Gütergemeinschaft der Jerusalemer Urgemeinde
Als Gütergemeinschaft der Jerusalemer Urgemeinde (auch: Gütergemeinschaft der Urgemeinde oder Urchristliche Gütergemeinschaft) wird das das Einbringen und Teilen allen Eigentums bezeichnet, das die Apostelgeschichte im Neuen Testament (NT) als Kennzeichen dieser ersten Gemeinschaft des Urchristentums in Jerusalem herausstellt (Apg 2/4).
Die Bibelexegese der zugehörigen NT-Stellen ist vielfältig und fragt vor allem, welche Art Gemeineigentum gemeint war, ob diese Aussagen historische Realität spiegeln und welchen Geltungsanspruch sie für heutige Christen erheben sollen und können. Im Lauf der Christentumsgeschichte bewirkte die NT-Darstellung zahlreiche Versuche christlicher Gruppen, ihr Eigentum zu teilen und ganz oder teilweise gemeinsam zu verwalten.
Neues Testament
Im direkten Anschluss an das Pfingstwunder und die erste Missionspredigt des Simon Petrus beschreibt Apg 2,42-46 EU die Lebensweise der Jerusalemer Urgemeinde wie folgt:
„Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten. Alle wurden von Furcht ergriffen; denn durch die Apostel geschahen viele Wunder und Zeichen. Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte. Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Einfalt des Herzens. Sie lobten Gott und waren beim ganzen Volk beliebt. Und der Herr fügte täglich ihrer Gemeinschaft die hinzu, die gerettet werden sollten.“
Nach weiteren Missionserfolgen der Apostelpredigten erklärt Apg 4,32-36 EU:
„Und die Menge der Gläubigen war ein Herz und eine Seele; und auch nicht einer sagte, dass etwas von seinen Gütern sein eigen sei, sondern alle Dinge waren ihnen gemeinsam. […] Es litt auch niemand unter ihnen Mangel; denn die, welche Besitzer von Äckern oder Häusern waren, verkauften sie und brachten den Erlös des Verkauften und legten ihn den Aposteln zu Füßen; und man teilte jedem aus, so wie jemand bedürftig war.“
Nach diesen Summarien folgen Beispiele: „Josef aber, der von den Aposteln den Beinamen Barnabas erhalten hatte (das heißt übersetzt: »Sohn des Trostes«), ein Levit, aus Zypern gebürtig, besaß einen Acker und verkaufte ihn, brachte das Geld und legte es den Aposteln zu Füßen.“ Apg 5,1–11 EU erzählt die Geschichte von Hananias und Saphira: Hananias habe ein Grundstück verkauft und den Erlös den Aposteln gebracht, aber heimlich einen Teil für sich behalten. Petrus wirft ihm vor: „Hättest du es nicht als dein Eigentum behalten können? Und als du es verkauft hattest, war es nicht in deiner Gewalt?“ Die beiden erleiden den Tod als Strafe Gottes.
In Römer 15,25–29 EU schildert Paulus von Tarsus eine Spendenübergabe aus seinen Gemeinden an die Urgemeinde:
„Jetzt aber fahre ich hin nach Jerusalem, um den Heiligen zu dienen. Denn die in Mazedonien und Achaja haben willig eine gemeinsame Gabe zusammengelegt für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem. Sie haben's willig getan und sind auch ihre Schuldner. Denn wenn die Heiden an ihren geistlichen Gütern Anteil bekommen haben, ist es recht und billig, dass sie ihnen auch mit leiblichen Gütern Dienst erweisen.“
Auslegungen
In der neutestamentlichen Forschung wird seit dem 19. Jahrhundert die Historizität, Art, das Ausmaß und der Geltungsanspruch der NT-Texte zur urchristlichen Gütergemeinschaft diskutiert.
Freiwillige Besitzaufgabe oder verbindliches Kollektiveigentum?
Theo Sommerlad (1903) deutete Apg 2,44 („sie hatten alles gemeinsam“) als erweiterte Almosentätigkeit ohne organisatorische Regelhaftigkeit: „Nirgends findet sich in dem Bericht der Apostelgeschichte eine Andeutung, dass Hab und Gut oder Grundbesitz im Gesamteigentum irgend eines Verbandes gestanden oder einer gemeinschaftlichen Bewirtschaftung unterstanden hätten. […] Die Apostelgeschichte berichtet also durchaus nicht von irgend einer kommunistischen Einrichtung, weder von einem Kommunismus der Produktionsmittel, noch von einem Kommunismus des Konsums, sondern lediglich von der Einrichtung einer Armenunterstützung.“[1]
D.P. Seccombe (1982) deutete die Aufforderung zum völligen Besitzverzicht bei Lukas nicht als Forderung an alle Urchristen, sondern analog zu den Nachfolgerufen Jesu (vgl. Mk 10,21) als Aufforderung zum Besitzverzicht vornehmlich an Wohlhabende. Dabei gehe es vor allem darum, diejenigen, die sich für reich hielten, zu warnen, dass dieser Reichtum sie daran hindere, in das Reich Gottes einzugehen. Das Wort „Arme“ bei Lukas sei weder wörtlich noch ethisch zu verstehen, sondern charakterisiere dort die Erlösungsbedürftigkeit.[2]
Andere meinen, die Aussage „sie hatten alles gemeinsam“ sei als verbindliche Einlassbedingung für alle Mitglieder zu verstehen, die ihr ganzes Vermögen der Gemeinschaft zur Verfügung gestellt hätten. Diese habe es kollektiv verwaltet. Dieser Auslegungsstreit betrifft auch Apg 5: Für manche zeigt dieser Text, dass sich manche Personen der Gütergemeinschaft zu entziehen versuchten und deshalb durch göttliche Strafandrohung aus der Heilsgemeinschaft ausgeschlossen werden konnten. Das bedeute, dass die völlige Besitzaufgabe beim Eintritt in die Urgemeinde verbindliche Aufnahmebedingung für neue Mitglieder gewesen sei. Andere Ausleger meinen, nach der Aussage des Petrus (v.4) sei diese Besitzaufgabe freiwillig gewesen: Hananias hätte sowohl sein Land als auch seinen Verkaufserlös behalten können. Nur der Versuch, das Behalten eines Anteils des Erlöses vor der Gemeinde zu verbergen, werde als strafwürdig beschrieben.
Michael Schäfers (1998) meinte, die Eigentumsordnung der Jerusalemer Urgemeinde habe auf Privateigentum, privatwirtschaftlichem Erwerb und eigener Arbeit beruht. Dabei habe der Privatbesitz einzelner Christen einem Besitzausgleich mit dem Ziel einer Gemeinschaft ohne Arme dienen sollen. Von einer irgendwie gearteten gemeinschaftlichen Besitzform und einem kollektiven Verfügungsrecht sei keine Spur zu sehen. Die urchristliche Gütergemeinschaft sei als Ausdruck der Nachfolge Jesu im Zeichen der Naherwartung zu verstehen.[3]
Historische Realität oder konstruiertes Ideal?
Dass Apg 2/4 eine reale Situation spiegelt, setzen folgende Thesen voraus: Die Mitglieder der Urgemeinde seien durch ihre Bekehrung zum christlichen Glauben aus dem traditionellen jüdischen Sozialsystem herausgefallen und dadurch mittellos geworden. Die Gütergemeinschaft sei eine Antwort auf die soziale Not bestimmter Gemeindeschichten gewesen. Sie sei mit der Lebensgemeinschaft zwischen Jesus und seinen Jüngern zu erklären. Dieses Vorbild habe anfangs noch eine prägende Kraft entfaltet, weil eine Reihe der Urgemeindeglieder aus dem Kreis der ersten Nachfolger stammten und dessen Regeln weitergaben. Sie habe auch auf Jesu Kritik am Reichtum und Besitz (z.B. Matthäus 19,24 EU) reagiert. Sie sei aus der intensiven Naherwartung der Wiederkunft Christi, die im Urchristentum Allgemeingut war, zu erklären. Angesichts „des Endes aller Dinge“ (1 Petr 4,7ff EU) hätten materieller Besitz und persönlicher Reichtum an Bedeutung verloren.
Die Weitergeltung einer anfänglichen, als real angenommenen Gütergemeinschaft wird jedoch ebenfalls relativiert: Die Sammlung des Paulus zeige, dass die Urgemeinde später auf materielle Spenden anderer Gemeinden angewiesen war, ihre Gütergemeinschaft also praktisch zu Verarmung aller geführt habe und so gescheitert sei. Lukas habe das Scheitern der Gütergemeinschaft mit einem harmonisierenden Idealbild zu verschleiern gesucht.
Martin Lentsch sieht solche traditionellen Auslegungen auch als Versuche an, den Geltungsanspruch des lukanischen Vorbilds für heutige Christen abzuwehren. Er zählt dazu folgende Argumentationsweisen:
- konsequente Historisierung: Die Gütergemeinschaft sei nur aus der einzigartigen, aber unwiederbringlich vergangenen Naherwartung der Urchristen zu erklären.
- konsequente Enthistorisierung: Sie sei nicht real gewesen, sondern nur ein ideales Konstrukt des Lukas. Frühe Kritiker des Christentums hätten sie nicht erwähnt.
- Bestreiten des Vorbildcharakters: Von Gütergemeinschaft sei nur in der Apg die Rede, das Jerusalemer Modell sei schon im Urchristentum nur eines unter anderen.
- religionsgeschichtlicher Vergleich: Die Gütergemeinschaft wird aus außerchristlichen Parallelen erklärt und damit als dem Christentum wesensfremd interpretiert.
- Begrenzung der Reichweite und Wirksamkeit: Die Gütergemeinschaft sei ein Gemeindemodell, kein Gesellschaftsmodell. Sie sei auch laut Apg selbst nicht von allen Urchristen, sondern nur unter der Leitung der erstberufenen Apostel praktiziert worden und mit deren Ableben hinfällig geworden. Die Beteiligten seien dabei einem pfingstlichen Rausch verfallen gewesen. Sie habe zur Verarmung der Urgemeinde geführt.[4]
Verwirklichungsversuche
Die lukanische Darstellung der Urgemeinde (Apg 2/4) wirkte in der Christentumsgeschichte gleichwohl als Anstoß, Besitz mit Armen zu teilen und/oder ein Gemeinschaftseigentum zu verwirklichen. In den ersten Jahrhunderten wird oft Besitzverzicht reicher Christen und Kirchenbeamter überliefert, die Arme unterstützen wollten: so von Antonius, Basilius von Caesarea oder Ambrosius von Mailand.
Die im 4. Jahrhundert entstehende Klosterbewegung war ursprünglich eher von der Idee der Askese und der Abkehr von der Welt inspiriert als vom Vorbild urchristlicher Gütergemeinschaft. Dies zeigen die traditionellen Ordensgelübde. Allerdings nimmt die um 397 entstandene Augustinusregel deutlich Bezug auf Apg 2: „Das ist es, was wir euch im Kloster gebieten. Das erste Ziel eures gemeinschaftlichen Lebens ist, in Eintracht zusammenzuwohnen und ein Herz und eine Seele in Gott zu sein. Deshalb nennt nichts euer eigen, sonderen alles gehöre euch gemeinsam“ (Kap. 1).
Im ganzen Mittelalter und der frühen Neuzeit unternahmen Mönchsgemeinschaften in Klöstern Versuche, Gütergemeinschaft zu leben: sei es als besondere ethische Lebensweise von kirchlich erlaubten Bettelorden wie den Benediktinern, Franziskanern und Minoriten[5], sei es als Reaktion auf soziale Notlagen, Kritik an ungleichen Besitz- und Machtverhältnissen in Kirche und Gesellschaft und Anstoß zu weitergehender Gesellschaftsveränderung. Solche Versuche traten vermehrt im 15. und 16. Jahrhundert vor und während der Reformation auf: etwa den tschechischen Taboriten, unter Hans Böhm (Pauker von Niklashausen), bei Nikolaus Storch, Thomas Müntzer, Hans Hergot (Sachsen, Thüringen), Michael Gaismair, Jakob Hutter und den Hutterern (Tirol).[6]
Weitere Gütergemeinschaften gab es bei verfolgten christlichen Minderheiten im 17. Jahrhundert, etwa bei Gerrard Winstanley und den Levellers im englischen Bürgerkrieg (1642-1649), später bei ausgewanderten Sondergruppen wie den Duchoborzen in Russland und den Labadisten in den USA. Im großkirchlichen Rahmen gibt es ebenfalls Gruppen mit Lebensformen, die sich an Apg 2 anlehnten: etwa die Brüder vom gemeinsamen Leben, die Diakonissen, evangelische Kommunitäten, Jesus-Bruderschaften, die Fokolar-Bewegung und die Numerarier des Opus Dei.
Seit etwa 1830 wurde die urchristliche Gütergemeinschaft als Begründung für die Ideale und Ziele des Frühsozialismus herangezogen und als Impuls für eine umfassende Gesellschaftsreform oder Sozialrevolution gedeutet: zum Beispiel von Félicité de Lamennais und Wilhelm Weitling.[7]
Inspiriert von den Ideen der Radikalen Reformation und des Religiösen Sozialismus gründeten das Ehepaar Eberhard und Emmy Arnold 1920 in Sannerz (Hessen) den ersten „Bruderhof“. Die Bruderhöfer gründeten bis heute weitere Niederlassungen in den USA, in Paraguay und Australien, die Gütergemeinschaft leben.[8]
Literatur
- Exegetische Kommentare zu Apg 2–5 unter Apostelgeschichte: Literatur
- Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.): Alles gehört allen. Das Experiment Gütergemeinschaft vom 16. Jahrhundert bis heute. Beck'sche schwarze Reihe 289. Beck, München 1984, ISBN 3-406-09289-6
- Hans-Dieter Plümper: Die Gütergemeinschaft bei den Täufern des 16. Jahrhunderts. Göppinger Akademische Beiträge Nr. 62, Verlag Alfred Kümmerle, Göppingen 1972. Gleichzeitig Dissertation an der Universität Würzburg.
Einzelnachweise
- ↑ Theo Sommerlad: Das Wirtschaftsprogramm der Kirche des Mittelalters. Leipzig 1903, S. 23f.
- ↑ D. P. Seccombe: Possesions and the Poor in Luke-Acts. 1982, S. 23, 133f., 198
- ↑ Michael Schäfers: Prophetische Kraft der kirchlichen Soziallehre? Armut, Arbeit, Eigentum und Wirtschaftskritik. Münster 1998, S. 129
- ↑ Martin Leutzsch: Erinnerung an die Gütergemeinschaft. Über Sozialismus und Bibel. In: Richard Faber (Hrsg): Sozialismus in Geschichte und Gegenwart. Würzburg 1994, S. 77-93
- ↑ Anton Grabner-Haider, Johann Maier, Karl Prenner: Kulturgeschichte des späten Mittelalters: Von 1200 bis 1500 n. Chr. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012, ISBN 3525530382, S. 47f.
- ↑ Hans-Dieter Plümper: Die Gütergemeinschaft bei den Täufern des 16. Jahrhunderts. 1972
- ↑ Hans Jürgen Goertz: Alles gehört allen. Das Experiment der Gütergemeinschaft vom 16. Jahrhundert bis heute. München 1988
- ↑ Robert Friedmann: Artikel Bruderhof, in: Global Anabaptist Mennonite Encyclopedia Online (GAMEO); eingesehen am 31 Januar 2013