Mrs. Dalloway ist Virginia Woolfs vierter Roman und ihr zweiter „experimenteller“, mit dem sie sich neue Darstellungsformen im Roman eroberte.
Inhalt
Der Roman handelt von den Gedanken und sparsamen Handlungen eines kleinen Kreises von Personen in London im Verlauf eines Junimittwochs im Jahre 1923. Im Mittelpunkt stehen einerseits Clarissa Dalloway, ihre Bekannten und deren Dienstboten, andererseits der durch seine Kriegserlebnisse emotional erstarrte Septimus Warren Smith, seine Frau und schließlich ein Nervenarzt, der am Ende des Tages die beiden Personenkreise verbindet.
Der Roman beginnt mit Clarissa Dalloways morgendlichem Blumenkauf in der Bond-Street, einem geheimnisvollen Auto mit Fehlzündung und einem Flugzeug, das das Wort Toffee in den Himmel schreibt – also mit äußeren Ereignissen, die den Eintritt in die verschiedenen inneren Welten der Figuren bilden. Der Erzähler bewegt sich fließend zwischen der Wahrnehmung der äußeren Begebenheiten durch die Figuren und den sich daran anknüpfenden Assoziationen und Erinnerungen. Die äußeren Begebenheiten sind gleichsam die Orte, an denen die Perspektivenwechsel zwischen den Figuren stattfinden. Entlang der von den Glocken Big Bens geordneten Stunden dieses Tages werden unter anderem Spaziergänge durch Westminster, das Flicken eines Abendkleides, der Entwurf eines Leserbriefes an die Times beim Lunch, eine Fahrt auf dem Oberdeck eines Busses oder die Rückkehr eines vor 5 Jahren in den indischen Kolonialdienst eingetretenen Freundes von Clarissa Dalloway und ihre abschließende Abendgesellschaft beschrieben, die auch der Premierminister besucht.
Themen und Motive
So alltäglich die sichtbaren äußeren Ereignisse meist auch sind, so grundsätzlich sind die sich hieran entzündenden Assoziationen, Fragen und Ängste, die gegenseitigen Wert- und Geringschätzungen der Figuren. Die Gedanken auch der Randfiguren zeichnen ein spannungsreiches Kaleidoskop der britischen Gesellschaft nach dem 1. Weltkrieg: lesbische und eheliche Liebe, Karrieren und ihr Scheitern, die allmähliche Emanzipation der Frauen, die Wahnvorstellungen eines Heimkehrers von den Weltkriegs-Schlachtfeldern des Kontinents, das Elend der Psychiater, Wohlstand und Armut, das Leben im Herzen und am Rande des britischen Empires, die kritischen Blicke der Dienstboten auf ihre Herrschaften, gesellschaftliche Erstarrung und Auswanderung zu einem neuen Aufbruch nach Kanada …
Auch das Denken der Hauptfigur, Clarissa Dalloway, das stets um ihre Abendgesellschaften kreist, stößt in seinen mäandernden Gedanken auf den frühen tödlichen Unfall der Schwester Clarissas, auf ihre eigene Oberflächlichkeit, ihren sicheren physischen und möglichen gesellschaftlichen Tod. Auf den letzten Seiten des Romans wird Clarissa während ihrer Abendgesellschaft durch die Nachricht vom Selbstmord des jungen Kriegsheimkehrers erschüttert: „Sie war davongekommen. Aber dieser junge Mann hatte sich umgebracht." Die beiden bisher dicht nebeneinander verlaufenden Erzählstränge und Schicksalsmöglichkeiten berühren sich hier im Ende. Die von der Autorin versammelten Charaktere spüren eine neue Verletzlichkeit und Unsicherheit - England im Wandel: „Aber war das Lady Bruton? (die sie doch gekannt hatte). War das Peter Walsh, grau geworden? fragte sich Lady Rosseter (die einmal Sally Seton gewesen war)."
Bedeutung und Wirkung
Das Besondere an diesem Werk ist die Art und Weise, wie die inneren, psychischen Prozesse aus den äußeren, sichtbaren Ereignissen herausgeschält werden. Der Erzähler tritt hinter die ihre Gedanken fortspinnenden Charaktere zurück: Durch eine Kombination von direkter, indirekter und erlebter Rede mit kurzen Passagen innerer Monologe wird eine ungewohnte Präsenz der Analyse psychischer Realitäten erreicht. Indem die Figuren im zeitweiligen Mittelpunkt den Staffelstab der Erzählung an die nächsten weiterreichen, entwickelt sich der Roman mehr wie ein Gedanken- als ein Handlungsgeflecht - er wird an einigen Stellen so sehr zu einer Gedankenerzählung, dass die Figuren nicht erst auf äußere Handlungen reagieren, sondern schon auf die Bewusstseinsinhalte ihrer Gegenüber. Das Interessante des Romans ist dieser Bewusstseinsstrom der Figuren, kurz vorher auch von James Joyce in seinem Roman Ulysses angewendet. Damit hat Virginia Woolf einen ihrer wichtigsten Beiträge zur Entwicklung des Romans im 20. Jahrhundert geleistet.
Mrs. Dalloway bildete u. a. die Grundlage für den Roman Die Stunden ("The Hours") von Michael Cunningham, der 1999 den Pulitzer-Preis erhielt.
Literatur
Virginia Woolf, Mrs Dalloway. Deutsch von Walter Boehlich, S.Fischer: Frankfurt 1997
Mark Hussey, Virginia Woolf A to Z, New York 1995