Schweiz im Ersten Weltkrieg

Zeitabschnitt der Schweizer Geschichte von 1914 bis 1918
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Die Schweiz wurde im Ersten Weltkrieg – obwohl ab 1915 vollständig von kriegsführenden Nachbarstaaten umgeben – nicht durch eine Invasion in Mitleidenschaft gezogen.

Wandgemälde an der Soldatenstube Andermatt von 1917

Der Erste Weltkrieg wird in der Schweiz auch als Grenzbesetzung 1914–1918 bezeichnet. Die Kriegsjahre stellten Volk und Armee vor schwere innere Probleme.

Militärische Verteidigung

Mit den 1907 unterzeichneten Haager Abkommen über Rechte und Pflichten der Neutralen im Kriegsfall übernahm die Schweiz die Verpflichtungen des Neutralitätsrechts[1]: Selbstverteidigung, Gleichbehandlung der Kriegführenden (betrifft auch Kriegsmaterial-Export), keine Söldner für die Kriegsparteien, keine Zurverfügungstellung des Territoriums für die Kriegsparteien. Die militärische Verteidigungsbereitschaft musste die Kriegsparteien überzeugen, dass die Schweiz keine Umgehungsangriffe des jeweiligen Gegners durch ihr Territorium zulassen würden, damit sie ihrerseits die Neutralität der Schweiz und die Schweizer Grenze respektieren würden. Beide Kriegsparteien waren gleichermassen an der Neutralität der Schweiz interessiert, deren militärisch gesichertes Territorium ihnen einen willkommenen Flankenschutz bot. Die 1912 vom 3. Armeekorps im unteren Toggenburg durchgeführten „Kaisermanöver“ gaben dem deutschen Staatsoberhaupt die Gewissheit, dass über helvetischem Boden kein französischer Flankenangriff drohte.[2]

Bedrohungslage und Verteidigungsdispositiv

Die Zentralfestungsidee (Reduit), die 1885 mit dem Bau der Gotthardbefestigungen und 1892 mit der modernen Festung Saint-Maurice begann, verlor nach 1900 an Bedeutung. Mit der Errichtung von Verteidigungsanlagen entlang der Landesgrenze sollte das ganze Territorium im Sinne der Haager Abkommen verteidigt werden. Die Zentralstellung wurde nun als Brückenkopf über das strategische Hindernis Alpen betrachtet und entsprechend ausgebaut.

Nach der Wahl zum Generalstabschef der Schweizer Armee nahm Theophil Sprecher von Bernegg 1906 wegen den zunehmenden Spannungen in Europa eine Beurteilung der Bedrohungslage für die Schweiz vor, wobei er zu folgenden Schlüssen kam: Deutschland würde von sich aus kein schweizerisches Gebiet verletzen, während Frankreich mit einem Umfassungsangriff durch die Schweiz in Richtung der unbefestigten deutschen Südgrenze vorstossen könnte. Die Dreiländergrenze befand sich damals im Jura bei Bonfol, weil das Elsass zu Deutschland gehörte. Aufgrund dieser Analyse erarbeiteten Ingenieuroffiziere detaillierte Pläne für die Schlüsselräume West (Fortifikation Murten) und Nord (Fortifikation Hauenstein), die bis zum Kriegsbeginn 1914 bereit waren.

Nach dem Krieg stellte sich heraus, dass die französische Armee im Dezember 1915 einen "Plan H" (H = Helvétie) mit einer Stossrichtung durch die Schweiz Richtung Süddeutschland entwickelt hatte[3]. Der deutsche Generalstab hatte vor 1914 den Schlieffen-Moltke-Plan ausgearbeitet, der für eine Umfassung der französischen Armee den Marsch durch die Schweiz anstatt durch Belgien vorsah; er wurde aber früh verworfen.

Weiter stellte sich heraus, dass der Schweizer Generalstab teils länger vor, teils kurz nach Kriegsausbruch, entweder in Form eines (im Anforderungsfall sofort beidseitig zu unterzeichnenden) Vertragsentwurfes, oder dann nur blosser Notizen, mit der deutschen Heerführung unter Geheimhaltung vereinbarte, für den Fall eines französischen Ein- oder Durchmarsches durchs Land, die Schweizer Armee zwecks Verteidigung dem Kommando der OHL zu unterstellen. Als die Westfront der Kriegsparteien im Kriegsverlauf zu erstarren begann, erkannte die hiesige Armeeführung dann, dass auch Deutschland potenziell Schweizer Gebiet für einen südlichen Umgehungsangriff auf Frankreich benützen könnte. Es wurde daher auch Frankreich die Kooperationsfrage für den Fall eines deutschen Durchmarsches unterbreitet. Dieses stimmte zu, wobei der Deal hier nur in Form von Notizen vorlag; zudem wurde Deutschland unmittelbar danach über die Vereinbarung orientiert, ansonsten blieb sie aber auch hier geheim.[4]

Kurz vor Ausbruch des Kriegs begannen Befestigungsarbeiten im Schlüsselraum Süd (Fortifikation Bellinzona). Das alte Dispositiv südlich von Bellinzona wurde durch Sperren auf dem Monte Ceneri, bei Magadino und Gordola nach vorne verlegt.

Nach Kriegsausbruch erstellte die Truppe überall in den Grenzgebieten Feldbefestigungen. Die Fortifikation Bellinzona wurde durch Befestigung des San-Jorio-Passes ergänzt. Auf der Haupteinfallsachse Nord entstand auf den umliegenden Jurahöhen als Brückenkopf Olten die Fortifikation Hauenstein zum Schutz des Eisenbahnknotenpunktes Olten und der Aarebrücken. Auf der Haupteinfallsachse West wurde die Fortifikation Murten als Sperre auf der Achse Bielersee-Murtensee-Saane gebaut. Nach dem Kriegseintritt Italiens von 1915 wurde der Umbrailpass befestigt.

Mobilisierung der Armee

Am 31. Juli 1914 ordnete der Bundesrat die Pikettstellung der Armee und für den 3. August die allgemeine Mobilmachung an. Die Landsturmeinheiten erhielten den Auftrag, die Mobilmachung und den Truppenaufmarsch zu decken. Am 3. August 1914 wählte die Bundesversammlung Ulrich Wille zum General der Schweizer Armee. Der Gesamtbestand der aktiven Feldarmee betrug rund 250.000 Mann und 77.000 Pferde. Dazu kam der Hilfsdienst mit rund 200.000 Mann.

Im Sommer 1914 wurde der Flugpionier Oskar Bider und eine kleine Schar ausgebildeter schweizerischer Piloten mit ihren Flugzeugen in die Nähe von Bern einberufen. Sie bildeten die neugeschaffene Fliegertruppe mit Bider als Chefpilot.

Grenzbesetzung 1914–1918

Mit der Zeit drückte der Militärdienst in Wartestellung auf die Moral der Milizsoldaten. Der General schuf im ersten Kriegswinter den so genannten Vortragsdienst, um die Soldaten vom eintönigen Dienstalltag abzulenken und um sie staatsbürgerlich weiterzubilden.

Ein Soldat leistete im Durchschnitt etwa 500 Diensttage und erhielt keine Verdienstausfallentschädigung, da die Erwerbsersatzordnung erst im Laufe des Zweiten Weltkrieges eingeführt wurde. Die Truppen gründeten Fürsorgekassen für in Not geratene Wehrmänner, die mit dem Erlös aus dem Verkauf der Soldatenmarken finanziert wurden.

Die grössten Verluste verursachte die Spanische Grippe, an der 1805 Soldaten starben, davon 926 während des Einsatzes gegen den Generalstreik, was zu heftigen politischen Auseinandersetzungen führte.

Else Züblin-Spiller gründete 1914 den Schweizer Verband Soldatenwohl als Non-Profit-Organisation, um die Soldaten mit preiswerter und gesunder Kost zu versorgen und dem verbreiteten Alkoholkonsum etwas entgegenzusetzen. Unter ihrer Leitung entstanden in der Zeit des Ersten Weltkrieges in der Schweiz gegen 700 alkoholfreie Orte ("Soldatenstuben"), wo die Soldaten auch ihre Freizeit verbringen konnten.

Die Kosten der Grenzbesetzung 1914–1918 zur Aufrechterhaltung der bewaffneten Neutralität beliefen sich auf rund 2 Milliarden Franken bei damaligen Bundeseinnahmen zwischen 100 und 200 Millionen[5].

Kriegswirtschaft

Der Krieg brachte für die hochindustrialisierte Schweiz Nahrungsmittel- und Rohstoffmangel und einen Einbruch beim Tourismus. Die Nahrungsmittel- und Energieversorgung der Schweiz hing zu 40 % von Importen ab. Durch Verhandlungen mit den kriegsführenden Parteien konnte eine minimale Versorgung sichergestellt werden. Dazu kam 1915 ein staatliches Getreidemonopol zur besseren Koordination und ab 1917 Rationierungsmassnahmen. Die Erfahrungen mit der Abhängigkeit von Energieimporten (Kohle) führte nach Kriegsende zum Ausbau der Elektrizitätserzeugung mit einheimischer Wasserkraft und zur Elektrifizierung des Eisenbahnnetzes.

Die starke Erhöhung der Ausgaben des Bundes für Landesverteidigung, Rohstoffversorgung und Arbeitslosigkeit unter gleichzeitiger Schrumpfung seiner Haupteinnahmequelle (Zolleinnahmen) stellten für den Bund ein finanzpolitisches Problem dar, auf das er nicht vorbereitet war. Die Schweizerische Nationalbank musste die Finanzierung mittels Diskontierung von Schatzanweisungen des Bundes und Wechseln der Schweizerischen Bundesbahnen vornehmen. Dies führte neben der Angebotsverknappung zu einer inflationären Verdoppelung der Konsumentenpreise bis Kriegsende. 1915 stimmte das Volk für eine einmalige Kriegssteuer ("Wehrsteuer"), als erste direkte Bundessteuer auf Einkommen und Vermögen[6].

Innenpolitische Lage

Die Kriegsbegeisterung in Deutschland und Frankreich schwappte teilweise auch auf die Schweiz über. Da die französische Schweiz mit Frankreich und die deutsche Schweiz mit dem Deutschen Reich sympathisierte, entstand eine Kluft (Le fossé). Im ersten Neutralitätsbericht vom 1. Dezember 1914 hob der Bundesrat auch die traditionellen Beziehungen der Armeeführung zur deutschen Heeresleitung hervor. Es seien im Zusammenhang mit diesem Sprachgruppen-Konflikt bereits zwei Zeitungen verboten und deren fünf verwarnt worden.[7] Die Situation veranlasste Carl Spitteler im Dezember 1914 vor der Helvetischen Gesellschaft den viel beachteten Vortrag Unser Schweizer Standpunkt zur Neutralität der Schweiz zu halten:

Diesen (Stimmungs)-Gegensatz leicht zu nehmen, gelingt mir nicht. Es tröstet mich nicht, dass man mir sagt, im Kriegsfall würden wir trotzdem wie ein Mann zusammenstehen! Dieses trotzdem ist ein schlechtes Bindewort. Sollten wir vielleicht einen Krieg herbeiwünschen, um uns unserer Zusammengehörigkeit deutlicher bewusst zu werden? Das wäre ein etwas teures Lehrgeld

Carl Spitteler[8]

Verschiedene Vorkommnisse im Verlauf des Krieges verschärften die Spannungen zusätzlich: Während die Bevölkerung die Verletzung der Neutralität Belgiens durch das Deutsche Reich verurteilte, hüllte sich der Bundesrat in Schweigen. Zwei Generalstabsoffiziere hatten zudem dem deutschen Militärattaché Informationen des schweizerischen Nachrichtendienstes übergeben, was vor allem in der Westschweiz als Bevorzugung der Zentralmächte gegenüber der Entente reklamiert wurde (Oberstenaffäre von 1915/16). Ein Vermittlungsversuch Bundesrat Arthur Hoffmanns im Krieg an der Ostfront 1917 wurde vor allem im Welschland als Neutralitätsverletzung zugunsten Deutschlands verstanden (Affäre Grimm-Hoffmann).

Soziale Spannungen und Generalstreik

Das soziale Klima verschlechterte sich während des Krieges aus verschiedenen Gründen: Die Verknappung der Lebensmittelimporte, die Rationierung und die massive Teuerung sowie der Lohnausfall während des Aktivdienstes führte in den ärmeren Bevölkerungsschichten zu harten Notlagen. Unwille über Kriegsgewinnler in Industrie und Landwirtschaft und pazifistische Strömungen (Max Daetwyler, Romain Rolland) bei einem Teil der Linken machten sich breit. Gefordert wurden speziell die 48-Stunden-Arbeitszeit und die Proporzwahl zugunsten der Sozialdemokratie für den Nationalrat.

Die Notlage, politische Agitation und sozialistische Revolutionen im Ausland führten 1918 zum Landesstreik, einem Generalstreik, an dem sich vom 11. bis zum 14. November 1918 gegen 250.000 Arbeiter und Gewerkschafter aus der ganzen Schweiz beteiligten. Der eilig aufgebotene militärische Ordnungsdienst führte zu einem raschen Zusammenbruch der Streikbewegung.

Humanitäre Aktionen

 
Zentralauskunftsstelle der Internationalen Agentur für Kriegsgefangene des IKRK (AIPG)

Der Erste Weltkrieg bedeutete für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) eine grosse Herausforderung, die es nur dank der engen Zusammenarbeit mit den nationalen Rotkreuz-Gesellschaften bewältigen konnte. Neben den humanitären Leistungen, bewährte sich insbesondere die im Oktober 1914 eingerichtete Zentralauskunftsstelle für Flüchtlinge, die Ende 1914 bereits 1200 freiwillige Mitarbeiter beschäftigte. Ihre Suchkarteien zählen heute zum Weltdokumentenerbe. Von 1916 bis 1919 war die Zentralstelle im Musée Rath in Genf untergebracht. Diese humanitären Bemühungen wurden international durch die Verleihung des Friedensnobelpreises von 1917 anerkannt. Des Weiteren existierte die «Ermittlungsstelle für Vermisste, Winterthur», die auf Initiative von Julie Bikle entstand.

Der Bundesrat schloss mit Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Österreich-Ungarn und Belgien ein Abkommen, das von 1916 bis zum Kriegsende 68'000 verwundeten und kranken Soldaten beider Seiten eine Erholung in der Schweiz ermöglichte.

Literatur

  • Hans-Rudolf Fuhrer: Die Schweizer Armee im 1. Weltkrieg, Bedrohung, Landesverteidigung und Landesbefestigung. NZZ-Verlag, Zürich 1999/2003, ISBN 978-3-03823-018-2
  • Werner Rutschmann: Gotthard-Befestigung, Planung und Bau 1885–1914. NZZ-Verlag, Zürich 1992, ISBN 3-85823-363-3
  • Hans Rudolf Kurz: Dokumente der Grenzbesetzung 1914–1918. Verlag Ex Libris, Zürich 1970
  • Carl Spitteler: Unser Schweizer Standpunkt. Pro Libro Verlag 2009, ISBN 978-3-9523406-9-1
  • Meinrad Inglin: Schweizer Spiegel. Roman im Rückblick auf das historische Geschehen der Jahre 1912 bis 1918. 2 Bände, Limmat Verlag, Zürich 1987, ISBN 978-3-85791-659-5
Commons: Schweiz im Ersten Weltkrieg – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Neutralitätsrecht (PDF-Datei; 1,86 MB)
  2. Neue Zürcher Zeitung (1. Sept. 2012): Kaiserwetter
  3. Fortifikation Hauenstein: Geschichte
  4. Edgar Bonjour: Geschichte der schweizerischen Neutralität, Band II, 1970
  5. Die Schweiz im Ersten Weltkrieg (PDF-Datei; 6 kB)
  6. Die Bundesfinanzen im Spiegel der Geschichte
  7. Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Verlag NZZ, 2003
  8. Carl Spitteler: Unser Schweizer Standpunkt