Einleitung
Das am 29. Mai 1923 uraufgeführte Ballett „Le Sacre du Printemps“ von Igor Strawinsky löste beim Premierenpublikum heftige Reaktionen aus. Um die Ursachen hierfür aufzudecken, möchte ich zunächst den Inhalt darstellen. Es gibt zahlreiche Metaphern, die eine bestimmte Vorstellung von der Haltung zur Gesellschaft tragen. Zunächst einmal bildet der primitivistische Hintergrund des Stückes Basis für alle weiteren Metaphern auf inhaltlicher Ebene. Doch allein schon diese Basis ist weit von dem entfernt, was die Ideologie des Bürgertums Anfang des 20. Jahrhunderts ausmacht: Im hoch zivilisierten Paris bleibt nicht viel Verständnis für „Wilde“ die Naturgötter verehren. Und schon diese Verehrung offenbart eine Denkrichtung, die für die „aufgeklärten“ Bürger der Weltstadt als hoffnungslos überholt galt: Gott als personifizierte Übermacht, und ein ganzer Haufen von Göttern macht die Sache nicht besser. Die Verherrlichung einer Macht, gegen die die Menschen, insbesondere der einzelne Mensch, das Subjekt, nichts auszurichten vermag, spiegelt sich auch in folgender Bemerkung Strawinskys über das, was er in Russland am meisten geliebt habe, wieder: „Den heftigen russischen Frühling, er schien in einer Stunde zu beginnen und die ganze Erde schien mit ihm aufzubrechen.“.
Unterwerfung des Subjekts?
Ein weiteres Motiv, das eine Unterwerfung des Subjekts zum Ausdruck bringt, ist der Vollzug von Ritualen. Rituale gelten als unhinterfragt, von der Gesellschaft auferlegt und als von jedem Einzelnen unreflektiert zu beflogen. Das Subjekt wird also zu dem gemacht, was es im eigentlichen Sinn des Wortes immer gewesen ist: Zum Unterworfenem. Am stärksten zeigt sich dies in der Opferung des jungen Mädchens, mit der diverse Fruchtbarkeitsgötter zu ihrem Segen über die nächste Ernte bewegt werden sollen: Die Einzelne opfert sich – ob sie nun will oder nicht bleibt dahingestellt – für das Wohl der Gemeinschaft. Was hier auf inhaltlicher Ebene dargestellt wird, sind im Grunde vorbarocke Formen: Die Unterwerfung des Einzelnen wird gefeiert, dennoch fehlt die für den Barock typische Künstlichkeit. So wird die Unterwürfigkeit als ursprünglich und natürlich dargestellt und als solche gepriesen.
Musikalische Aspekte
Bleibt im nächsten Schritt zu untersuchen, ob sich dies auch in der Musik wieder finden lässt. Beim ersten Hören sind die Klänge natürlich ungewohnt, nimmt man das romantische Schönheitsideal zum Maßstab. Bei harmonischer Analyse der Klänge erkennen wir aber an vielen Stellen, dass Strawinsky lediglich zwei klassische, aber auf dem Quintenzirkel weit voneinander entfernte Akkorde ineinander verschachtelt, um so einen dissonanten Klang zu erzeugen. Kadenzen gibt es allerdings nicht; die Harmonien stehen in keinem spannungsbezogenen Verhältnis zueinander. Auf rhythmischer Ebene stellen wir fest, dass er „immer noch“ klare, in einfachen Zahlen auszudrückende Gliederungen benutzt hat, obgleich auch des Öfteren bewusst gegen den Takt und in unregelmäßigen Abständen betont wird. Diese Unregelmäßigkeit zeigt sich auch bei den häufigen melodischen „Einwürfen“, die nicht selten auf Triolen aufbauen und somit rhythmisch nicht mit dem Rest des Taktes harmonieren. Melodisch betrachtet ergibt sich ein ähnliches Bild: Die meisten Stücke sind auf nur wenigen Phrasen aufgebaut, die zu unvorhersehbaren Zeiten wiederkehren; eine durchgängige Melodie gibt es aber nicht. Dies zusammenfassend lässt sich der Verlauf des „Sacre“ mit einem Wort treffend beschreiben: überraschend. Die Mittel, der sich Strawinsky bedient, um seine Stücke zu schreiben, sind seit der Einführung des tonalen Systems gebräuchlich. Die Komposition dieser Mittel ist allerdings neu und anscheinend an kein System gebunden. Versucht Strawinsky also, etwas Altes und Abgedroschenes als etwas Neues zu präsentieren?
Theodor W. Adorno dazu:
Adorno bezeichnet Strawinskys Musik als „infantilistisch“, als eine „permanente Regression“, spricht von „Depersonalisierung“. Diese Haltung begründet sich in der romantischen Anschauung, dass Genie hauptsächlich darin bestehe, Regeln zu brechen. Regeln und Konventionen nämlich seien, dieser Anschauung nach, willkürlich, von außen auferlegt. Der Fortschritt des Menschen sei, diese Regeln reflektieren zu können, um die Willkürlichkeit zu erkennen. Nun sei aber die Handlung des „Sacre“ Symbol für die Unterwerfung unter Regeln überhaupt; Zeichen dafür, dass Strawinsky, Adornos Ansichten zur Folge, sich bewusst für die Regeln entschieden habe; also nicht fortschrittlich sei, da er auf die Reflektion verzichtet.
Reflektion
Nun bleibt zu untersuchen, ob Strawinsky sich wirklich unreflektiert Regeln unterordnen will, oder er aber eben durch kritische Betrachtung dieser Konventionen zu etwas neuem, fortschrittlichem gelangt. Dazu möchte ich zunächst auf die von Adorno geteilte aufklärerische Anschauung eingehen, Regeln seien willkürlich und auferlegt. Zweifelsohne greift Strawinskys Musik auf lang gebräuchliche Regeln zurück; auch dem Inhalt des Balletts ist eine Verherrlichung von Unterwerfung nicht abzustreiten. Allerdings besteht ein großer Unterschied zwischen den „auferlegten“ Regeln, die die Aufklärer anprangern, und den Regeln, denen Strawinsky sich unterordnet: Erstere sind hauptsächlich dadurch schlecht, dass sie nicht allen Menschen gleich sind, sondern einigen dienen und andere knechten. Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass kein Aufklärer schreit, als Darwin seine Evolutionstheorie veröffentlichte; auch als Freud feststellte, jeder Mensch sei im Grunde seinem Unterbewusstsein unterworfen, wird dies als Erfolg wissenschaftlicher und philosophischer Aufklärung gefeiert. Es ist also nicht Unterwerfung an sich, die die Aufklärer eigentlich überwinden wollen; die Aufklärung wurzelt hauptsächlich in dem Kampf gegen Unterwerfung unter andere Menschen und von anderen Menschen gemachte Regeln. Nun mag man sagen, die im „Sacre“ dargestellten Riten seien doch genau dies: Die vollständige Unterwerfung unter von Menschenhand gemachte Regeln. Hier allerdings sind die Regeln ja für alle Menschen gleich. [Um diese Behauptung zu belegen oder zu revidieren zu können, müsste ich den gesamten „Le Sacre du Printemps“ gesehen und genauer analysiert haben, was mir aber im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich war.] In der Musik des „Sacre“ lässt sich ähnliches feststellen: Konventionen sind hier deutlich erkennbar, allerdings ist nicht etwa das Stück den Konventionen unterworfen, sondern vielmehr die Konventionen der Willkür des Stückes: Ohne Muster wird die Betonung geändert, nach Belieben werden Harmonien verschmolzen, Melodieeinwürfe geschehen ohne erkennbares System. Die Regeln werden also nicht wie etwa bei Schönberg völlig außer Kraft gesetzt, sondern nach belieben gebrochen genutzt. Um es anders auszudrücken: Würden wir dieses Schönheitsideal immer als Maßstab nehmen, so wäre bei Schönberg das Ende der Kunst erreicht. Nahezu zumindest. Egal, wie man sich also an den von Adorno unterstützten Fortschrittsbegriff heranwagt, offenbar scheitert eine Anwendung auf Stravinskys Werke immer. Strawinsky schafft es offenbar, trotz konventionellen Grundstoff ein mitreißendes und emotionsgeladenes Werk zu schaffen. Ist es also dadurch schlecht, dass es sich nicht mit dem Fortschrittsbegriff der Aufklärung fassen lässt? Augenscheinlich unterschätzt Adorno in seiner Wertung die Macht und den Ausdruck des Banalsten und Alltäglichsten, dass in der Läuterung und neuen Zusammensetzung durch Strawinsky eine völlig neue Form erhält.
Faszit
Um das Ergebnis dieser Arbeit also in einem Satz auszudrücken: Die von der Aufklärung gegebenen Kriterien für Schönheit und Genie, die verlangen, Konventionen zu brechen, reichen nicht, um Stravinskys Werk beurteilen zu können; es muss ein anderer Bewertungsmaßstab herangezogen werden, um eine Aussage über die Beschaffenheit des Fortschrittscharakters dieses Stücks zu machen.