Richtlinie 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt
Die Richtlinie des europäischen Parlamentes und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt (auch Europäische Dienstleistungsrichtlinie oder Bolkestein-Richtlinie genannt) ist eine geplante EU-Richtlinie zur Liberalisierung von Dienstleistungen im EU-Binnenmarkt. Sie ist ein Bestandteil der Lissabon-Strategie.
Der vieldiskutierte Vorschlag des ehemaligen EU-Binnenmarkt-Kommissars Frits Bolkestein sieht die Beseitigung von zwischenstaatlichen Hemmnissen für Dienstleistungsunternehmen vor. Der Anwendungsbereich des Richtlinienvorschlags ist sehr weit: Erfasst werden sollen nicht nur klassische Wirtschaftstätigkeiten wie Frisöre oder IT-Spezialisten, sondern z.T. auch so genannte Daseinsvorsorgeleistungen (Altenheime, Kinderbetreuung, Behinderteneinrichtungen, Heimerziehung, Müllabfuhr, Verkehrssysteme etc.), soweit diese im betreffenden Mitgliedstaat bereits unter Marktbedingungen erbracht werden.
Ein Hauptbestandteil des Richtlinienvorschlags ist das sogenannte Herkunftslandprinzip: Nach dem Vorschlag der Kommission soll ein Dienstleistungserbringer grundsätzlich nur noch den Gesetzen des Landes unterliegen, in dem sich sein Stammsitz befindet (Art. 16 RL-Entwurf). Dieser Grundsatz wird bereits im KOM-Vorschlag durch eine Reihe von Ausnahmen durchbrochen (Art. 2 und 17 ff. RL-Entwurf). Weitere Ausnahmen werden derzeit im europäischen Gesetzgebungsverfahren diskutiert.
Gesetzgebungsverfahren
Der Entwurf der Richtlinie wurde im Januar 2004 vorgelegt und muss noch sowohl vom Ministerrat als auch vom Europaparlament angenommen werden. Beim Treffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union am 22./23. März 2005 in Brüssel wurde beschlossen, dass der Entwurf im weiteren Gesetzgebungsverfahren dahingehend übearbeitet werden soll, dass er neben dem Ziel der vollständigen Herstellung des Binnenmarktes auch das Europäische Sozialmodell berücksichtigt. Voreilige, aber weit verbreitete Meldungen in den Medien, wonach die Dienstleistungsrichtlinie durch den Rat "gestoppt" worden sei, wurden umgehend durch den Ratspräsidenten Juncker dementiert. Vielmehr werde das normale Verfahren weiter eingehalten, in welchem nun Rat und Europäisches Parlament Änderungsvorschläge unterbreiten müssen. Die Kommission erklärte sich zufrieden über das Gipfelergebnis und erteilte allen Forderungen nach Rückzug der Richtlinie erneut eine Absage.
Es gilt das so genannte Mitentscheidungsverfahren, bei dem Ministerrat und Parlament den von der Kommission vorgeschlagenen Rechtsakt in zwei Lesungen erörtern, ggf. verändern und schließlich gemeinsam erlassen. Wenn sie sich nicht einigen können, wird ein Vermittlungsausschuss einberufen, der je zur Hälfte aus Vertretern des Ministerrats und des Parlaments besteht. Wird auch hier keine Einigung erzielt, so ist das Vorhaben gescheitert.
Evelyne Gebhardt, SPE-Abgeordnete, hat als Berichterstatterin im Binnenmarktausschuss des Europäischen Parlaments(EP) am 19. April 2005 eine Reihe grundlegender Änderungsvorschläge präsentiert. Grüne und Vereinigte Linke haben diese Vorschläge begrüßt, während sich EVP und ALDE kritisch zeigten. Mittlerweile liegen dem federführenden Binnenmarkt-Ausschuss des EP ca. 1000 Änderungsanträge von Abgeordneten und anderen Ausschüssen vor. Der Ausschuss wird voraussichtlich am 20./21.11. darüber abstimmen, welche dieser Anträge letztlich dem Parlamentsplenum zur Abstimmung in der Ersten Lesung (voraussichtlich am 14. Februar 2006) vorgelegt werden.
Parallel zu den Beratungen des EP beschäftigt sich eine Arbeitsgruppe im Rat ebenfalls weiter mit dem Richtlinienentwurf. Auch dort liegen zahlreiche Änderungswünsche von Regierungen der Mitgliedstaaten zu Detailregelungen des Entwurfes vor.
Der Deutsche Bundestag hatte sich bereits in einem Beschluss vom 18. März 2005 dafür ausgesprochen, das Herkunftslandprinzip nur in solchen Fällen anzuwenden, in denen eine vollständige Harmonisierung erreicht sei. Die Kontrolle müsse dabei auf jeden Fall beim Erbringungsland (Ort der Dienstleistung) verbleiben. In einem erneuten Beschluss hat der Bundestag am 30. Juni 2005 gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP seine Kritik am Richtlinienentwurf weiter verschärft, das Herkunftslandprinzip als ungeeignet abgelehnt sowie die Europäische Kommission aufgefordert, ihren Entwurf gründlich zu überarbeiten (BT-Drucksachen 15/5832 und 15/5865). Zugleich enthält der zweite Teil des Beschlusses einen nach Art. 23 GG zu berücksichtigenden Verhandlungsauftrag an die Bundesregierung, welche Regelungen eine Dienstleistungsrichtlinie enthalten bzw. nicht enthalten sollte.
Kritik
Für viele Kritiker stellt die Dienstleistungsrichtlinie ein Symbol für den neoliberalen Kurs der EU-Kommision dar. Sie befürchten insbesondere eine Abwärtsspirale in der Regulierung und Kontrolle von Unternehmen im Dienstleistungsektor. So könnte es zu einem Wettlauf der 25 Mitgliedstaaten der EU kommen, indem Unternehmen in das EU-Land mit den geringsten Standards und Kontrollen ausweichen. Die Unternehmen sollen nach der Richtlinie nämlich nur noch dem Recht und der Aufsicht ihres Herkunftslandes, also des Staates unterliegen, in dem sie ihre Tätigkeit tatsächlich ausüben. Der Rat hat auf diese Kritik reagiert und eine Klarstellung in Erwägungsgrund 18a vorgeschlagen, wonach eine bloße Briefkastenadresse keinesfalls als Anknüpfungstatbestand ausreicht (siehe Ratsdokument 51 61/05 vom 10. Januar 2005).
Kritisiert wird auch die Einschränkung der Kontrollmöglichkeiten des Arbeitslandes zur Durchsetzung seiner Mindeststandards bei Lohn, Arbeitszeit, Urlaub und Arbeitsschutz nach der Entsenderichtlinie 96/71 EG. Unternehmen, die ihre Beschäftigten grenzüberschreitend einsetzen ("entsenden") sollen sich nach dem Richtlinienvorschlag im Arbeitsland nicht mehr anmelden müssen, brauchen dort keine Verantwortlichen mehr benennen und keine Arbeitspapiere mehr bereithalten. Gewerkschaften und Globalisierungskritiker befürchten eine "Ausflaggung" vieler Unternehmen in das EU-Land mit den geringeren Standards und Kontrollen.
Diskutiert wird derzeit die Notwendigkeit einer Reihe von Ausnahmetatbeständen. So zeichnete sich während der Beratungen im Europäischen Parlament im Herbst 2005 ab, dass der Gesundheitssektor aller Wahrscheinlichkeit nach vom Gültigkeitsbereich der Dienstleistungsrichtlinie ausgenommen wird. Hingegen war eine Mehrheit für eine weitergehende Ausnehmung auch des Bildungssektors von der Dienstleistungsrichtlinie zumindest während der Beratungen im Binnenmarktausschuss des Europäischen Parlaments nicht erkennbar. Gerade die Anwendung auf den Bereich Bildung und Forschung wird aber in Deutschland von vielen Beobachtern - so etwa der Kultusministerkonferenz - sehr kritisch gesehen. Befürchtet wird, dass die staatliche Akkreditierung von Institutionen und Abschlüssen der Schul-, Hochschul- und Weiterbildung nicht mehr im bisherigen Masse zulässig oder durchführbar sein wird. Daraus werden negative Folgen für Qualitätssicherung und Verbraucherschutz im Bildungsbereich erwartet. Auch mögliche finanzielle Folgen wurden beschrieben: So könnte der Staat verpflichtet sein, allen privaten Bildungsanbietern dieselben Subventionen zukommen zu lassen wie bisher den staatlichen Schulen, Hochschulen oder etwa auch Volkshochschulen. Beim BaFöG wäre möglicherweise keine Unterscheidung zwischen in- und EU-ausländischen Studierenden und Studiengängen mehr zulässig. Schließlich wird für den Forschungsbereich befürchtet, dass nationalstaatliche Regulierungen nicht mehr greifen könnten, wovon u.a. das in Deutschland gültige Verbot der Forschung an embryonalen Stammzellen betroffen wäre.
Siehe auch
Weblinks
- http://www.dienstleistungsrichtlinie.de
- http://www.dienstleistungsrichtlinie.dgb.de
- http://www.bundestag.de/bic/analysen/2005/2005_02_251.pdf
- http://www.bundestag.de/bic/hib/2005/2005_180/04.html
- http://dip.bundestag.de/btd/15/058/1505832.pdf
- http://europa.eu.int/comm/internal_market/services/services-dir/index_de.htm
- http://europa.eu.int/eur-lex/de/com/pdf/2004/com2004_0002de02.pdf
Kritische Informationen:
- http://www.attac.de/bolkestein Attac Deutschland
- http://www.akweb.de/ak_s/ak493/30.htm ak - analyse+kritik (18. März 2005)
- http://www.stopbolkestein.org Stop Bolkestein: Möglichkeit, Petition zu unterzeichnen
- http://www.sahrawagenknecht.de/de/html/die_bolkesteinrichtlinie.php Sahra Wagenknecht, MdEP ist Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Währung (ECON) und befaßt sich auf Ihren Seiten intensiv mit der Richtlinie.
- [Auswirkungen der Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt auf das Bildungswesen] - Hintergrundpapier der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft – GEW