Salafismus in Deutschland

islamistische Bewegung in Deutschland
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Der Salafismus ist, laut Einschätzung der Verfassungsschutzbehörden, die gegenwärtig dynamischste islamistische Bewegung in Deutschland. Es handelt sich dabei um eine Richtung innerhalb des politischen Islam, die sich strikt an der Gründungszeit der Religion ausrichtet. Der Verfassungsschutz kategorisiert den Salafismus als extremistische Ideologie. Diese versucht, durch intensive Propagandatätigkeit (die sog. „Da’wa“, d.h. Ruf zum Islam/Missionierung), die deutsche Gesellschaft entsprechend ihrer Vorschriften zu verändern.[1]

In der öffentlichen Diskussion hat der Begriff des Salafismus eine Bedeutungserweiterung erfahren und wird bisweilen inflationär benutzt und bezeichnet im Alltagsgebrauch die „Rückwärtsgewandtheit“ von Muslimen, die versuchen, die Sitten und Gebräuche des 7. Jahrhunderts als angebliche Tradition in der modernen Welt zu leben. Teilweise werden auch militante Gruppierungen als salafistisch bezeichnet.

Salafistische Organisationen stehen unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, demzufolge beinahe alle bekannten islamistischen terroristischen Strukturen und Personen in Deutschland salafistischen Strömungen zuzurechnen sind.[2]

Ursprünge und Definition

Der neofundamentalisische Salafismus ist deutlich zu unterscheiden von den historischen Anfängen des Salafismus als modernistische Schule der Jahrhundertwende und anti-koloniale Bewegung. Nach der Enttäuschung über die nationalistischen und sozialistischen Politikresultate, insbesondere über die des Krieges zwischen den arabischen Staaten und Israel 1967, und nach dem Aufkommen der Islamischen Revolution im Iran 1979, erfuhren religiöse muslimische Strömungen in den arabischen Staaten einen enormen Auftrieb, im Zuge dessen sich auch eine neue Salafiyya-Bewegung formierte.

Diese heutige Salafiyya-Bewegung hat sich jedoch weit von der modernen Schule entfernt. Für die Einstellung der neuen Formation verwendet Olivier Roy den präziser definierten Begriff des Neofundamentalismus, der sehr heterogene Gruppen umfasst.[3] Er ist zweigeteilt in einen konservativen Teil sowie einen dschihadistischen Flügel.[4]

  • Der erste geht zurück auf die vormoderne Salafiyya wahhabitischer Prägung und hat sein geistiges Zentrum heute dementsprechend in Saudi-Arabien.
  • Der dschihadistische Salafismus ist militant.

Dabei werden heute Wahhabismus und Salafiyya teilweise austauschbar verwendet. Die Wahhabiten sind Teil der vormodernen Salafiyya und gehören auch zur zeitgenössischen Salafiyya; von der modernistischen Salafiyya waren sie zunächst stark unterschieden. Diejenigen Wahhabiten, welche den Bezug auf Muhammad bin Abd al-Wahhab in ihrer Selbstbezeichnung vermeiden möchten, bezeichnen sich ebenfalls als Salafis und nehmen für sich in Anspruch, den „ursprünglichen“ Islam zu praktizieren, da auch ihnen die Salaf als Autoritäten dienen.

Während die modernistische Salafiyya durch Rückbesinnung auf ursprüngliche Werte den Muslimen eine zivilisatorische Vorreiterrolle (wieder) verschaffen wollte/will, möchte der islamistische Neofundamentalismus die religiöse Zeituhr zurückdrehen und betrachtet die heutige Welt insgesamt als feindlich. Insofern steht er der Salafiyya der Jahrhundertwende diametral entgegen. Er gilt als die am schnellsten wachsende radikale Strömung des Islams.[5] Es handelt sich um eine entterritorialisierte Bewegung, die losgelöst von jeder kulturellen „Verunreinigung“ die „wahre“ Religion praktizieren möchte.[6]

Situation in Deutschland

Laut Islamwissenschaftler Benno Köpfer gibt es drei- bis fünftausend Salafisten in Deutschland,[7] der Islamwissenschaftler Guido Steinberg spricht von vier- bis fünftausend Anhängern.[8] Die Mehrzahl der salafistischen Einrichtungen in Deutschland ist nach Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz dem politischen Salafismus zuzuordnen. Dieser stütze sich auf intensive Propagandatätigkeit. Demgegenüber glaubten Anhänger des jihadistischen Salafismus, ihre Ziele durch Gewaltanwendung realisieren zu können.[9] Es gäbe bundesweit etwa 100 bis 150 vom Verfassungsschutz als „Gefährder“ bezeichnete Menschen, die tatsächlich zu Attentätern werden könnten.[10]

Salafistische Vereine in Deutschland

Zu den bekannteren radikalen Vereinen zählen beispielsweise das 2005 verbotene Multikulturhaus sowie das im September 2007 aufgelöste Islamische Informationszentrum (IIZ) im Großraum Ulm/Neu-Ulm.[11] Der Verein Einladung zum Paradies (EZP), der zu den Salafisten gerechnet wird, wurde wegen seiner diskriminierenden Haltung gegenüber Frauen und Homosexuellen vom Verfassungsschutz beobachtet. Zu diesem Verein gehört auch der deutsche Konvertit Pierre Vogel, der besonders durch Video-Predigten im Internet missioniert.[12] 2011 löste sich der Verein auf.

Missionierung und Propaganda

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Infostand zum Verteilen des Koran in der Bremer Innenstadt Pfingsten 2012

Neben der Internet-Propaganda hat seit 2012 die Missionsaktivität extremistischer Salafismusprediger wie Ibrahim Abou-Nagie im gesamten Bundesgebiet deutlich zugenommen, Schwerpunkte liegen in Nordrhein-Westfalen, Frankfurt, Ulm und Berlin. Ziel der intensivierten Anstrengungen ist es laut Verfassungsschutz, „Konversionen zum Islam salafistischer Prägung herbeizuführen und damit diese Form des religiös motivierten Extremismus in Deutschland weiterzuverbreiten.“[13]

Über die Osterfeiertage 2012 verteilten Salafisten in 35 deutschen Städten kostenlose Ausgaben des Koran. In der von Abou-Nagie geleiteten und seit Monaten laufenden Kampagne wurden nach Schätzungen bislang dreihunderttausend Exemplare verteilt.[14] Verteilungsverbote einiger Städte wurden von salafistischen Helfern umgangen.[15] Laut einer Umfrage von Info GmbH heißen zwei Drittel der jungen Türken in Deutschland die Verteilungsaktion gut, während ein ebenso großer Anteil bei den über 50-Jährigen die Aktion ablehnt. Bei den 30- bis 49-Jährigen überwiegt geringfügig die Ablehnung.[16]

Verbindung zum Terrorismus

Im Rahmen der Innenministerkonferenz im Juni 2011 warnten die deutschen Innenminister vor den Gefahren des zeitgenössischen, neofundamentalistischen Salafismus. Zum Abschluss des Treffens meinte der hessische Staatsminister des Inneren und Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Boris Rhein, der Salafismus sei der „Nährboden für islamistischen Terrorismus.“[17] Nach Kenntnissen des Verfassungsschutzes „sind fast alle hier (in Deutschland) bisher identifizierten terroristischen Netzwerkstrukturen und Einzelpersonen salafistisch geprägt bzw. haben sich in salafistischen Milieus entwickelt“.[11][2] So waren alle Terroristen des 11. September 2001 Salafisten, darunter auch die drei Selbstmordattentäter der Hamburger Zelle.[14] Auch die Mitglieder der Sauerland-Gruppe und deutsche Dschihadisten wie Eric Breininger sind dem fundmentalistisch-salafistischen Umfeld zuzuordnen.

Verbotsdebatten

Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz Boris Rhein wertete im Juni 2011 den Salafismus als „ein Integrationshemmnis allererster Güte. Was Salafisten predigen, konterkariert sämtliche Integrationsbemühungen.“ Rhein forderte eine Änderung des Aufenthaltsgesetzes, um Hassprediger leichter abschieben zu können, und eine aktive Mitarbeit von muslimischen Verbände bei der Bekämpfung des radikalen Salafismus.[18]

Radikale und islamistische Ausprägungen des Islam wie der zeitgenössische Salafismus sollen in Deutschland unter Mitwirkung von islamischen Verbänden wie des Koordinationsrates der Muslime in Deutschland und der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DİTİB) durch „Präventionsgipfeltreffen“ eingedämmt und verhindert werden. Nicht nur von Sicherheitsbehörden, auch von muslimischen Organisationen in Deutschland werde eine pauschalisierende, negative Haltung der deutschen Mehrheitsgesellschaft gegenüber Muslimen durch die Aktivitäten neofundamentalistischer Salafisten wahrgenommen.[19]

Nach gewalttätigen Ausschreitungen am Rande einer Pro NRW-Demonstration in Bonn, bei der zwei Polizisten durch Messerstiche schwer verletzt wurden, bezeichnete Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich im Mai 2012 die beteiligten Salafisten als „Ideologen, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährden“ und kündigte die Prüfung von Verboten salafistischer Vereine in Deutschland an.[20] Der Zentralrat der Muslime in Deutschland verurteilte die Gewalt der islamistischen Demonstranten. Die Generalsekretärin des Zentralrats Nurhan Soykan erklärte: „Wir distanzieren uns ausdrücklich von gewaltbereiten Muslimen, die zur Selbstjustiz anstacheln und die Polizei angreifen.“[21] Im Rahmen der Aktion "Vermisst" sagte Friedrich, dass das Innenministerium und er den Salafismus bekämpfen.[22]

Verbot von „Millatu Ibrahim“ und Ermittlungsverfahren

Am 14. Juni 2012 erließ Innenminister Friedrich ein erstes Verbot gegen das islamistische Netzwerk Millatu Ibrahim aus Solingen.[23] Gleichzeitig fanden groß angelegte Razzien in sieben Bundesländern statt, bei denen die Polizei Objekte radikaler Salafisten durchsuchte. Gegen zwei weitere Gruppierungen, Dawa FFM und Die Wahre Religion, wurden vereinsrechtliche Ermittlungsverfahren eingeleitet.[24][25]

Mit einer Videobotschaft rief Dennis Cuspert, untergetauchter Anführer der verbotenen Gruppe Millatu Ibrahim, seine Glaubensbrüder zum Heiligen Krieg auf: „Setzt euch ein für den Dschihad, wandert aus oder führt ihn hier durch.“ In seiner Botschaft wandte sich der Salafistenführer an die Bundeskanzlerin, den Innenminister und Außenminister. „Wir werden den Dschihad in eure Länder bringen“, heißt es in dem Video, in dem mit Anschlägen in Deutschland gedroht wird. „Ihr setzt Millionen und Milliarden ein für den Krieg gegen den Islam. Und deshalb ist dieses Land hier, die Bundesrepublik Deutschland, ein Kriegsgebiet“, sagte Cuspert. Am 5. Mai 2012 war Cuspert an den Ausschreitungen bei einer Demonstration in Bonn beteiligt, bei welchen einige Polizisten durch Messerstiche verletzt wurden. Nach dem Verbot seiner Gruppe soll er sich mit zahlreichen gewaltbereiten Anhängern in Ägypten aufhalten.[26]

Bewertung durch liberale Muslime

Von Vertretern liberaler Bewegungen im Islam wie der Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor werden die Positionen und die Missionierungsversuche salafistischer Aktivisten abgelehnt. Kaddor fühlt sich durch salafistische Missionierungsaktionen und Koranverteilungsaktionen in ihrer Arbeit „um mindestens 20 Schritte zurückgeworfen“.[27]

Bekannte Salafisten der letzten Jahrzehnte in Deutschland

Literatur

  • Dirk Baehr: Salafistische Propaganda im Internet: Von der reinen Mission bis zum globalen Jihad – Die wesentlichen Unterschiede unter den salafistischen Strömungen in Deutschland, in: Magdeburger Journal für Sicherheitsforschung, 4. Ausgabe, Band 2 (2012) http://www.sicherheitsforschung-magdeburg.de/uploads/journal/MJS-016.pdf
  • Dirk Baehr: Charakteristika salafistischer Strömungen in Deutschland, in: Uwe Backes/ Alexander Gallus/ Eckhard Jesse (Hrsg.): Jahrbuch für Extremismus und Demokratie, Ausgabe 22, Baden Baden 2010
  • Olivier Roy: Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung. Pantheon, München 2006, RM Buch und Medien, Gütersloh 2007, BpB, Bonn 2007. ISBN 3-89331-731-7

Filme

Einzelnachweise

  1. Salafistische Bestrebungen in Deutschland. Bundesamt für Verfassungsschutz und Landesbehörden für Verfassungsschutz, Köln, April 2012, S. 8
  2. a b Bundesverfassungsschutz: Salafistische Bestrebungen, abgerufen am 17. August 2012
  3. Olivier Roy: Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung. Pantheon, München 2006, RM Buch und Medien, Gütersloh 2007, BpB, Bonn 2007. ISBN 3-89331-731-7, S. 230
  4. Olivier Roy: Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung. Pantheon, München 2006, RM Buch und Medien, Gütersloh 2007, BpB, Bonn 2007. ISBN 3-89331-731-7, S. 232
  5. Stichwort:Hintergrund Salafismus Tagesschau.de. 22. Juni 2011, abgerufen am 25. Juni 2011
  6. Olivier Roy: Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung. Pantheon, München 2006, RM Buch und Medien, Gütersloh 2007, BpB, Bonn 2007. ISBN 3-89331-731-7, S. 254f.
  7. Tübinger Terrorismus-Konferenz: Islamisten sehen sich als Fremde und Verfolgte, Schwäbisches Tagblatt, 11. September 2010
  8. Terror in Germany: An interview with Guido Steinberg by Raff Pantucci, ca. 2011
  9. Salafistische Bestrebungen
  10. Gewaltausbrüche: "Salafismus ist eine maximale Protesthaltung"
  11. a b Salafistische Bestrebungen in Deutschland. Bundesamt für Verfassungsschutz und Landesbehörden für Verfassungsschutz, Köln, April 2012, S. 9
  12. Wie Salafisten Frauen unterdrücken. Rheinische Post, 7. August 2010
  13. Salafisten: Einen Koran in jeden Haushalt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 3. April 2012, abgerufen am 3. April 2012.
  14. a b Süddeutsche Zeitung: Radikal-islamische Missionierung. Im Auftrag des Herrn, vom 9. April 2012, abgerufen am 10. April 2012
  15. Die Welt: Wie Salafisten Verbote von Koran-Ständen umgehen, vom 9. April 2012, abgerufen am 10. April 2012
  16. Der Spiegel: Junge Deutsch-Türken finden Koran-Aktion gut, 16. August 2012, abgerufen am 17. August 2012
  17. Konferenz in Frankfurt am Main: Innenminister warnen vor Salafismus Tagesschau.de, 22. Juni 2011, abgerufen am 22. Juni 2011
  18. Die Welt: Innenministerkonferenz: Minister warnt vor islamistischen Hasspredigern, vom 21. Juni 2011, abgerufen am 20. August 2012
  19. „Präventionsgipfel“ mit muslimischen Verbänden: Rezept gegen Radikalisierung dringend gesucht Tagesschau.de, 24. Juni 2011, abgerufen am 27. Juni 2011
  20. Friedrich über Salafisten. Innenminister will Verbot islamistischer Vereinigung prüfen. Focus, 9. Mai 2012.
  21. Ausschreitungen zwischen Polizei und Salafisten Focus.de, 8. Mai 2012. Abgerufen am 19. Juni 2012
  22. "Hochgradig unsensibel". WDR, 26. September 2012, abgerufen am 26. September 2012.
  23. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/salafisten-mit-razzien-und-vereinsverbot-gegen-radikalislamisten-a-838813.html
  24. Reimann, Anna: Islamismus in Deutschland: Innenminister Friedrich verbietet Salafistenverein bei Spiegel Online, 14. Juni 2012 (abgerufen am 14. Juni 2012).
  25. Islamismus: Polizei startet Großrazzia gegen Salafisten bei Spiegel Online, 14. Juni 2012 (abgerufen am 14. Juni 2012).
  26. Salafistenführer droht mit Anschlägen in Deutschland, 3. September 2012
  27. Salafismus: Die ziehen meine Religion in den Dreck Zeit Online, 15. Juni 2012. Abgerufen am 17. August 2012
  28. Bericht dazu von Güner Y. Balci: Integration in Berlin. Im Schatten der Al-Nur-Moschee; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ausgabe vom 24. Februar 2009