Ferdinand Tönnies

deutscher Soziologe und Philosoph
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Ferdinand Tönnies (1855-1936) war Soziologe, Nationalökonom und Philosoph.

Er ist Begründer der deutschen Soziologie und trug bedeutend zur soziologischen Theorie und Feldforschung bei. Am geläufigsten ist seine Einführung der zwei Begriffe „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ geworden. Seine publizistische Aktivität war thematisch weit gespannt und großen Umfangs, sowohl in den Bereichen der Soziologie, der Statistik und der Forschung zu Thomas Hobbes, als auch – mit republikanischer Grundüberzeugung – zu aktuellen politischen Themen (so zur Schuldfrage beim Ersten Weltkrieg und scharf gegen den Nationalsozialismus).

Hervor zu heben sind seine Studien zum sozialen Wandel, zur öffentlichen Meinung, zu den Themen der Sitte, der Kriminalität und des Selbstmords, zur Methodologie der Statistik (Tönnies’ Korrelationskoëffizient), sowie seine Neubelebung der internationalen Hobbes-Diskussion (mit Herausgabe von dessen ungedruckten Manuskripten).

Leben

Geboren am 26. 7. 1855 auf dem Haubarg Die Riep bei Oldenswort (auf Eiderstedt im damals dänischen Hzt. Schleswig als Sohn des Marschbauern August T. und der Pastorentochter Ida T. geb. Mau. Als Gymnasiast in Husum Korrekturgehilfe von Theodor Storm (später mit ihm befreundet), mit 16 Jahren Abitur. 1872 Beginn des Studiums der Philologie und Geschichte in Jena, Leipzig, Bonn, Berlin und Tübingen. 1877 Dr. phil. Privates Studium der Philosophie und Staatswissenschaften; 1878 in England Studien über Thomas Hobbes, wichtige Entdeckungen zu dessen Leben und Werk. 1878 bis 1879 Mitglied des Statistischen Bureau in Berlin und Schüler von Ernst Engel, Richard Böckh, Adolph Wagner. 1881 Habilitation an der Universität Kiel. Nach 1883 Reisen, 1904 in die USA. 1909 wird die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) von ihm mit begründet, 1909 a.o. Professur der Universität Kiel, 1913 Ordinariat, 1916 auf eigenen Wunsch emeritiert (entpflichtet). 1920 Lehrauftrag für Soziologie in Kiel. 1922 Neuerrichtung der DGS, deren einziger Präsident bis 1933. Mitglied und Ehrenmitglied vieler ausländischer soziologischer Gesellschaften und Institute. Am schärfsten unter den deutschen Soziologen ab 1930 öffentliche Kritik an der 'Bewegung' Hitlers. 1933 vom nationalsozialistischen Regime aus dem Beamtenstand unter Streichung seiner Emeritenbezüge entlassen. Lebt in all diesen Jahren in Hamburg, Altona, Eutin und zuletzt in Kiel, wo er am am 9. 4. 1936 stirbt. Dort auf dem Friedhof "Eichhof" steht sein Grabstein.

Zur Wirkung

Tönnies wirkte auf die Intelligenz des späten Kaiserreiches und der Weimarer Republik stark, unmittelbar war er auf Soziologen wie z.B. Herman Schmalenbach, Max Graf Solms und Rudolf Heberle einflussreich. Insgesamt lebte er jedoch in der englischsprachigen (USA, Australien, Neuseeland) und der japanischen Soziologie auffälliger als in der deutschen weiter.

In den USA hat namentlich Talcott Parsons die normaltypischen Eigenschaften von "Gemeinschaft" bzw. "Gesellschaft" idealtypisch für seine fünf Pattern Variables benutzt; Cahnman hat Tönnies' Ansatz mit dem von George Herbert Mead verbunden. In Japan ist Shoji Kato zu nennen.

Anders in Deutschland: Im 'Dritten Reich' war Tönnies als Gegner selbstverständlich persona non grata. In der Bundesrepublik Deutschland griff nach dem Zweiten Weltkrieg (nach dem Missbrauch des "Gemeinschafts"-Begriffs in der Jugendbewegung und im Nationalsozialismus alarmiert) der einflussreiche Rene König den tönnesianischen Ansatz früh, energisch und erfolgreich an, während der einflussreiche, aber anwendungsorientierte Helmut Schelsky ihn überging; die Frankfurter Schule würdigte Bewunderer von Karl Marx nicht, die keine Marxisten waren; so auch die Soziologie in der DDR (Ausnahme: Günther Rudolf). Erst 1983 brach das (erste) "Tönnies-Symposion" in Kiel wieder das Eis, so dass er in die deutsche soziologische Theoriedebatte zurück kehrte (vgl. neben den Herausgebern der TG - s. u. - zumal Stefan Breuer, Klaus Lichtblau, Peter-Ulrich Merz-Benz).

Werkauswahl

  • Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887, zahlreiche Auflagen
  • Thomas Hobbes, der Mann und der Denker, 1910
  • Kritik der öffentlichen Meinung, 1922, neu 2003
  • Soziologische Studien und Kritiken, 3 Bde., 1924, 1926, 1929
  • Einführung in die Soziologie, 1931
  • Geist der Neuzeit, 1935, neu 1998 (in TG 22)
  • Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe (TG), im Auftrag der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft (FTG) kritisch ediert von Lars Clausen, Alexander Deichsel, Cornelius Bickel, Rolf Fechner und Carsten Schlüter-Knauer, 24 Bde. i. E., Berlin/New York (de Gruyter) 1998 ff.

Sekundärliteratur

Eine Einführung findet sich bei Dirk Kaesler (Hg.), „Klassiker der Soziologie“; München (Beck) 2000. Zu laufenden Diskussionen vgl. die von der FTG herausgegebene Zeitschrift „Tönnies-Forum“.

Zu „Gemeinschaft und Gesellschaft“ insbesondere:

Tönnies unterscheidet scharf zwischen zwei Normaltypen kollektiver Gruppierungen kraft gegenseitiger „Bejahung“ der sozialen Akteure: zwischen „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“. Beider Unterscheidung basiert auf seiner Annahme, dass es für einen Akteur nur zwei Grundformen willentlicher Bejahung anderer Akteure geben kann. Diese „Bejahung“ ist für Tönnies das Grundproblem und das Thema der „Soziologie“. (Gerade sie ist erklärungsbedürftig, denn die gegenseitige „Verneinung“ – hierin ist er stark von Hobbes’ „Krieg aller gegen alle“, dem bellum omnium contra omnes, abhängig – kann immer voraus gesetzt werden.) Dieser Wille kann analytisch in zwei Formen erscheinen:

Entweder fühlt sich der Akteur als Teil eines größeren sozialen Ganzen, er versteht sich also – scharf ausformuliert – als dienendes Mittel zu diesem als übergeordnetem Zweck, dann fühlt er sich dem Kollektiv als einer „Gemeinschaft“ zugehörig, und diese (von Kindheit an wie selbstverständliche) Form des Willens heißt bei Tönnies Wesenwille. Beispiele derartiger Gemeinschaften wären eine Familie, eine Schiffsmannschaft oder ein Freundesbund.

Oder der Akteur bedient sich anderer Akteure, sie sind ihm Mittel zu seinen eigenen individuellen Zwecken, dann partizipiert er an einem Kollektiv als an einer „Gesellschaft“, und diese über nur über eine Phase der Individualisierung erreichbare Form des Willens heißt bei ihm Kürwille. Beispiele wären die Aktengesellschaft, der neuzeitliche Staat oder die „Gelehrtenrepublik“.

Die „Gemeinschaft“ genügt sich selbst (kann aber durchaus Wachstum anstreben), die „Gesellschaft“ ist ein Instrument (der Akteur kann es weg legen).

Da „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ in der Welt der Begriffe axiomatisiert und entfaltet werden, die (nach Tönnies’ zusätzlicher Annahme) von der Welt der sozialen Wirklichkeit – zu Erklärungszwecken – strikt zu unterscheiden ist, sind sie begrifflich unvereinbar (im Feld der „Reinen Soziologie“), während man sie in der Wirklichkeit nicht anders als gemischt antrifft (im Feld der „Angewandten Soziologie“).