Die Spiegel-Affäre 1962 war eine politische Affäre in der Bundesrepublik Deutschland, bei der sich Mitarbeiter des Nachrichtenmagazins Der Spiegel auf Grund eines kritischen Artikels der Strafverfolgung wegen angeblichen Landesverrats ausgesetzt sahen. Es war das erste Ereignis in der Nachkriegsgeschichte, zu dem die westdeutsche Öffentlichkeit spontan und engagiert politisch Stellung nahm, weil sie darin einen Versuch sah, ein missliebiges Magazin zum Schweigen zu bringen. Im Jahr 2012 wurde bekannt, dass der BND jahrelang die Redaktion bespitzelte und zu manipulieren versuchte.[1]
Der Ausgang der Affäre, in deren Verlauf die Bundesregierung umgebildet werden musste, wird heute als Stärkung der Pressefreiheit in Deutschland angesehen.
Ablauf
In der Spiegel-Ausgabe 41/1962 vom 8. Oktober (Chronik zur SPIEGEL-Affäre in SPIEGEL-Beilage vom 1. Oktober 2012) erschien unter dem Titel Bedingt abwehrbereit ein von Conrad Ahlers verfasster Artikel, der, unter anderem gestützt auf Resultate des NATO-Manövers Fallex 62, das Verteidigungskonzept der Bundeswehr unter Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß in Frage stellte: Die Bundeswehr sei aufgrund ihrer Ausstattung zu einer konventionellen Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland gegen einen potentiellen Angriff des Warschauer Pakts nicht fähig; ein Angriff ließe sich nur mithilfe des Einsatzes westlicher Atomraketen abwehren (siehe auch Kampf dem Atomtod und Nukleare Teilhabe).
Bundesanwalt Albin Kuhn vermutete am 8. Oktober 1962 Landesverrat und bat das Verteidigungsministerium um ein Gutachten (Chronik der SPIEGEL-Affäre in SPIEGEL-Beilage vom 1. Dezember 2012 Seite 8). Der Würzburger Staatsrechtler und damalige Oberst der Reserve Friedrich August Freiherr von der Heydte erstattete am 11. Oktober Anzeige wegen Landesverrates gegen die Redaktion des Spiegel. Nach Einholen eines Gutachtens[2] beim Bundesverteidigungsministerium durch die Bundesanwaltschaft – die Ermittlungen leitete Siegfried Buback – erließ der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof am 23. Oktober die gewünschten Haftbefehle und Durchsuchungsanordnungen. Die Haftbefehle betrafen mehrere Spiegel-Redakteure (darunter Conrad Ahlers, Claus Jacobi und Johannes K. Engel) sowie den Herausgeber und Chefredakteur Rudolf Augstein.[3]
Am Abend des 26. Oktober (es war ein Freitag) begann dann die Besetzung und Durchsuchung der Spiegel-Räume im Hamburger Pressehaus, später auch des Redaktionsbüros in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn, durch die Polizei. Der damalige Hamburger Innensenator Helmut Schmidt (später Bundeskanzler) wurde gegen 20:30 Uhr informiert, dass eine Aktion gegen den SPIEGEL begonnen hatte. Schmidt machte sofort „schwere politische Bedenken“ geltend und sah in dieser Aktion „eine außerordentliche Belastung der Debatten um die Notstandsgesetzgebung“; gleichwohl wies er den Hamburger Kriminaldirektor Dr. Land an, die vom Bundesinnenministerium erbetene Amtshilfe zu gewähren.[3]
Noch in der Nacht wurde Conrad Ahlers, zusammen mit seiner Frau in Torremolinos im Urlaub, von der spanischen Polizei verhaftet; dass Strauß dies über den Madrider Militärattaché Achim Oster im von Diktator Franco regierten Spanien veranlasst hatte,[4] erregte bei der Opposition besondere Empörung. Zwei Tage später, am Sonntag dem 28. Oktober, stellte sich Rudolf Augstein der Polizei und wurde in Untersuchungshaft genommen.
Diese Polizeimaßnahmen führten in Teilen der Bevölkerung, insbesondere von Studenten, sowie bei der übrigen Presse, die sie als Angriff auf die Pressefreiheit kritisierte, zu Protesten. Da die Besetzung der Redaktionsräume des Spiegel wochenlang anhielt, ermöglichte neben den ebenfalls im Pressehaus untergebrachten Zeit, Stern und Morgenpost auch die Springer-Presse den Spiegel-Redakteuren die Nutzung von Räumen und Ressourcen, so dass das Magazin weiterhin erscheinen konnte.
Während einer tumultartigen Fragestunde vor dem Bundestag[5] verteidigte Bundeskanzler Adenauer (CDU) am 7. November die Maßnahmen dagegen mit den Worten „Wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande“ .... (Gemurmel im Saal, Zwischenruf: „Wer sagt das?“) „Ich sage das!“[6]
Teile der Öffentlichkeit sahen in der Aktion einen Angriff auf die Pressefreiheit und reagierten mit einer Vielzahl von Resolutionen, Eingaben, Demonstrationen und Leitartikeln.
Im Laufe des November weitete sich die Spiegel-Affäre zu einer Regierungskrise innerhalb des Kabinetts Adenauer (Union und FDP). Verteidigungsminister Strauß (CSU) hatte zunächst beteuert, mit der ganzen Aktion nichts zu tun zu haben, geriet aber im Laufe der Zeit immer stärker in Verdacht, im Detail über die Aktionen informiert gewesen zu sein und sie auch selbst vorangetrieben zu haben. Die FDP war darüber erbost, dass der der FDP angehörende Justizminister Wolfgang Stammberger im Vorfeld der Aktion nicht informiert worden war – auch hierfür trug Strauß die Verantwortung: Er hatte es dem Staatssekretär im Justizministerium, Walter Strauß, untersagt, Stammberger zu informieren. Am 19. November erklärten alle fünf FDP-Minister ihren Rücktritt aus Protest gegen den Verteidigungsminister Strauß. Am 30. November erklärte dieser schließlich seinen Verzicht auf das Amt des Verteidigungsministers, woraufhin es Mitte Dezember zur Bildung der fünften – und letzten – Regierung Adenauer kam.
Die verhafteten Spiegel-Redakteure wurden nach und nach aus der Untersuchungshaft entlassen, zuletzt auch Rudolf Augstein nach 103 Tagen.
Am 13. Mai 1965 entschied der dritte Strafsenat des Bundesgerichtshofs unter Vorsitz von Kurt Weber, dass keine Beweise vorlägen, die einen wissentlichen Verrat von Staatsgeheimnissen durch Conrad Ahlers und Rudolf Augstein belegen würden. Somit wurde kein Hauptverfahren eröffnet und die „Spiegel-Affäre“ offiziell beendet.
In der öffentlichen Meinung wurde ein erhebliches Misstrauen gegen das fragwürdige Zusammenspiel von Regierung und Justiz artikuliert; auch wurde an Ereignisse der deutschen Geschichte erinnert, die als vergleichbar gravierend angesehen wurden. Von der Presse und von namhaften Juristen wurden Parallelen zum Weltbühne-Prozess gezogen. So veröffentlichte BGH-Senatspräsident Heinrich Jagusch den vielbeachteten Artikel Droht ein neuer Ossietzky-Fall?.[7] Die Erinnerung an den Weltbühne-Prozess trug dazu bei, dass die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik in diesem Fall einen ähnlich gelagerten Eingriff in die Pressefreiheit nicht hinnehmen wollte.
Im Januar 1966 wollte der Spiegel-Verlag durch das Bundesverfassungsgericht feststellen lassen, dass die Durchsuchungsanordnung und Beschlagnahme gegen die Pressefreiheit verstoßen habe. Bei Stimmengleichheit der Verfassungsrichter wurde die Verfassungsbeschwerde abgewiesen (Spiegel-Urteil).
Literatur
- David Schoenbaum: Die Affäre um den Spiegel – Ein Abgrund von Landesverrat. ISBN 3-932529-53-7
- Joachim Schöps (Hrsg.): Die Spiegel-Affäre des Franz Josef Strauß. Rowohlt, Reinbek 1983, ISBN 3-499-33040-7.
- Alfred Grosser, Thomas Ellwein, Jürgen Seifert (Hrsg.): Die Spiegel-Affäre. Die Staatsmacht und ihre Kontrolle, Walter-Verlag, 1966, DNB 458187321
- Alfred Grosser, Thomas Ellwein, Jürgen Seifert (Hrsg.): Die Spiegel-Affäre. Die Reaktion der Öffentlichkeit, Walter-Verlag, 1966, DNB 458187348
- Martin Doerry (Hrsg.), Hauke Janssen (Hrsg.): Die Spiegel-Affäre: Ein Skandal und seine Folgen. DVA, 2013, ISBN 978-3-421-04604-8.
- Spiegel 38/2012 Titelgeschichte: Ein Abgrund von Lüge, S. 64–85
Verfilmung
Unter dem Titel Die Spiegel-Affäre lässt die ARD die Spiegel-Affäre für das Fernsehen verfilmen.[8] Die Dreharbeiten fanden im April und Mai 2013 u. a. in Berlin und Hamburg statt.[9] Produziert wird der Film von Sperl Film und Wiedemann & Berg Television für den BR, WDR und ARD Degeto.[10] Die Erstausstrahlung ist für 2014 im Ersten geplant.
Das Drehbuch stammt von Johannes W. Betz, Regie führt Roland Suso Richter, die Hauptrollen spielen Francis Fulton-Smith (Franz Josef Strauß), Sebastian Rudolph (Rudolf Augstein) und David Rott (Conrad Ahlers).
Dokumentation
- Grit Fischer, Maik Gizinski: Wegelagerer und Wichtigtuer: Wie die „Spiegel-Affäre“ die Republik veränderte. NDR, 2012 (Online-Video, 44 Minuten)
Weblinks
- 50 Jahre „SPIEGEL-Affäre“ multimedial: Ausführliche Dokumentationen der Ereignisse und den nachhaltigen Wirkungen der Affäre bis heute; ABC der Akteure, die Affäre in Bildern, Landkarte des Protests und Videointerviews mit Zeitzeugen
- Bedingt abwehrbereit. In: Der Spiegel. Nr. 41, 1962, S. 32–53 (online).
- Text der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1966
- Rudolf Augstein: Wie es zur SPIEGEL-Affäre kam. In: Der Spiegel. Nr. 33, 1966, S. 21–29 (online).
- Theo Sommer: „Bald wird etwas passieren!“ und „Augstein raus und Strauß hinein!“ Ein als persönliche Chronik in zwei Folgen bezeichneter Rückblick auf die Spiegel-Affäre anlässlich des 40. Jahrestages in Zeit 43/2002 und 44/2002
- Dieter Wild: 50 Jahre Spiegel-Affäre: Der Tag, an dem die Republik erwachte. Süddeutsche Zeitung vom 22. September 2012, V2, S. 4-5)
- Ein abgekartetes Spiel von Landesverrat? Die Spiegel-Affäre in Originaltönen (MP3; 53,1 MB) Sendung des Bayerischen Rundfunks (Nachtstudio) vom 2. Oktober 2012
Einzelnachweise
- ↑ Unrühmliche Rolle
- ↑ Gutachten: Verdacht des Landesverrats durch die an dem Artikel "Bundeswehr" der Nr. 41/62 der Wochenzeitschrift "Der Spiegel" beteiligten Redakteure u.A. (PDF; 2,3 MB) Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, 18. Oktober 1962, abgerufen am 25. März 2012.
- ↑ a b spiegel.de: Sie kamen in der Nacht
- ↑ Georg Gruber: Kampf um die Pressefreiheit - Die Spiegel-Affäre 1962. Deutschlandradio Berlin 25. Oktober 2002
- ↑ Volker M. Schütterle: Die Spiegel-Affäre im Deutschen Bundestag, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, 7. November 2012
- ↑ Rudolf Berg: Grundkurs Geschichte 13. 1. Auflage. Cornelsen-Verlag, Berlin 1994, S. 149
- ↑ Judex: DROHT EIN NEUER OSSIETZKY-FALL? In: Der Spiegel. Nr. 45, 1964, S. 34–38 (online).
- ↑ DWDL.de: Die ARD lässt die "Spiegel-Affäre" verfilmen, abgerufen am 30. Juli 2013.
- ↑ Bayerischer Rundfunk: Die Spiegel-Affäre, abgerufen am 30. Juli 2013.
- ↑ Wiedemann & Berg Television: Die Spiegel Affäre, abgerufen am 30. Juli 2013.