Ius primae noctis

sagenhaftes feudalistisches Herrenrecht
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Mit dem ius primae noctis (deutsch Recht der ersten Nacht, auch Jus primae Noctis; französisch droit de cuissage) wurde in der Zeit der Erbuntertänigkeit in Europa das Recht eines Gerichtsherren bezeichnet, bei der Heirat von Personen, die seiner Herrschaft unterstanden, die erste Nacht mit der Braut zu verbringen oder einen Geldersatz zu verlangen. Ob diese Rechtsgepflogenheit tatsächlich bestand, ist umstritten.[1] Wissenschaftlich fundierte Forschungen zu diesem Thema der Vererbungslehre und der Rechts- und Sozialgeschichte des Feudalismus sind nicht bekannt.

Das Gemälde „Das Herrenrecht“ von Wassili Dmitrijewitsch Polenow (1874) zeigt, wie ein alter Mann seine Tochter zum Feudalherrn bringt.

Diese mutmaßliche Gepflogenheit erzwungener Sexualbeziehungen ist in literarisch-politischen Publikationen publikumswirksam und verkaufsfördernd dargestellt worden. Im Zeitalter der Aufklärung in der Literatur der Aufklärung wurde sie als menschenverachtend thematisiert und kritisiert. Besonders ausführlich wurde diese Kritik in Voltaires Werk „Essai sur les moeurs“ laut.[2][3] Der Sachverhalt kommt auch bei Johannes Rogalla von Bieberstein[4] und bei Walter Görlitz[5] zur Sprache.

Historische Entwicklung

Erste literarische Überlieferungen des herrschaftlichen Rechts der ersten Brautnacht werden im Epos Gilgamesch (3. Jahrtausend v. Chr.) historisch belegt (Tafel 2, Zeile 144). Hiernach fordert der Herrscher Gilgamesch zum Zeichen seiner Macht das ius primae noctis für sich ein.

Dieses Herrenrecht wurde im Mittelalter im Jahr 1250 zum ersten Mal in einem Gedicht über die Bauern von Verson (beim Mont-Saint-Michel) in Frankreich erwähnt. Voll ausgeprägt erscheint diese Verhaltensform eines bestehenden Herrenrechts im Baudouin de Sebourc, einem um 1350 in Nordfrankreich verfassten Roman der Kreuzritterzeit. Die Entstehung dieser literarischen Veröffentlichungen waren eng verbunden mit der Ablehnung der ungerecht empfundenen Mitgiftsteuer, die bei der Eheschließung an den Gerichtsherrn entrichtet werden musste. Durch diesen Versroman wurde ein seit dem Hochmittelalter existierendes Herrenrecht auf die erste Nacht mit der Braut eines bäuerlichen Paares vermutlich in ganz Europa bekannt.

Eine im Mittelalter im Gebiet des heutigen Belgien und den Niederlanden übliche Heiratssteuer, deren Übersetzung aus der lateinischen Sprache als Bürgschaftsverpflichtung in den Quellen auftaucht, weist den Weg zu den im frühen Mittelalter üblichen Zahlungen des mundium der Braut. Diese Zahlung durch den Herrn persönlich an eine freie Frau, anlässlich ihrer Eheschließung mit einem unter Erbuntertänigkeit stehenden Mannes, hatte vermutlich die Nachwirkung, dass sie in späterer Zeit durch die in mündlicher Überlieferung verbreitete Verbindung zwischen Heiratsgabe und Herrenrecht, zu dem herrschaftlichen Vorrecht auf das Recht der Ersten Nacht geführt haben könnte. Mit der Zahlung des mundiums erwarb ein Mann im älteren germanischen Eherecht auch das Recht auf die „Heimführung der Braut“, den ersten Geschlechtsverkehr. Zwar war dieser „Rechtsanspruch“ in dem besonderen Fall des Erwerbs einer freien Frau als Ehefrau für einen Muntling des Herrn nicht beabsichtigt, aber er ergab sich zwangsläufig aus der Zahlung des mundiums durch den Herrn an die ursprünglich freie Frau.

Seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts soll die Vorstellung eines herrschaftlichen Vorrechts auf die Brautnacht erstmals Verbreitung im ländlichen Gewohnheitsrecht gefunden haben. Sie sei von Herren oder deren Verwaltern in das Rechtsleben von Herrschaften integriert worden. Mit der Verschriftlichung habe es sich kontinuierlich von der Aufzeichnung ländlicher Gewohnheitsrechte bis zum geschriebenen Recht der Erbuntertänigkeit weiter entwickelt. Das Herrenrecht sei dahin erweitert worden, Abgabenzahlungen anlässlich einer Hochzeitsfeier von Untertanen als Gerichtsherr zu legitimieren und Ersatzhandlungen für die Nichtzahlung einer geforderten Abgabe in Geld zu veranlassen. Die Abgabenzahlungen, die in den ländlichen Rechtstexten gefordert wurden, seien keine Mitgiftsteuern gewesen, sondern Beteiligungen des Gutsherrn oder seines Verwalters am Verlauf des Hochzeitsfests oder Erlaubnisgebühren für die Durchführung des ehelichen Beilagers auf dem Grund und Boden des Herrschaftinhabers. Zahlungspflichtige und Zahlungsempfänger im Hohen Mittelalter haben angeblich an die Rechtsgültigkeit eines solchen Herrenrechts der ersten Nacht das seit „ewigen Zeiten“ existiert, geglaubt.

Der im ausgehenden Spätmittelalter an manchen Orten verbreitete Glaube an ein Herrenrecht der ersten Nacht erreichte in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine gewisse Popularität, so dass mancherorts aus der mündlichen Tradition auch symbolische Rechtshandlungen erwuchsen. In Frankreich wurde das droit de cuissage als „Schenkelrecht“ in Anlehnung an die Sitte des symbolischen Vollzugs der Ehe durch einen Prokurator erfunden, der hierzu ein unbekleidetes Bein in das Ehebett mit der Braut stellte. In Katalonien schritten die Herren über das Hochzeitsbett, in dem die Braut niedergelegt worden war. Bei diesen symbolischen Handlungen, die den Unmut der betroffenen Bauern erregten, scheint es in Katalonien auch zu sexuellen Übergriffen und damit zu Situationen gekommen zu sein, die von dem legalisierten Vorrecht des Herrschers auf den Beischlaf mit den Bräuten der Untertanen nicht mehr weit entfernt war. Dieser Rechtszustand wurde von den betroffenen Bauern als Erniedrigung, als Zeichen der Herrschaft empfunden, gegen die sich als ganzer Stand (pagesos de remensa) in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts schließlich erfolgreich erhob. Durch dieses Herrenrecht, das nicht nur verbal gewesen zu sein scheint, wurde im Spätmittelalter in Katalonien versucht, die bäuerliche Abhängigkeit und die alte ständische Hierarchie aufrechtzuerhalten, die unter den Freiheitsbewegungen der Abhängigen zu zerbrechen drohte. Das Herrenrecht auf die ersten Nacht war als Machtdemonstration in der Darstellung sozialer Ungleichheit von entscheidender Bedeutung.

Weitere Einzelheiten

In der englischen Literatur war das ius primae noctis eher mythischer, legendenhafter Natur und ist im damaligen England bzw. Schottland nicht belegbar, da präzise Hinweise zu einzelnen Namensträgern fehlen.

Von nicht näher bekannten Anthropologen soll das ius primae noctis als eine Weiterentwicklung eines vorchristlichen Rituals bezeichnet worden sein. Die Jungfräulichkeit einer Frau war mit einem starken Tabu belegt und entscheidend für ihre Ehre in der menschlichen Gesellschaft. Nur ein Gott, ein König, Zauberer oder mächtiger Mann durfte eine Frau entjungfern. Jeder andere Mann würde Schaden erleiden. Diese Rechtsfertigungstheorie zeigt Parallelen zu der unbefleckten Empfängnis von Jesus Christus durch die Jungfrau Maria im Christentum.

Einen ähnlichen Hintergrund haben verbreitete Seefahrergeschichten der Trivialliteratur, die von Horden sexwilliger Insulanerinnen der Südsee berichten. Wegen der Gefahr des sogenannten Jungferngiftes, dem Austritt von Blut aus der Vagina der Frau bei deren erstem Geschlechtsverkehr, wurde angeblich die erste Nacht in diesem Kulturkreis als für den Mann gefährlich betrachtet. Dieser Gefahr konnte die Allgemeinheit nur entbehrlichen Fremden zumuten.

Ein Vergleich des Herrenrechts der ersten Nacht mit außereuropäischen Bräuchen der rituellen Defloration zeigt, dass es sich um grundsätzlich unterschiedlich motivierte Phänomene handelt, die allerdings in einem zentralen Punkt konvergieren. Auch bei Bräuchen, die aus einer Angst vor dem Vaginalblut beim ersten Geschlechtsverkehr oder als rite de passage entstanden sind, waren es zumeist mächtige Männer (Priester, Brahmanen, Häuptlinge), die mit der Defloration der Braut beauftragt wurden oder dieses Privileg wahrgenommen haben.

Zur historischen Quellenlage

Die einzigen beiden schriftlichen Belege im deutschsprachigen Raum stammen aus dem Raum Zürich:[6] In Maur amtete ein Meier, der sich nicht nur als Verwalter um die Verwaltung des Gutshofes kümmerte, sondern auch die niedere Gerichtsbarkeit ausübte. Die Offnung von 1543 verbürgte ihm schriftlich das Recht der ersten Nacht, gemäß dem er mit jeder Braut der Gemeinde die Hochzeitsnacht verbringen durfte.[7] Dieses Recht findet sich auch in der Offnung für Hirslanden und Stadelhofen – heute Stadtteile von Zürich – belegt. Ob und wann der Gutsverwalter von diesem ius primae noctis Gebrauch machte, ist nicht mehr überprüfbar. Er konnte kräfte- oder interessemässig darauf verzichtet oder vom Bräutigam eine Geldsumme als Ersatz für die Handlung der Defloration eingefordert haben. Weniger als Ersatz für das eventuell entgangene Vergnügen, was der Honorierung einer Dienstleistung gleichkäme, sondern eher als Bezahlung für Geschirr, Holz und Fleisch, das die Gutsverwaltung an das Hochzeitspaar in Erbuntertänigkeit beizusteuern verpflichtet war:[6]

„Ferner sprechen die Hofleute, wer hier heiratet, der soll den Meyer und dessen Frau einladen. Der Meyer soll dem Bräutigam einen Hafen leihen, so dass er darin ein Schaf sieden kann. Auch soll der Meyer an die Hochzeit ein Fuder Holz mitbringen. Er soll sodann gemeinsam mit seiner Frau einen Viertel eines Schweineschinken bringen. Und wenn die Hochzeit zu Ende ist, so soll der Bräutigam den Meyer in der Hochzeitsnacht bei seiner Frau liegen lassen oder fünf Schillinge und vier Pfennige bezahlen.“[8]

Im Lexikon der populären Irrtümer[9] wird bezweifelt, dass es das Recht der ersten Nacht überhaupt gegeben hat. Es wird darauf hingewiesen, dass es an irgendwelchen Beweisen zu diesem Tatbestand fehlt und dass sich die angeblichen Quellen als Fälschungen, Fehlinterpretationen oder Dorflegenden herausgestellt haben.

Als Indizien der Nicht-Existenz des Rechts der ersten Nacht werden angeführt: In den Rechtsbüchern des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in den Dorfordnungen und sogenannten »Weistümern« (Sammlungen von Gewohnheitsrecht) vom 14. bis in das 17. Jahrhunderts wird nirgendwo von einem Recht der ersten Nacht gesprochen; als die Bauern in Erbuntertänigkeit bei ihrem Aufstand 1525 die Abschaffung von alle möglichen Mißständen verlangten, wird dieses demütigende Deflorationsrecht des Gerichsherrn nicht erwähnt. Auch in verschiedenen Erwähnungen des Rechtes der ersten Nacht in französischen und spanischen Publikationen soll es sich, Kenntnis der Textxtellen vorausgesetzt, um Satiren oder absichtliche Verleumdungen handeln. In einer von der Römisch-katholische Kirche und deren Glaubensvorstellungen dominierten Gesellschaft des europäischen Mittelalters und der frühen Neuzeit war die Jungfräulichkeit einer Frau ein hohes Gut.

Das ius primae noctis als musikalisches und literarisches Motiv

Die bekannteste literarische Verarbeitung des ius primae noctis ist die Theaterkomödie Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro (La folle journée ou Le mariage de Figaro) (1778) von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais, auf dem auch die Oper Die Hochzeit des Figaro (Le nozze di Figaro, 1786) von Lorenzo da Ponte und Wolfgang Amadeus Mozart basiert. Auch die etwas frühere komische Oper Le droit du Seigneur von Jean Paul Egide Martini (Paris 1783) nach François-Georges Desfontaines-Lavallée handelt von diesem Recht des Gutsherren.

Friedrich Schiller erwähnt in dem Schauspiel Wilhelm Tell (1804), wie die Fürsten das ius primae noctis unter den Schweizern missbrauchten und dass dies mit ein Grund für den Aufstand und Befreiungskampf in der Schweiz wurde.

Im Roman 1984 von George Orwell wird das ius primae noctis erwähnt (Teil 1, Kapitel 7):

“There was also something called the jus primae noctis which would probably not be mentioned in a textbook for children. It was the law by which every capitalist had the right to sleep with any woman working in one of his factories.”

„Es gab auch etwas, was das Jus primae noctis genannt wurde, was wahrscheinlich nicht in einem Lehrbuch für Kinder erwähnt worden wäre. Es war das Gesetz, nach dem jeder Kapitalist das Recht hatte, mit jeder Frau zu schlafen, die in einer seiner Fabriken arbeitete.“

Das ius primae noctis steht in diesem Roman in einer Reihe klischeehaft überzeichneter Schilderungen der Übelstände des Kapitalismus in Anlehnung an die Missstände des Feudalismus, die durch die Französische Revolution als abgeschafft galten.

Literatur

  • Alain Boureau: Das Recht der Ersten Nacht. Zur Geschichte einer Fiktion. Patmos, Düsseldorf 1996, ISBN 3-538-07043-1 oder ISBN 3-491-96002-9.
  • Wilhelm Schmidt-Bleibtreu: Ius primae noctis im Widerstreit der Meinungen. Eine historische Untersuchung über das Herrenrecht der ersten Nacht. Röhrscheid, Bonn 1988, ISBN 3-7928-0498-0.
  • Jörg Wettlaufer: Das Herrenrecht der ersten Nacht. Hochzeit, Herrschaft und Heiratzins im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Campus, Frankfurt am Main u. a. 1999, ISBN 3-593-36308-9 (Volltext PDF) (Buchrezension)
  • Karl Schmidt: Jus primae noctis. Eine geschichtliche Untersuchung. Herder, 1881
  • E. A. Osenbrüggen: Deutsche Rechtsalterthümer aus der Schweiz. Zürich 1858 (besonders Kapitel 12: »Das ius primae noctis«)
  • Otto von Gierke: Der Humor im deutschen Recht. Berlin 1871
  • R. Kunz: Das angebliche Recht der ersten Nacht. In: Genealogie. Heft 1–2, 1996.

Einzelnachweise

  1. Classen, Albrecht: The medieval chastity belt: a myth-making process. Macmillan, 2007, ISBN 978-1-4039-7558-4, S. 151.
  2. http://www.voltaire-integral.com/Html/00Table/11_chap.html
  3. http://www.correspondance-voltaire.de/html/moeurs.htm
  4. Johannes Rogalla von Bieberstein: Adelsherrschaft und Adelskultur in Deutschland. Limburg an der Lahn 1998, ISBN 3-7980-0686-5.
  5. Walter Görlitz: Die Junker. Adel und Bauern im deutschen Osten. Limburg an der Lahn 1981, 4. Auflage
  6. a b Felix Aeppli: Geschichte der Gemeinde Maur. Gemeinde Maur, Maur 1979.
  7. Jörg Wettlaufer: Das Herrenrecht der ersten Nacht: Hochzeit, Herrschaft und Heiratszins im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-593-36308-9, S. 251ff.
  8. Manuel Senn, Lukas Gschwend, René Pahud de Mortanges: Die Offnung von Maur. (PDF; 57 kB) In: Rechtsgeschichte. 2009, abgerufen am 5. Juli 2012. basierend auf: Bruno Schmid: Die Gerichtsherrschaft Maur. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte. Band 12. Zürich 1963, S. 309–312.
  9. Walter Krämer (Ökonom), Götz Trenkler: Lexikon der populären Irrtümer, 1996, Band 2, S. 161, Eichborn Verlag Frankfurt am Main