Indischer Aufstand von 1857
Der Sepoy-Aufstand war ein Aufstand gegen die britische Kolonialherrschaft über Indien. Er begann am 10. Mai 1857 als Meuterei von Sepoys der Garnison von Meerut. Seine tieferliegende Ursache war die verbreitete Unzufriedenheit der indischen Oberschicht mit dem wachsenden kulturellen und religiösen Einfluß des britischen Imperialismus.

Bis zum Sepoy-Aufstand kann man von einer „echten“ Kolonialherrschaft Großbritanniens über Indien nicht sprechen, lokale Macht & die Regelung innerer Angelegenheiten lagen weitgehend in den Händen angestammter Adelsgeschlechter (sog. indirect rule). Großbritannien unterhielt zwar Garnisonen, war aber vor allem durch die rein kommerziell agierende East India Company vertreten. Die East India Company, oder Englische Ostindien-Kompanie, trat dabei als para-staatliche Organisation auf, z.B. durch Unterhalt eigener Truppen. Weithin wurden diese aus der indischen Bevölkerung als sog. Sepoys rekrutiert.
Das labile Gleichgewicht zwischen Oberherrschaft und Nichteinmischung wurde durch wachsende politische Einflussnahme und Kulturhegemonie empfindlich gestört: Reformversuche gegen das Kastenwesen, gegen die rituelle Witwenverbrennung, christliche Missionierung, sowie Erbgesetzgebung, die indischen Familien den Ausschluß zum christlichen Glauben übergetretener Angehöriger von der Erbfolge verbot.
Der eigentliche Auslöser der Meuterei war schließlich die einheitliche Neubewaffnung britischer Truppen mit dem Enfield-Infanteriegewehr, Kaliber .577. Diese Vorderlader-Büchse verschoss Papierpatronen, deren gefalztes Ende - gemäß britischem Exerzierreglement - vor dem Laden mit den Zähnen abgebissen werden musste. Um die Patronen vor Feuchtigkeit zu schützen (Schwarzpulver ist sehr hygroskopisch, gleiches gilt für das zwecks besserer Verbrennung nitrierte Papier) und eine geringere Verschmutzung der Waffe beim Schießen zu erreichen, mussten Papierpatronen mit Fett imprägniert werden. Innerhalb der britisch-indischen Streitkräfte machte schon bald nach Einführung der neuen Waffe das Gerücht die Runde, die Munition sei mit einer Mischung aus Rindertalg und Schweineschmalz behandelt. Für gläubige Hindus und für Moslems unter den Sepoy-Truppen musste dies gleichermaßen als schwerer Affront erscheinen, die befehlsgemäße Benutzung des Gewehrs hätte zu einer religiösen Unreinheit der Soldaten geführt. Demgemäß verweigerten mehrere Sepoys der Garnison in Meerut die Benutzung der Enfield-Büchsen und wurden dafür mit Prügeln und Inhaftierung in Ketten bestraft. Ihre Kameraden schritten daraufhin zur Gefangenenbefreiung und ermordeten ihre britischen Offiziere.
Unter der Führung des Nena Sahib (oder engl. Nana Sahib) (eigentlich: Dandu Pant), dem Adoptivsohn des letzten Peschwa von Bithur, einem der bedeutenderen Marathen-Fürstentümer, weitete sich der Auftstand über ganz Nord- und Teile von Zentralindien aus. Die Erhebung ging rasch weit über eine „Sepoy-Meuterei“ hinaus, und wurde zum Volksaufstand. Demgemäß lehnt die indische Geschichtsschreibung auch die Bezeichnung „Sepoy-Mutiny“ ab und spricht statt dessen vom „First war of Indian Independence“. Die Aufständischen erzielten anfangs rasch bedeutende Erfolge, darunter die Einnahme von Delhi. Die Festung Lucknow konnte trotz größter Schwierigkeiten von den Briten gehalten werden. Etliche unzufriedene Fürsten schlossen sich der Rebellion an. Die jugendliche Rani (Fürstin) Lakshmi Bai von Jhansi (* 1835, †17.06.1858 im Gefecht bei Kotah-ki-Serai nahe Gwalior) wurde hier durch ihren standhaften Widerstand bei der Verteidigung der Festung Jhansi sowie in den nachfolgenden Gefechten und ihren frühen Tod zur Volksheldin Indiens (die „Jeanne d'Arc von Indien“).
England reagierte schnell mit der Entsendung eines Expeditionsheeres, das die zweite Phase des Sepoy-Aufstands, die der Rückeroberung durch britisches Militär, einleitete. Der Umstand, dass es im Zuge der Erhebung verbreitet zu - teilweise bestialischen - Morden an britischen Zivilisten gekommen war, wirkte sich nun verhängnisvoll aus, indem es den Briten einen Vorwand zur weitgehend schrankenlosen Kriegführung lieferte. Berüchtigt sind in diesem Zusammenhang Massenerschießungen und die Hinrichtung indischer Aufständischer, indem man sie vor Kanonen band.
Schlecht organisiert und weitgehend von militärisch unfähigen Führern geleitet, wurde der Aufstand von englischen Truppen bis zum Spätsommer 1858 niedergeschlagen. Nach der Niederwerfung des Aufstands wurde die Britisch-Ostindische-Handelsgesellschaft (British-East-India Company) aufgelöst, da die englische Regierung in deren Praktiken bei der Behandlung der indischen Bevölkerung die Hauptursache für den Aufstand sah. Der letzte, nur noch nominell regierende, 80-jährige Großmogul, der nur eine Statistenrolle gespielt hatte, wurde abgesetzt und nach Burma verbannt, wo er 1863 starb.
Bibliographie
- Surendra Nath Sen, Eighteen fifty-seven . With a forew. by Maulana Abul Kalam Azad, Delhi : Min. of Information & Broadcasting, 1957 (klassische Darstellung aus indischer Perspektive)
- Saul David,The Indian Mutiny : 1857, Penguin Books, 2003