Lew Nikolajewitsch Tolstoi

russischer Schriftsteller
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 22. April 2004 um 16:54 Uhr durch Karl-Henner (Diskussion | Beiträge). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Leo (Lew) Nikolajewitsch Graf Tolstoi (* 28. August/7. September 1828 in Jasnaja Poljana bei Moskau; † 7./20. November 1910 in Astapowo) war ein russischer Schriftsteller. Sein Hauptwerk Krieg und Frieden hatte entscheidenden Einfluss auf die Literaturgattung des historischen Romans.

Leben

Kindheit und Jugend

Tolstoi entstammte einem alten russischen Adelsgeschlecht. Seine Kindheit in dieser reichen Oberschicht beschrieb er in der Romantrilogie Kindheit – Knabenalter – Jünglingsjahre zwischen 1852 und 1857. Nach dem er mit neun Jahren Vollwaise wurde, übernahm die Schwester seines Vaters die Vormundschaft. An der Universität Kasan begann er 1844 das Studium orientalischer Sprachen. Nach einem Wechsel zur juristischen Fakultät brach er das Studium 1847 ab um zu versuchen, die Lage der 350 geerbten Leibeigenen im Stammgut der Familie in Jasnaja Poljana mit Landreformen zu verbessern (Der Morgen eines Gutsbesitzers).

Militärdienst

Von 1851 an erlebte er im Militär als Feuerwerker einer Artilleriebrigade die Kämpfe im Kaukasus. Seine Erfahrungen mit jenen, die den Krieg führen müssen, beeinflussten seine frühen Kaukasus-Erzählungen (Der Holzschlag, Der Überfall). Nach Ausbruch des Krimkriegs erlebte er 1854 den Stellungskrieg in der belagerten Festung Sewastopol. Die realistischen Berichte aus diesem Krieg (1855: Sewastopoler Erzählungen) machten ihn als Schriftsteller früh bekannt.

Pädagogische Reformbestrebungen

Aus pädagogischem Interesse bereiste er 1857 und 1860/61 westeuropäische Länder. Er besuchte Künstler (Charles Dickens, Iwan Turgenjew) und Pädagogen (Friedrich Fröbel, Adolf Diesterweg). Nach der Rückkehr verstärkte er die reformpädagogischen Bestrebungen und richtet Dorfschulen nach dem Vorbild Rousseaus ein. Seit 1855 lebte er abwechselnd auf dem Gut Jasnaja Poljana, in Moskau und in St. Petersburg. Einer dort am Zarenhof lebenden Verwandten (A. A. Tolstaja) schrieb er:

Wenn ich eine Schule betrete und diese Menge zerlumpter, schmutziger, ausgemergelter Kinder mit ihren leuchtenden Augen ... sehe, befällt mich Unruhe und Entsetzen, ähnlich wie ich es mehrmals beim Anblick Ertrinkender empfand. Großer Gott -- wie kann ich sie nur herausziehen? wen zuerst, wen später? ... Ich will Bildung für das Volk einzig und allein, um die dort ertrinkenden Puschkins, ...Lomonossows zu retten. Und es wimmelt von ihnen an jeder Schule.

Er strebte dabei nicht vorrangig Auslese an, sondern eine den verschiedenen kindlichen Persönlichkeiten angepasste Bildung. Nachdem die Schule durch die zaristische Verwaltung geschlossen wurde, verfolgte Tolstoi die pädagogischen Ziele weiter. Er schrieb Lesebücher, welche Erzählungen zu Geschichte, Physik, Biologie und Religion enthielten, um Kindern moralische und soziale Werte zu vermitteln. Generationen russischer Kinder erhielten bis in die zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts mit seinem Alphabet die Grundschulbildung. [1]

Im Jahre 1862 heiratete Tolstoi die achtzehnjährige deutschstämmige Sofia Andrejewna Bers (1844 - 1919). In den folgenden Jahren seiner Ehe schrieb er den monumentalen historischen Roman Krieg und Frieden sowie Anna Karenina. Beide Romane begründeten Tolstois literarischen Weltruhm. In seinem Tagebuch hatte er Mitte der 1850er Jahre notiert: Es gibt etwas, was ich mehr als das Gute liebe: Ruhm.

Die Zeit des inneren Umbruchs

Mit dieser großen Anerkennung begann für Tolstoi eine Phase der Orientierungslosigkeit. Er fühlte sich "am Abgrund angelangt". In dieser Zeitspanne (1884) entstanden die Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen. Als Beteiligter an der Volkszählung im Jahr 1882 in Moskau nahm er ein Elend unter den Arbeitern wahr, welches die Armut der Bauern noch übertraf. Tief erschüttert versuchte er der Stadtflucht entgegenzuwirken, indem er Hilfe für von Missernten betroffene Bauern organisierte. Seine Sinnsuche erstreckte sich auf immer weitere Bereiche. So verzichtete er auf Rauchen, Alkohol und die Jagd ("Grausame Vergnügungen"), setzte sich wiederholt und oft erfolgreich für politisch und religiös Verfolgte ein, besuchte wegen Kriegsdienstverweigerung Inhaftierte im Gefängnis und blieb als Autor weiterhin produktiv, unterstützt von seiner Frau, die allein die 1400 Seiten von Krieg und Frieden sieben Mal abgeschrieben haben soll. In der Erzählung Der Leinwandmesser verspottete er aus der Sicht eines Pferdes menschliches Besitzstreben:

Es gibt Menschen, die ein Stück Land Mein nennen, und dieses Land nie gesehen und betreten haben. Die Menschen trachten im Leben nicht danach zu tun, was sie für gut halten, sondern danach, möglichst viele Dinge Mein zu nennen.

In Was sollen wir denn tun beschrieb er 1886 die politischen, juristischen und wirtschaftlichen Machtmechanismen und appellierte an seine Leser, sich selbst der Machtausübung - sei es als Polizist, Soldat oder Parlamentarier - zu verweigern. Erstrebenswert sei es, des staatlichen Schutzes in Form der geteilten Gewalt erst gar nicht zu bedürfen und folglich, so weit es dem Einzelnen möglich ist, möglichst wenig private Güter zu besitzen. Konsequenterweise übertrug er die Verwertungsrechte der vor seiner ""zweiten Geburt" 1881 entstanden Werke seiner Familie, um die späteren Veröffentlichungen frei von Urheberrechten zu stellen. Lediglich den dritten großen, 1899 erschienenen Roman Auferstehung verkaufte er, um die Auswanderung einer verfolgten Glaubensgemeinschaft zu unterstützen.

Seit 1881 hatte er sich intensiv religiösen Fragen zugewandt. In einer Reihe von Gesprächen mit führenden Geistlichen wie dem Metropolit von Moskau sowie auf Reisen zu verschiedenen Kirchen und Klöstern entwickelte er eine Abneigung gegenüber der ihm begegnenden rituellen Form der Religiosität. Dieser und auch der in westlichen Kirchen praktizierten, den Kriegsdienst bejahenden Glaubensausübung stellte er die schlichten Lehren Jesu gegenüber. Hierzu übersetzte er die Evangelien erneut ins Russische. Als Kern betonte er hierbei die Nächstenliebe sowie den Appell, dem Bösen nicht mit Gewalt zu widerstehen:

Man verwechselt das Wort "Widerstehe nicht dem Bösen durch Böses" ... mit dem Wort "Widerstehe nicht dem Bösen", das heißt, "sei gleichgültig dem Bösen gegenüber". ... Während der Kampf gegen das Böse das einzige Ziel des Christentums ist, ist das Gebot vom Nichtwiderstehen dessen wirksamstes Kampfmittel.

Die Verbreitung seiner Anschauungen (Kirche und Staat, Was darf ein Christ und was nicht? ) zog den Widerstand politischer und kirchlicher Einrichtungen nach sich. Tolstoi war in seinen letzten Lebensjahrzehnten weltweit einer der meistgelesenen Autoren. Er stand mit vielen Lesern in brieflichem Kontakt, darunter etwa 2000 aus Deutschland. In vielen Ländern schlossen sich Anhänger zu Gemeinschaften zusammen. Gandhi schrieb ihm aus Südafrika von seinem ersten Ashram namens Tolstoi-Farm.

Die Zeit der äußeren Konflikte

Der Achtung im Ausland folgte eine Ächtung im Inland. Seit 1882 unterstand er polizeilicher Überwachung. Meine Beichte sowie Worin mein Glaube besteht wurden mit dem Erscheinen sofort verboten. Über Tolstoi wurde das Gerücht verbreitet, er sei geistesgestört. Als Tolstoi angesichts der Verfolgung seiner Anhänger seine Verantwortung als Urheber betonte, antwortete man: Herr Graf! Ihr Ruhm ist zu groß, als dass unsere Gefängnisse ihn unterbringen könnten! Die Veröffentlichung des Romans Auferstehung führte dazu, dass ihn der Heilige Synod im Februar 1901 exkommunizierte, da er - unter anderem

  • "den als Dreieinigkeit gepriesenen Gott leugne";
  • "den von den Toten auferstandenen Gottmenschen Christus leugne";
  • "die Jungfräulichkeit Marias vor und nach Christi Geburt leugne";
  • "das Geheimnis des Abendmahls lästere"; (Tolstoi verneinte Wunder an sich und insbesondere die Verwandlung der Hostie in den Körper Jesu). Als der Synod die Vorwürfe in den großen Zeitungen veröffentlichte, antwortete Tolstoi:
Wie immer man die Person Christi auffassen mag, seine Lehre jedenfalls, die das Böse der Welt zunichte macht und dem Menschen so einfach, so leicht und unzweifelhaft Glück gewährt, so er sie nicht entstellt - diese Lehre ist ganz und gar verschwunden, ist verfälscht zu plumpem Hokuspokus mit Waschungen, Ölungen, Körperbewegungen, Beschwörungen, dem Verschlucken von Brotstückchen und dergleichen, und von der Lehre selbst bleibt nichts übrig. Versucht aber einmal jemand, die Menschen daran zu erinnern, dass die Lehre Christi nicht in solchen Zauberbräuchen, in Bitt- und Dankgottesdiensten, in Messen, Kerzen und Ikonen besteht, sondern darin, dass die Menschen einander lieben, Böses nicht mit Bösem vergelten, einander nicht verurteilen und töten, dann erheben alle, welchen dieser Schwindel Nutzen bringt, ein empörtes Geschrei und erklären in den Kirchen, in Büchern, Zeitungen und Katechismen lauthals und mit unfassbarer Dreistigkeit, Christus habe das Schwören nie verboten, habe den Mord (Hinrichtungen, Kriege) nie verboten und die Lehre vom Verzicht auf Widerstand gegen das Böse sei mit teuflischer List von Christi Feinden ersonnen. (Tolstoi zitiert Ambrosius, den Bischof von Charkiw)
Von Christus, der Ochsen, Schafe und Händler aus dem Tempel jagte, musste man behaupten, er lästert Gott. Käme er heute zu uns und sähe, was in seinem Namen in der Kirche geschieht, er würde gewiss mit noch größerem und noch gerechterem Zorn all die schrecklichen Messtücher, Spieße, Kreuze, Kelche, Kerzen, Ikonen und alles andere hinauswerfen, womit sie ihren Hokuspokus treiben mit Gott und seine Lehre vor den Menschen verbergen.

Dem fügten sich weitere Auseinandersetzungen hinzu: Mehrere Werke ab dem Jahr 1898 hatten die Frage Was ist Kunst? zum Inhalt. Tolstois leidenschaftliche Art der Kritik wirkte auf viele Zeitgenossen tief verletzend. So begründet er 1903 im Aufsatz Shakespeare, warum dieser kein Künstler sei - wobei er gerade dessen Werke drei Jahrzehnte früher als Vorbild für eigene Vorhaben betrachtete.

Tolstoi entzog sich der Zusammenarbeit mit verschiedenen Bewegungen, die er beeinflusste. Für den 1909 in Stockholm geplanten Weltfriedenskongress erklärte er sich bereit, ein Manuskript zu schreiben. Dieses entsprach allerdings nicht den Erwartungen der Veranstalter. Der Kongress wurde abgesagt. Bereits am 28.8.1901 hatte Tolstoi an Bertha von Suttner geschrieben:

Wenn nur ein weniges von dem Eifer, der derzeit auf Artikel und schöne Reden auf Friedenskonferenzen und in Friedensgesellschaften verwandt wird, in den Schulen und unter dem Volk dafür eingesetzt würde, die falsche Religion auszumerzen und die wahre zu verbreiten - so würden die Kriege bald unmöglich sein...

In ähnlicher Weise lehnte er anarchistische und sozialistische Bestrebungen ab. So bemerkt er in seinem Tagebuch am 3.8.1898: Selbst wenn einträte, was Marx voraussagt, bedeutet das nur, dass sich der Despotismus verlagert. Bislang haben die Kapitalisten geherrscht, dann würden Arbeiterfunktionäre herrschen. Dabei galt Tolstois Werk als mit wegbereitend für die Revolution von 1905. Sein Freund Stassow schrieb ihm am 18.9.1906: "Ist die ganze gegenwärtige russische Revolution nicht etwa aus Ihrem feuerspeienden Vesuv hervorgeschossen?"

Neben staatlichen Willkürmaßnahmen wie der Hausdurchsuchung 1908, bei der alle auffindbaren Texte konfisziert werden, verschärfen sich auch familiäre Konflikte. Da seine Frau den Verzicht auf gemeinsame Besitztümer ablehnte, verließ Leo Tolstoi mit seinem Arzt und seiner jüngsten Tochter die Familie zu einer letzten, spektakulären Reise in Richtung Süden. Unterwegs starb er nach einer Lungenentzündung am 7. November 1910 im Bahnwärterhäuschen von Astapovo (Tambow) - umlagert von der Weltpresse. Zwei Tage später wurde er in Jasnaja Poljana begraben.

Mit Beginn des Ersten Weltkrieges wurden viele seiner Schriften in Deutschland verboten, ähnlich wie in Russland, wo seit seiner Beichte alle religiösen und sozialkritischen Werke nur illegal Verbreitung fanden. Mohandas Gandhi, welcher Indien gewaltlos zur Unabhängigkeit führte, schrieb: "Tolstois Das Reich Gottes ist inwendig in Euch überwältigte mich. Ich studierte intensiv Bücher Tolstois. Die kurze Darlegung der Evangelien, Was sollen wir denn tun? und andere Bücher machten tiefen Eindruck auf mich. Mehr und mehr begann ich, die unbegrenzten Möglichkeiten universaler Liebe zu erfassen. Ich hatte für mich den Teil des Werkes Tolstois entdeckt, der heute fast völlig vergessen ist und vom Büchermarkt nahezu völlig verschwand.

Werke

  • Kindheit (1852)
  • Knabenalter (1854)
  • Sewastopol (1855/56)
  • Der Morgen eines Gutsbesitzers (1856)
  • Luzern (1857)
  • Jünglingsjahre (1857)
  • Drei Tode (1859)
  • Eheglück (1859)
  • Polikuschka (1861)
  • Die Kosaken (1863)
  • Krieg und Frieden (1868)
  • Anna Karenina (1877)
  • Kritik der dogmatischen Religion (1881)
  • Meine Beichte (1882)
  • Übersetzung der vier Evangelien (1883)
  • Worin mein Glaube besteht (1883)
  • Der Leinwandmesser (1885)
  • Die beiden Alten (1885)
  • Wie viel Erde braucht der Mensch
  • Der Tod des Iwan Iljitsch (1886)
  • Die Macht der Finsternis (1886)
  • Volkserzählungen (1881 -- 1886)
  • Das Leben (1887)
  • Die Kreutzersonate (1889)
  • Der Teufel (1889)
  • Das Himmelreich in euch (1893)
  • Grausame Vergnügungen (1895)
  • Herr und Knecht (1895)
  • Was ist Kunst? (1898)
  • Auferstehung (1899)
  • Vater Sergius (1899)
  • Krieg und Revolution (1904)
  • Für alle Tage (1904)
  • Das große Verbrechen (1905)
  • Das Ende einer Welt (1906)
  • Der lebende Leichnam (postum 1913)

Literatur


Anmerkung: Geburts- und Sterbedatum wurden gemäß Julianischen Kalender, der bis zur Oktoberrevolution 1917 in Russland galt, und (an zweiter Stelle) nach dem Gregorianischen Kalender, der heute gilt, angegeben.