Russisch-ukrainischer Gasstreit

Konflikt um Erdgaslieferungen von Russland an die Ukraine sowie den Gastransit über die Ukraine in andere europäische Staaten
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Vorlage:Neuigkeiten Der russisch-ukrainische Gasstreit begann im März 2005, als Russland die Bedingungen für Transittransporte von Erdgas über ukrainisches Territorium nach Westeuropa sowie den Preis, den die Ukraine für Erdgasimporte zahlen sollte, zugunsten marktorientierter Preispolitik neu festlegte. Weil die Ukraine sich weigerte, den neuen Bedingungen zuzustimmen und ein Vertrag für 2006 bis zuletzt ausblieb, stellte Russland am 1. Januar 2006 die Gasexporte in die Ukraine ein. Dies führte kurzzeitig zu Lieferengpässen in verschiedenen europäischen Staaten.

Aus wirtschaftlicher Sicht sind Gazprom, auf russischer Seite, und Naftogaz, auf ukrainischer Seite, die Kontrahenten.

Laut dem CIA World Factbook ist die Ukraine weltweit viertgrößter Importeur und sechstgrößter Verbraucher von Erdgas. Ursache dafür sind die nur wenig energieeffizienten Industriebetriebe sowie Verschwendung und Ineffizienz, die durch die früher tiefen Gaspreise gefördert wurden.

Die Ukraine verbraucht zur Zeit 80 Milliarden Kubikmeter Erdgas jährlich. 20 Milliarden stammen aus eigener Produktion, etwa 36 Milliarden werden in Turkmenistan gekauft. 17 Milliarden bezieht die Ukraine als Entschädigung für den Transport russischen Erdgases nach Europa und der Rest (6 bis 8 Milliarden) werden von Russland gekauft [1].

Vertrag von 2002

Gemäß dem Vertrag zwischen der staatlichen russischen Gesellschaft Gasprom und der staatlichen ukrainischen Gesellschaft Naftogaz, der am 21. Juni 2002 unterzeichnet wurde und bis Ende 2013 gültig ist, erfolgt die Bezahlung des Transports von russischem Gas durch ukrainische Pipelines mit einer Art Tauschhandel. Die Ukraine darf für die Bereitstellung der Transportinfrastruktur einen Teil des Erdgases für sich behalten. Ursprünglich sollte die Menge des abzugebenden Gases sowie der Verrechnungspreis jedes Jahr zwischen den Regierungen neu ausgehandelt werden.

Zusatz 4

Am 9. August 2004 einigten sich beide Staatsunternehmen auf die Zusatzklausel 4. Für den Erdgastransit sollte die Ukraine $1.09 je 1000 m³ und 100 Kilometer erhalten. Außerdem war die Ukraine berechtigt, russisches Erdgas zu einem Fixpreis von $50 je 1000 m³ zu beziehen. Gemäß dem Zusatz sollte der Preis bis Ende 2009 nicht geändert werden [2].

Gasprom argumentiert, dass der Zusatz 4 nur mit der Unterzeichnung des übergeordneten, jährlich erneuerbaren zwischenstaatlichen Protokolls anwendbar ist, das die Transitbedingungen spezifiziert und die Bedingung erfüllen muss, dass der Gastransit mit Gaslieferungen verrechnet wird. Da dies bei dem aktuell angestrebten Übergang zur marktwirtschaftlichen Preisbildung nicht mehr gegeben ist, ist der Zusatz 4 nichtig. [3]

Im Frühjahr 2005 hatte Russland einen Fixpreis $160 per 1000 m³ gefordert. Im November verlangte Gasprom $230 je 1000 m³ und begründete dies mit dem üblichen Weltmarktpreis ([4]. Hingegen sollte die Entschädigung für den Transit auf $1.74 je 1000 m³ und 100 Kilometer erhöht werden [5]. Zum Vergleich: Der übliche Tarif in Westeuropa beträgt maximal $2.50 je 1000 m³ und 100 Kilometer [6]. Für den Transitpreis gibt es allerdings keine Weltmarktpreise, er wird aus den spezifischen Bedienungs-Aufwendungen der Pipeline gebildet.

Die Ukraine ist der Ansicht, dass die russischen Forderungen dem Vertrag von 2002 und dem Zusatz 4 von 2004 widersprechen.

Verhandlungen im Jahr 2005

Bei den Neuverhandlungen lehnte die Ukraine strikt jegliche Erhöhung des Gaspreises ab und schlug die Bezahlung mit Waffenlieferungen vor. Doch dann willigte der ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko ein, dass der Preis schrittweise erhöht werden sollte. Russlands Präsident Wladimir Putin ist der Ansicht, dass die Ukraine genug Geld habe, um den Weltmarktpreis zu bezahlen: „Dies ist eine schwere Last für das russische Budget... Die ukrainischen Konsumenten erhalten heute Gas für einen tieferen Preis, als russische Bürger in ihrem eigenen Land bezahlen müssen! Und wir haben noch immer 25 Millionen Bürger, die unter der Armutsgrenze leben“. [7]

Juschtschenko gab zu bedenken, dass die ukrainische Industrie nicht mehr profitabel arbeiten könne, sollte der Preis über $90 klettern. Er rief auch dazu auf, die Auseinandersetzung nicht unnötig zu verpolitisieren und war zuversichtlich, dass das Problem auf wirtschaftliche statt politische Weise gelöst werden könne.

Etwa 80 Prozent der russischen Gasexporte nach Westeuropa führen durch die Ukraine. Russland wäre einer Fusion von Gasprom und Naftogaz nicht abgeneigt, während die Ukraine dies ablehnt. Es wird befürchtet, die Ukraine würde sonst die Kontrolle über die eigenen Pipelines verlieren. In ukrainischen Regierungskreisen wurde gefordert, die Pacht zu erhöhen, die Russland für die Stationierung der Schwarzmeerflotte in Sewastopol auf der Krim bezahlen muss. Derzeit zahlt Russland 97 Millionen $ für die Pacht. Verschiedene ukrainische Kreise waren der Ansicht, dieser Preis sei zu tief und forderten eine komplette Inventur der Anlagen, die laut Schätzungen einen Wert von 2 Milliarden $ besitzen [8]. Russland hingegen sperrt sich gegen jeglichen Neuverhandlungen. Es warnte die Ukraine davor, dieses Thema anzuschneiden, weil hier im Gegensatz zum Gasmarkt ein fixierter Preis bis 2017 festgelegt wurde. Zudem war das Abkommen über die Schwarzmeerflotte Teil eines Rahmenvertrages, das auch die beidseitige Anerkennung der Grenzen umfasste. Es gibt Spekulationen darüber, dass die Forderungen auf Druck der USA erhoben wurden. Dies umso mehr, als sie nur wenige Stunden nach dem Besuch von Außenministerin Condoleezza Rice in Kiew am 8. Dezember 2005 erfolgten [9].

Einstellung der Lieferungen

Am 13. Dezember 2005 machte Gasprom klar, dass die Erdgaslieferungen in die Ukraine am Neujahrstag eingestellt würden, sollte in der Frage der neuen Preise nicht bald eine Einigung erzielt werden. Am 14. Dezember gab Gasprom bekannt, dass sie einen Preis von $220 bis $230 für 1000 m³ verlangen würde. Die Ukraine stellte fest, dass ein solcher Schritt gegen die Verträge verstoßen würde und schlug eine internationale Vermittlung vor. Am 19. Dezember 2005 reiste der ukrainische Premierminister Jurij Jechanurow nach Moskau, konnte aber keine Einigung erzielen. Einen Tag darauf sagte Jechanurow, die Ukraine könne in Zukunft auch ohne russisches Gas auskommen und forderte die Entwicklung von energieeffizieten Technologien [10].

Am 26. Dezember 2005 stellte Jechanurow in einem Fernsehinterview fest, die Ukraine besitze laut Vertrag das Recht, 15 Prozent des russischen Gases, das nach Westeuropa gepumpt wird, zurückzubehalten. [11] Am 29. Dezember bot Wladimir Putin der Ukraine ein Darlehen von 3,6 Milliarden $ an, um die Kosten für den Übergang zu Weltmarktpreisen zu decken, doch Wiktor Juschtschenko lehnte dieses Angebot ab. [12] Am 31. Dezember bot der russische Präsident an, die Preiserhöhung bis April 2006 auszusetzen, doch auch dies lehnte die Ukraine ab. [13]

Am 1. Januar 2006 stoppte Russland wie angedroht die Gaslieferungen an die Ukraine und speiste nur noch das für die EU bestimmte Gas in das ukrainische Leitungssystem ein. In den zahlreichen ost- und mitteleuropäischen Ländern wurden vorübergehende Lieferschwankungen registriert. Dies erklärte Russland damit, dass die Ukraine weiterhin Erdgas für den Eigenbedarf abzweigte und europäisches Erdgas im Wert von 25 Millionen $ gestohlen hat. [14] Zum Beweis wurde eine Expertengruppe aus der Schweiz engagiert, die die Gasmengen an der russisch-ukrainischen und der ukrainisch-slowakischen Grenze messen sollte. Obwohl ein deutlicher Mengenunterschied fixiert wurde, weigerten sich die offiziellen ukrainischen Beobachter ihre Unterschrift unter das Protokoll zu setzen.

Auswirkungen auf europäische Länder

Zahlreiche europäische Länder meldeten vorübergehend einen Rückgang der Lieferungen [15]:

Am 2. Januar versprach Gasprom, die Liefermenge zu stabilisieren. Die Nichtbelieferung der Ukraine soll aufrechterhalten werden.

Gegenmaßnahmen der Ukraine

Die ukrainische Regierung erwägt 15% des Gases vertragswidrig aus den Transitpipelines als Transportgebühr zu entnehmen. Außerdem erwägt die Ukraine das Budapester Memorandum einzuschalten.

Vorwurf politischer Motive

Zahlreiche politische Beobachter gehen davon aus, dass Russland diese Schritte eingeleitet habe, um die Ukraine für die Annäherung an den Westen zu bestrafen. Als weiterer Grund wird angegeben, die Popularität des Präsidenten und seiner Partei solle beim ukrainischen Volk vor den Wahlen im Frühling 2006 beeinträchtigt werden. Auch versuche Russland, sich der Kontrolle der ukrainischen Pipelines zu bemächtigen.

Russland stellt fest, die Erhöhung der Gaspreise erfolge aus rein wirtschaftlichen und nicht aus politischen Gründen. Russland weist auch daraufhin hin, dass bei anderen ex-sowjetischen Länder wie Armenien, Georgien, Moldawien und die baltischen Staaten ebenfalls die Preise erhöht werden. Allerdings müssen diese Länder im Jahr 2006 lediglich zwischen $110 und $125 je 1000 m³ bezahlen. [18]. Was die Ukraine und viele westliche Medien oft nicht beachten, ist die Tatsache, dass das für Transkaukasien bestimmte Gas aus Vorkommen stammt, die nicht mit der Leitungsstruktur nach Europa verbunden sind und hier im Gegensatz zur Ukraine keine Opportunitätskosten für Russland aus dem Nicht-Verkauf nach Europa entstehen, wo der Gaspreis bei $250 liegt. Der transkaukasische Gasmarkt ist isoliert zu betrachten.

Im Falle von Weißrussland, das russisches Erdgas zu einem Preis von nur $48 bezieht, verweist Russland auf eine vollkommen andere Situation bei den Eigentumsverhältnissen am weißrussischen Leitungssystem und den dazugehörigen Grundstücken. Um einen extrem reduzierten Preis beizubehalten, übergab Weißrussland sein Leitungssystem unter die Kontrolle eines russisch-geführten Konsortiums. Ein ähnliches Geschäft wurde von Gasprom auch der Ukraine angeboten, die Ukraine lehnte es aber ab.

Hintergrundfakten

  • zur Zeit werden ca. 80% des russischen Erdgases für Europa über die ukrainischen Pipelines transportiert
  • die Opportunitätskosten, die Russland jährlich durch ermäßigte Gaspreise an die Ukraine entstehen, betragen ca. 4 Milliarden Dollar.
  • der Anteil des an die Ukraine adressierten Gases an der Gesamtmenge, die durch sie gepumpt wird, beträgt ca. 20%
  • die ukrainische Wirtschaft ist (nicht zuletzt wegen billigem Gas) sehr energielastig. Die Ukraine ist der sechstgrößte Erdgasverbraucher der Welt, ihr Verbrauch beträgt 80 Milliarden Kubikmeter jährlich
  • ca. 25% ihres Erdgasbedarfs produziert die Ukraine selbst, weitere 40% bezieht sie über Russland aus Turkmenistan. Der Rest kommt aus russischem Import selbst.
  • durch die russische Subventionierung war der Gaspreis in der Ukraine bisher deutlich niedriger, als in Russland selbst. In vielen Bereichen, vor allem in der Metallindustrie, belieferte die Ukraine dadurch den russischen Markt zu Dumpingpreisen und übervorteilte so die russischen Produzenten.
  • einen Teil ihres für $50 erworbenen Gases verkaufte die Ukraine für $260 an Rumänien