutsche Volk bearbeitet (1863) erschien Jesus nur noch als Verkünder einer reinen Kultur- und Humanitätsreligion. 1865 folgte Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte, eine Abrechnung mit Schleiermacher. 1872 erschien Der alte und der neue Glaube. Darin war das Christentum für Strauß nun völlig überflüssig geworden.
Ernest Renan (1823-1892)
Dieser französische Katholik schrieb 1863 das aufsehenerregende Buch Das Leben Jesu, das einige Ergebnisse der deutschen Leben-Jesu-Forschung aufgriff und erstmals im Katholizismus verbreitete. Das Buch erreichte in kürzester Zeit acht Auflagen, rief aber auch leidenschaftlichen Protest orthodoxer Christen hervor und kostete den Autor seine Professur am College de France.
Es wurde fünfmal ins Deutsche übersetzt und fand auch diesseits des Rheins begeisterte Zustimmung oder vehemente Ablehnung: Renan wurde zum einen als französischer D.F. Strauß, zum anderen als dessen "Überwinder" gefeiert und vereinnahmt.
Sein Buch verarbeitete persönliche Reise-Erlebnisse: Er hatte 1860 Phönizien besucht und beschrieb mit Jesu Leben zugleich die dortige Landschaft in poetisch-sentimentaler Form. Dabei popularisierte er auch antijudaistische Klischees und Stereotypen, die bis heute gängig sind.
Jesus erscheint als ungebildeter, naiver und sanfter Freund der Menschen und Tiere, der in einer idyllischen Gegend aufwuchs und ein neues Gottesbild gegen den finsteren Gott Israels stellte:
- Der Gott Jesu ist nicht der schreckliche Herr, der uns tötet, wenn es ihm gefällt, und uns rettet, wenn es ihm gefällt. Jesu Gott ist unser Vater...
- Der Gott Jesu ist nicht der parteiische Despot, der Israel als sein Volk auserwählt hat und es beschützt vor allen und gegen alle. Er ist der Gott der Menschheit...
Renan konnte den Universalismus der undifferenzierten Menschenliebe also nur im Kontrast zum Partikularismus der biblischen Bundes- und Rechtstheologie darstellen, so dass sein Jesus einen anderen Gott als den Israels vertreten musste. Dabei löste er Jesu Verkündigung gegen den Konsens der Evangelien von ihrem apokalyptischen Hintergrund ab:
- Die bewundernswürdige Moral, die Jesus aus diesem Gottesglauben ableitet, ist nicht eine Moral von Enthusiasten, die den Weltuntergang nahe glauben und sich in finsterer Askese auf eine eingebildete Katastrophe vorbereiten, sondern die Moral einer Welt, die leben will und gelebt hat...
Hinzu kamen phantasievolle unbiblische Motive eines Kitschromans:
- Sein liebenswürdiger Charakter und seine zweifellos hinreißende Schönheit, wie sie manchmal in der jüdischen Rasse erscheinen, schufen gleichsam einen Zauberkreis um ihn, dem sich niemand inmitten dieses gutmütigen, naiven Volkes [der Galiläer des "Nordens"] entziehen konnte...Ein Paradies auf Erden wäre es geworden, wenn die Gedanken des Meisters nicht zu sehr das Niveau der mittelmäßigen Güte überschritten hätten...
Albert Schweitzer (s.u.) kritisierte diesen Stil 1906 rückblickend wie folgt:
- Der Historiker verzeiht es ihm schwer, dass er mit dem Problem der Entwicklung Jesu, auf das er durch seine starke Betonung der Eschatologie geführt wurde, nicht nachgegangen ist und an Stelle der Lösung romanhafte Phrasen bot.
Heinrich Julius Holtzmann (1832-1910)
Dieser Neutestamentler unternahm den optimistischen Versuch, Jesu „Persönlichkeit" historisch zu rekonstruieren. Er wollte so die Basis für einen erneuerten Christusglauben gewinnen, der sich vom dogmatisierten Christusbild der Kirchen emanzipieren sollte. Er gilt daher als klassischer Vertreter der liberalen Theologie im Deutschen Kaiserreich.
Sein methodischer Ausgangspunkt war die Zweiquellentheorie, die Christian Gottlob Wilke und Christian Hermann Weiße zuvor entwickelt hatten. Holtzmann sorgte 1863 mit einer wissenschaftlichen Veröffentlichung für ihren Durchbruch: Die synoptischen Evangelien. Ihr Ursprung und ihr geschichtlicher Charakter. Von nun an galt das Markusevangelium als das älteste der vier Evangelien, neben ihm die hypothetisch erschlossene Logienquelle als zweite schriftliche Vorlage des Matthäus- und Lukasevangeliums.
Den äußeren Verlauf des Lebens Jesu entnahm Holtzmann dem Markusevangelium. Er nahm an, Jesu „messianisches Bewusstsein" sei erst allmählich gereift und habe ihn dann bewogen, nach Jerusalem zu ziehen. Den Wendepunkt fand er in Mk 8,29ff, wo erstmals ein Jünger Jesus als den „Christus" anredet und dieser mit der ersten Leidensankündigung des Menschensohns antwortet. Damit schlug der Evangelist die Brücke zwischen den Ereignissen in Galiläa und der folgenden Passionsgeschichte.
In diesen biografischen Rahmen fügte Holtzmann vermeintlich „authentische" Worte Jesu aus der Logienquelle ein, die zu seinem Bild der reifenden Persönlichkeit Jesu zu passen schienen. Diesem Verfahren folgten weitere liberale Jesusbiografien des 19. Jahrhunderts, die das jeweilige Persönlichkeitsideal ihres Verfassers in den Quellen über Jesus wiederzufinden meinten.
Adolf von Harnack (1851-1930)
Dieser Theologe hielt 1900 eine Vorlesungsreihe, die später als Buch mit dem Titel Das Wesen des Christentums veröffentlicht wurde. Es gilt als Hauptwerk der liberalen Theologie vor dem Ersten Weltkrieg. Darin fragte Harnack nach der einzigartigen Besonderheit der Lehre Jesu. Er stellte fest, dass sämtliche Einzelmotive seiner Verkündigung schon vorher im Alten Testament oder von hellenistischen Philosophen gelehrt worden seien. Jesus habe seine Botschaft auf zwei Aussagen konzentriert und diese universalisiert: die „Vaterliebe Gottes" und die „reine Menschenseele". Daraus folgerte Harnack:
- Nicht der Sohn, allein der Vater gehört in das Evangelium, wie es Jesus verkündet hat, hinein.
Deshalb gelte:
- Nicht an Jesus glauben, sondern wie er glauben, nämlich glauben an die Vaterliebe Gottes und den unendlichen Wert der Menschenseele...
Im Gleichnis vom Verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) fand Harnack Jesu Lehre konzentriert ausgedrückt:
- Gott verlange nichts: kein Sündenbekenntnis, kein Opfer, keine Leistung. Gott freue sich einfach über die Heimkehr seines Sohnes. Diese reine Gnade sei im Judentum, dem Glauben Jesu, schon vorhanden.
- Gottes Liebe überwinde die Erbsünde, das sündige, dem Materiellen verhaftete Begehren, und erneuere den rechtgläubigen, reinen Geist.
- Die Seele des Menschen sei und bleibe rein und könne durch Taten auf Erden nicht befleckt werden. Sie gehe rein wieder zu Gott ein.
- Das Judentum kenne diese Geborgenheit der Seele in Gott. Jedoch stehe es fest im Rahmen von heiligen Gesetzen und religiösen Pflichthandlungen, die vielfach vom frühen Christentum übernommen und durch zahlreiche heidnische Bräuche ergänzt worden seien. Dabei habe sich ihre Bedeutung gewandelt.
- Die Lehre Jesu von der gnädigen Annahme der reinen Seele gehe durch die Mission) in die ganze Welt.
William Wrede (1859-1906) und Ernst Troeltsch (1865-1923)
Wrede war NT-Historiker und schrieb 1897 einen kritischen Aufsatz: Über Aufgabe und Methoden der sogenannten neutestamentlichen Theologie. Darin rechnete er mit seinen Vorgängern Baur, Strauß und dem Neukantianer Albrecht Ritschl ab: Sie hätten im NT nur ihre eigenen zeitphilosophischen Schablonen als angebliche Lehrbegriffe von Jesus, Paulus, Johannes usw. wiedergefunden und nicht konsequent historisch nach der religiösen Bewegung gefragt, aus denen die NT-Schriften hervorgingen. Das NT sei nicht als Abfolge theologischer Systeme, sondern als Teil der spätantiken Religionsgeschichte zu verstehen.
Mit dieser Auffassung begründete Wrede die „religionsgeschichtliche Schule" in der NT-Forschung, deren hermeneutische Prämissen vor allem Ernst Troeltsch ein Jahr darauf in seinem Aufsatz Über historische und dogmatische Methode in der Theologie systematisch entfaltete. Das historische Bild des Urchristentums sei nach den Prinzipien der Kritik, der Analogie und der Korrelation zu gewinnen. Historiker müssten die Wahrscheinlichkeit des Überlieferten kritisch nach Maßgabe der Analogien zu gleichartigen Vorgängen der sonst bekannten Vergangenheit und Gegenwart beurteilen; Korrelation setze voraus, dass alle Ereignisse in Wechselwirkung mit anderen Ereignissen stünden, so dass Geschichtserklärung Kontingenz (Zufall ohne erkennbaren Ursachen) weitgehend ausschließe.
Diesem Programm gemäß zeigte Wrede mit der Schrift Das Messiasgeheimnis in den Evangelien 1901, dass auch das Markusevangelium schon ein theologisches Konstrukt sei. Die Annahme, Jesus habe allmählich im Verlauf seines Wirkens ein Messiasbewusstsein entwickelt, lasse sich ihm nicht entnehmen. Die Texte, die Markus vorlagen, schilderten ihn als Lehrer und Wundertäter, aber nicht als Messias: Diese Deutung habe ihnen erst der Evangelist gegeben. Nicht Jesus selbst habe sich, sondern die Urchristen hätten ihn aufgrund ihres Auferstehungsglaubens als den Christus verkündet. Dazu habe Markus das Konzept des Messiasgeheimnisses entworfen: Danach verbot Jesus seinen Jüngern vor seinem Tod, ihn als den Christus zu verkünden. So deute auch die älteste NT-Quelle Jesu Wirken von vornherein als Offenbarung Gottes und biete keine Möglichkeit einer psychologisierenden Biografie.
Mit diesem Aufsatz war die liberale Leben-Jesu-Forschung an ihren vorläufigen Endpunkt gekommen: Die historische Kritik holte ihre eigenen Voraussetzungen ein.
Albert Schweitzer (1875-1965)
Dieser berühmte Musiker, Arzt und Theologe verfasste 1906 eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung mit dem Titel: Von Reimarus zu Wrede (2. stark erweiterte Auflage 1913). Darin konnte er überzeugend nachweisen, dass fast alle „Leben-Jesu"-Entwürfe die ethischen Ideale ihrer Autoren in die Texte hineinprojizierten.
Wo Jesus etwa der große Erfinder der „Goldenen Regel“ gewesen sein sollte, dachte der aufgeklärte Forscher an den kategorischen Imperativ Immanuel Kants. Wo er der Freund aller Menschen und Tiere gewesen sein sollte, dachte der die Natur liebende romantische Forscher an Franz von Assisi. Wo er der Held eines nationalen Befreiungskampfes sein sollte, dachte der patriotische Forscher an seine Burschenschaft usw..
Schweitzer erkannte nur die Forschung von Johannes Weiß (Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, 1892) als gültigen Beitrag zur historischen Erklärung der Verkündigung Jesu an. Weiß hatte nachgewiesen, dass Jesus das Reich Gottes als nahes, aber zukünftiges Weltende verstand und nicht als innerseelische Gottesgegenwart, wie es die liberalen Theologen sich dachten.
Schweitzer griff diese Arbeit auf und betonte, dass die jüdische Apokalyptik mit ihrer Erwartung einer überzeitlichen Endkatastrophe jeder Vorstellung eines weltimmanenten Fortschritts widerspreche. Er sah in ihr den gemeinsamen Rahmen der Reich Gottes-Verkündigung von Jesus, der Jerusalemer Urgemeinde und Paulus von Tarsus.
Schweitzers Werk gilt als weitgehende Widerlegung der liberalen Leben-Jesu-Forschung. Das optimistische Vertrauen in die Rekonstruierbarkeit einer „Persönlichkeit" des Jesus von Nazaret und seiner biografischen Entwicklung hatte sich als unhaltbare Projektion sachfremder Interessen und Prämissen in die NT-Quellen erwiesen. Damit war die Frage nach einem vom biblischen und kirchlichen Christusbild abweichenden historischen Jesus wieder völlig offen.
Zweite Phase: Von der formgeschichtlichen Methode zur Bultmannschule
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts war die Vorherrschaft der Literarkritik gebrochen: Nun wurde zum einen die Historisch-kritische Methode entscheidend differenziert und erweitert. Zum anderen konfrontierte die Dialektische Theologie den "Historismus" und beliebigen Relativismus der liberalen Theologie mit dem Wahrheitsanspruch des Wortes Gottes.
Nach 1945 bestimmte Rudolf Bultmanns Programm der "Entmythologisierung" die Szene der neutestamentlichen Wissenschaft. Seit etwa 1960 stellten Bultmanns Schüler dann die erneute Rückfrage nach dem historischen Jesus, um ein Sachkriterium für das "Christuskerygma" zu finden.
Parallel dazu vertraten Neutestamentler wie Martin Kähler, Julius Schniewind oder Joachim Jeremias einen konservativen Ansatz, der das biblische Jesusbild oder die Eigenverkündigung Jesu konstruktiv als kritischen Maßstab der Theologie und kirchlichen Verkündigung zur Geltung bringen wollte.
Karl Ludwig Schmidt (1891-1956) und Martin Dibelius (1883-1947)
Diese beiden Neutestamentler begründeten 1919 die Formgeschichtliche Methode, die die Formen, Gattungen und Eigenabsichten einer Texteinheit erkundet. Hermann Gunkel hatte diese Betrachtungsweise bereits vorher für den Pentateuch eingeführt, die nun die bis dahin vorherrschende Literarkritik ablöste:
Man suchte nicht mehr nach älteren verlässlichen Quellen, aus denen man Jesu Eigenverkündigung entnehmen zu können meinte. Sondern man erkannte, dass auch diese Quellen sich aus zahlreichen kleinen "Einzelperikopen" zusammensetzten, die bereits mit theologischen Absichten für bestimmte Zwecke verfasst und zusammengestellt worden waren. Deshalb wurde nun primär nach ihrem ursprünglichen "Sitz im Leben" gefragt - also dem Anlass und Ort, bei dem ein solcher Text verwendet wurde.
Schmidt entdeckte mit seinem Aufsatz Der Rahmen der Geschichte Jesu, dass die Annahme einer Chronologie und Topografie der Ereignisse im Markusevangelium nicht haltbar ist. Vielmehr seien die Texte erst - wie im Johannesevangelium - vom Evangelisten selber in diese Reihenfolge gebracht worden, um einen solchen Ereignisablauf zu konstruieren. Das entzog der "Entwicklung der Persönlichkeit" Jesu, die allen Jesusbiografien zugrunde lag, die Basis.
Daraus ergab sich eine weitere methodische Leitfrage der NT-Forschung: die der Redaktionsgeschichte, die nach den Gesichtspunkten und Aussageabsichten der Evangelienkomposition fragt. Die Evangelisten erschienen damit eher als Redaktoren denn als Autoren. Schmidt sah z.B., dass Matthäus die Texte des Markusevangeliums und der Logienquelle in der Reihenfolge "Messias des Wortes" (Lehre, Toraauslegung: Mt 5-7) und "Messias der Tat" (Mt 8-12) gruppierte und weitere große Reden daraus komponierte (z.B. die Gleichnisrede in Mt 13).
Dibelius folgte kurz darauf mit dem Aufsatz Die Formgeschichte des Evangeliums, der den Zweck der Gattung "Evangelium" in der urchristlichen Gemeindeunterweisung verankerte.
Joachim Jeremias (1900-1979)
Er lebte 1910-1915 in Jerusalem, studierte Theologie und orientalische Sprachen und wurde 1928 Direktor des Instituts für Judaistik in Berlin. Er gilt als einer der profundesten Kenner Palästinas zur Zeit Jesu, der archäologische, geographische, politisch-ökonomische und neutestamentliche Forschung verband.
Sein Hauptinteresse galt der Rekonstruktion der historischen Verkündigung Jesu auf dem Hintergrund des zeitgenössischen Judentums. Er beherrschte alle damalige Sprachen und führte das „Echtheits“-Kriterium in die NT-Forschung ein: Authentisch ist ein Jesuswort allenfalls dann, wenn es sich vom Griechischen ins Hebräische und von da aus ins Aramäische, die Muttersprache Jesu, zurück übersetzen lässt.
Seine Hauptwerke „Jerusalem zur Zeit Jesu“ (1923), „Die Abendmahlsworte Jesu“ (1935), „Die Gleichnisse Jesu“ (1947),, „Die Bergpredigt“ (1959), „Das Vaterunser“ (1962), „Der Opfertod Jesu Christi“ (1963), „Abba“ (Aufsätze 1966), „Neutestamentliche Theologie 1. Teil: Die Verkündigung Jesu“ (1970) wurden in viele Sprachen übersetzt und erlangten ökumenische Bedeutung. Sie gelten heute noch als historische Standardwerke.
(siehe Literaturverzeichnis)
Rudolf Bultmann (1884-1976)
Bultmann studierte u.a. in Marburg Theologie bei Wilhelm Herrmann, Johannes Weiss und Wilhelm Heitmüller, einem Vertreter der religionsgeschichtlichen Schule. Er wurde 1918 Professor für Neues Testament in Gießen, wo auch Rudolf Otto und Martin Heidegger lehrten.
Er gehörte seit 1922 zur Bewegung der „dialektischen“ Theologen, die sich nach 1918 von der liberalen Theologie abwandten. Er fand in Heideggers Existenzphilosophie die begriffliche Möglichkeit, Gott als „Ganz Anderen“ dennoch in Relation zum Menschen zu denken und die NT-Verkündigung existential zu interpretieren.
Er führte die formgeschichtliche Methode in seinem Standardwerk Geschichte der synoptischen Tradition für den gesamten Textbestand der Evangelien durch und ordnete die vielen einzelnen Textperikopen bestimmten Gattungen zu. Auf diese Weise erklärte er einen Großteil der Verkündigung Jesu als nachösterliche Gemeindebildung.
In seiner Theologie des Neuen Testaments ordnete er Jesus ganz in das Judentum ein und erklärte ihn zu den „Voraussetzungen" des christlichen „Kerygmas" (der Botschaft), nicht zu ihrem Thema. Er ließ die eigentliche Theologie - im Gegensatz zu Jeremias - also erst mit der Urgemeinde und Paulus beginnen. Er betonte, dass der irdische Jesus diesen - ähnlich wie das Johannesevangelium - nicht interessiert habe und für seine Aussagen über Mensch, Gott und Welt eigentlich nur das formale Faktum - „dass" er gekommen sei, nicht „was" er sei - notwendig sei.
1941 verfasste er den Aufsatz Neues Testament und Mythologie. Darin erklärte er, dass die mythologische Form des Heilsgeschehens dem modernen Menschen nichts mehr sage und den eigentlichen Anstoß des Evangelium verdecke. Fasse man die Botschaft des NT jedoch existentiell auf, dann ließen sich die Texte „entmythologisieren“ und als Ruf zum Glauben als einem radikal neuen Selbstverständnis weiterverkünden. Dieser Aufsatz wurde erst nach 1945 international bekannt. Als Teil der Sammlung Kerygma und Mythos (1948) löste Bultmanns Programm der Entmythologisierung eine heftige, bis heute anhaltende Debatte aus.
Ernst Käsemann (1906-1998)
Käsemann promovierte 1931 bei Bultmann in Marburg und gilt als dessen profiliertester Schüler. Als Professor für das Neue Testament in Göttingen schrieb er 1954 den epochalen Aufsatz Das Problem des historischen Jesus. Darin hielt er gegen seinen Lehrer gesichertes Wissen über Jesu Leben und Botschaft für möglich, wobei er wieder an Ferdinand Christian Baur (s.o.) anschloss.
Er legte ein doppeltes Differenzkriterium an die synoptische Tradition an: „Echt“ sei ein Jesuslogion, wenn es sich weder aus der jüdischen Umwelt noch aus Leben und Lehre des Urchristentums erklären lasse. Hinzu kamen die Kriterien der Mehrfachbezeugung und der Übereinstimmung (Kohärenz) mit anderen als echt erwiesenen Jesusworten. Diese Kriterien haben sich in der Jesusforschung durchgesetzt und wurden 30 Jahre lang ihre dominierende Arbeitsmethode.
Darüberhinaus sah Käsemann die jüdische Apokalyptik, in die er Jesu Botschaft einordnete, als prägendes Element der paulinischen Rechtfertigungslehre und „Mutter der Theologie des Neuen Testaments“ an. Insofern war er einer der letzten Neutestamentler, die einen historisch-theologischen Gesamtentwurf präsentieren konnten.
Günther Bornkamm (1905 – 1990)
Willy Marxsen (1919-1993)
Marxsen studierte Theologie in Kiel, wo er 1956 mit einer viel beachteten Arbeit über das Markusevangelium promovierte. Er erklärte das Markuskonzept des „Messiasgeheimnisses“ mit Hilfe der traditions- und religionsgeschichtlichen Methode, die er in die deutschsprachige Exegese einführte. Als Professor für das Neue Testament in Münster unterschied er in der Nachfolge Bultmanns zwischen Jesu Verkündigung und dem „Christus-Kerygma“, der urchristlichen Botschaft. Sein Interesse galt vor allem der Analyse der Auferstehungstexte, die er entmythologisierend auslegte. Deshalb sah er sich Anfeindungen konservativer Theologen ausgesetzt.
Die "dritte Frage" nach dem historischen Jesus
Gerd Theißen, Luise Schottrof, Wolfgang Stegemann (*1945)
Diese drei Namen stehen für die in Deutschland seit 1970 verstärkte Beachtung der ökonomischen, sozialen und politischen Situation, unter der die Jesusbewegung lebte, litt und gegen die sie kämpfte.
Theißen vertrat mit der "Soziologie der Jesusbewegung" (1977) die These vom "Wanderradikalismus" nicht nur der Jesusjünger, sondern auch anderer entwurzelter und vom Elend bedrohter Gruppen im damaligen Israel. Er erklärte frühe Überlieferung der Logienquelle aus dieser Lebenssituation.
Schottrof und Stegemann haben seine These in dem kleinen, aber aussagekräftigen Buch "Jesus von Nazareth - Hoffnung der Armen" stärker differenziert. Während Jesus und seine Nachfolger zu den Bettelarmen gehörten, waren die Gemeinden des 1. Jahrhunderts bereits aus Armen und "mittelständischen" Reichen zusammengesetzt.
Im Lukas-Doppelwerk wird sichtbar, wie Jesu Besitzlosigkeit zur Forderung des Besitzverzichts und der Gütergemeinschaft an diese Christen umgewandelt wurde. Dabei flossen auch hellenistische Armuts-Ideale ein.
Auch der Religionssoziologe Hans G. Kippenberg hat mit seinem Buch "Religion und Klassengesellschaft im antiken Judäa" (1982) entscheidende Informationen für die soziologische Einordnung der Jesusbewegung beigesteuert.
(siehe Literaturliste)
Das Jesus-Seminar (seit 1985)
Das Jesus-Seminar wurde 1985 als Teil des Westar-Instituts in Kalifornien von dem amerikanischen Orientalisten Robert W. Funk gegründet. Es widmet sich ganz der Suche nach authentischem Jesusmaterial.
Dazu will es die internationalen Forschungen zum historischen Jesus zusammenführen und ihren Austausch fördern. So will man die historischen Fakten überprüfen und von Gerüchten und Spekulationen unterscheiden. Dabei konzentriert sich das Seminar auf die Zeit von Jesu Auftreten (ca. 30) bis 200 n. Chr..
Im Halbjahresrhythmus finden internationale Mitgliedertreffen statt, wo Forschungsergebnisse ausgetauscht und diskutiert werden. Diese sind zugleich ein öffentliches Forum auch für Laien. Die Debatten werden aufgezeichnet und durch Medien wie das Internet verbreitet. Die Forschung wird also nicht nur im elitären Forscherzirkel, sondern demokratisch zugänglich und diskutierbar gemacht.
Das Jesus-Seminar hat sehr spezifische Kriterien für seine Arbeit aufgestellt, die im theologischen Mainstream selten vertreten werden. Eine Aussage von Jesus wird beispielsweise nur als authentisch angesehen, wenn es sich um einzelne Aussprüche oder Gleichnisse handelt, Dialoge oder längerere Reden werden ausgeschlossen. Ebenso werden Aussagen von Jesus nur als echt gewertet, wenn sie sonst weder im jüdischen Kontext noch im frühchristlichen Kontext vorkommen. Das Thomasevangelium wird als ältere Quelle als die synoptischen Evangelien angesehen.
Jede Streitfrage wird am Ende einer Debatte zur Abstimmung gestellt, um zu testen, wie viel relative historische Evidenz der einen oder anderen Antwort die Forscher beimessen. Die durchschnittliche Stimmenmehrheit entscheidet, was vom Seminar als verifizierbare Datenbasis über Jesus akzeptiert wird. Insofern repräsentieren die regelmäßigen Seminarberichte ein ausgewogenes Urteil aller Beteiligten, nicht Einzelmeinungen.
Das Jesus-Seminar stellt sich in seinen Publikationen oft als die aktuelle Meinung der wissenschaftlichen Theologie dar. Die meisten deutschen Theologen fühlen sich von ihm jedoch nicht vertreten. Evangelikale Theologen im englischen Sprachraum bezeichnen seine Vertreter als Teil des extrem liberalen Spektrums der Theologie und kritisieren sowohl ihre Methoden als auch ihre Grundannahmen, z.B. in Moreland et al. "Jesus under Fire". In mehreren Büchern stellen Vertreter des Jesus Seminars und der evangelikalen Theologie ihre Ansichten nebeneinander, beispielsweise in William Lane Craig's: Will the Real Jesus Please Stand Up?: A Debate Between William Lane Craig and John Dominic Crossan ISBN 0801021758.
John Dominic Crossan (*1934)
E. P. Sanders (* 1936)
Die wichtigsten Werke von Sanders über Jesus sind Jesus and Judaism (1986) und The Historical Figure of Jesus (1996).
Sanders ist mehr Historiker als Theologe und konzentriert sich auf die historischen Tatsachen über das Leben von Jesus, während er seine Lehre eher beiseite lässt. Er geht von einigen historischen Tatsachen aus, die, wie er sagt, kaum bestritten werden:
- Jesus wurde durch Johannes den Täufer getauft
- Jesus war ein Galiläer der predigte und heilte
- Jesus berief Jünger und sprach über zwölf von ihnen
- Jesus beschränkte seine Aktivitäten auf Israel
- Jesus war in eine Kontroverse bezüglich des Tempels verwickelt
- Jesus wurde außerhalb von Jerusalem durch die römische Besatzungsmacht gekreuzigt
- Nach seinem Tod waren seine Jünger weiterhin eine identifizierbare Bewegung
- Mindestens Teile des Judentums verfolgten mindestens Teile der neuen Bewegung und diese Verfolgung dauerte bis zum Ende der Wirksamkeit von Paulus an (60er Jahre).
Sanders geht sehr kritisch mit den historischen Belegen um und verzichtet auf Spekulation. Was ihn auszeichnet ist eine profunde Kenntnis der außerbiblischen jüdischen Literatur. Von daher widerlegt er sachkundig einige der stereotypen Karikaturen, die in der Theologie über die jüdischen Gegner von Jesus existieren.
N. T. Wright (* 1949)
N.T. Wright's Hauptbeitrag zur Leben-Jesu-Forschung ist sein mehrbändiges Werk Christian Origins and the Question of God, von dem bisher drei Bände veröffentlicht sind.
- Im ersten Band "The New Testament and the People of God" beschreibt er ausführlich seine Methodik, dann das Judentum und dann das Christentum des ersten Jahrhunderts.
- Der zweite Band "Jesus and the Victory of God" gibt einen ausführlichen Überblick über die Leben-Jesu-Forschung und beschreibt dann Leben und Lehre Jesu, ausgehend vom Typus eines jüdischen Propheten.
- Der dritte Band erschien 2003 mit dem Titel "The Resurrection of the Son of God". Wright untersucht darin die Vorstellungen vom "Jenseits" und von der "Auferstehung" vor, während, im und nach dem Neuen Testament.
Er beginnt mit dem Hellenismus, dann dem Alten Testament und Judentum des zweiten Tempels, dann Paulus, dann dem Urchristentum im NT, dann den Apokryphen und frühen Kirchenvätern bis zum dritten Jahrhundert.
Erst daraufhin untersucht er ausführlich die Ostergeschichten der Evangelien in Bezug auf die zuvor erarbeiteten Sichtweisen. Der letzte Teil diskutiert die wichtigsten Erklärungen für das Auferstehungsgeschehen und die Herausforderung, die es für den Historiker darstellt.
Wright geht in seiner Arbeit von einem sehr breiten historischen Ansatz aus, der als Primärquellen neben dem Neuen Testament griechische Philosophie, die Texte von Qumran und Nag Hammadi ebenso berücksichtigt wie die Kommentare des Talmud zum Neuen Testament. Er fragt nach der in narrative (erzählende) Texte eingebetteten jeweiligen Weltanschauung der verschiedenen historischen Gruppen und Personen.
Methodisch geht er einen Mittelweg zwischen historischem Positivismus und postmodernem Dekonstruktionalismus, den er kritischen Realismus nennt. Er sieht keinen Gegensatz zwischen Historie und Theologie, sondern geht davon aus, dass beide sich gegenseitig bedingen.
Gleichzeitig hinterfragt er sowohl konservative wie moderne theologische Hypothesen. Er stellt eigenständige Hypothesen auf, die einige Lieblingsvorstellungen beider Seiten zerstören. Darum verursachte dieser Band bereits einige Kontroversen und wurde von Theologen beider Lager scharf kritisiert.
William Lane Craig
Literatur
Veröffentlichungen der ersten Phase
- Gotthold Ephraim Lessing: Neue Hypothese über die Evangelisten als bloß menschliche Geschichtsschreiber betrachtet. (1778)
- David Friedrich Strauß: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. (1839) ISBN 3933688922
- Ernest Renan: Das Leben Jesu. (1. Auflage 1863) Diogenes, Zürich 1981, ISBN 3257204191
- Heinrich Holtzmann: Die synoptischen Evangelien. Ihr Ursprung und ihr geschichtlicher Charakter. (1863)
- Johannes Weiß: Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes. (1892)
- Martin Kähler: Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus. (1892)
- Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. (1900)
- William Wrede: Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. (1901)
- Julius Wellhausen: Einleitung in die drei ersten Evangelien. (1905)
- Albert Schweitzer: Von Reimarus zu Wrede: Eine Geschichte der Leben Jesu-Forschung. (1. Auflage 1906, 2., stark erweiterte Auflage 1913)
- derselbe: Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie I. Tübingen, 2. Auflage 1911
- Wilhelm Bousset: Kyrios Christos. (1913)
Veröffentlichungen der zweiten Phase
- Karl Ludwig Schmidt: Der Rahmen der Geschichte Jesu. Literarkritische Untersuchungen. (1919)
- Martin Dibelius: Formgeschichte der Evangelien. (1919)
- derselbe: Jesus. Göschen, 2. Auflage 1949
- Eduard Meyer: Urgeschichte des Christentums. 5. Auflage 1921, ISBN 388851200X (Nachdruck)
- Rudolf Bultmann: Geschichte der synoptischen Tradition. (1921)
- derselbe: Jesus. (1926) ISBN 3825212726
- derselbe: Neues Testament und Mythologie. Zum Problem der Entmythologisierung. (1941)
- Günter Bornkamm: Jesus von Nazareth. (1. Auflage 1956) Urban TB Band 19, Kohlhammer 1995, ISBN 3170138960
- James M. Robinson: Kerygma und historischer Jesus. (1960)
- Herbert Braun: Jesus. Der Mann aus Nazareth und seine Zeit. (1969)
- Dorothee Sölle: Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem "Tode Gottes." (1965)
Veröffentlichungen der dritten Phase
- E. P. Sanders: Jesus and Judaism. 1985, 0800620615
- N. T. Wright: Jesus and the Victory of God. (Band 2 von Christian Origins and the Question of God), 1992, ISBN 0800626818
- Michael J. Wilkins, J.P. Moreland: Jesus Under Fire. 1994, ISBN 0310211395
- John Dominic Crossan: Der historische Jesus. 1995, ISBN 3406385141
- Gerd Theißen, Anette Merz: Der historische Jesus. (1. Auflage 1996) Vandenhoeck&Ruprecht, Göttingen 2001, ISBN 3525521987
- Paul Copan, John Dominic Crossan, William F. Buckley, William Lane Craig: Will the Real Jesus Please Stand up: A Debate Between William Lane Craig and John Dominic Crossan. 1998, ISBN 0801021758
- Ulrich H. J. Körtner: Jesus im 21. Jahrhundert. 2001, ISBN 3788718986
- Carsten Peter Thiede: Jesus. 2003, ISBN 3929246953
- Hans W. Matthies: Jesus - und was bleibt übrig? 2003, ISBN 4673538986
Marxistische und femininistische Jesusdarstellungen
- Friedrich Engels: Zur Geschichte des Urchristentums. (1894/95)
- Karl Kautzky: Der Ursprung des Christentums. (1908)
- Ernst Bloch: Atheismus im Christentum. (1968)
- Milan Machovec: Jesus für Atheisten. (1972)
- Hanna Wolff: Jesus der Mann. Die Gestalt Jesu in tiefenpsychologischer Sicht. (1975)
Überblick über die Leben-Jesu-Forschung
- Leonhard Goppelt: Theologie des Neuen Testaments, Einleitung: Geschichte und Problemfeld der Disziplin. § 1: Der Verlauf der Forschung. Vandenhoeck&Ruprecht, UTB Nr. 850, 3. Auflage Göttingen 1978, ISBN 3525032528
- Manfred Baumotte (Hrsg.): Die Frage nach dem historischen Jesus. Texte aus drei Jahrhunderten. Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, Gütersloh 1984, ISBN 3579002929
- Werner Georg Kümmel: Dreißig Jahre Jesusforschung (1950-1980). Peter Hanstein GmbH, Königstein/Taunus-Bonn 1985, ISBN 377561074X