Die Phänomenologie (griechisch phainomenon = Sichtbares, Erscheinung; logos = Rede, Lehre) ist die Lehre von der Untersuchung der Erscheinungen des Gegebenen, im Gegensatz zum Logos, der Zugangsart.
Begriffsgeschichte
Der Begriff Phänomenologie oder phänomenologisch geht auf das 18. Jahrhundert zurück und findet sich bei F.Ch. Oetinger (Philosophie der Alten), sowie bei J.H. Lambert. Kant gebraucht den Begriff ebenfalls um dadurch einen Lehre von den Grenzen der Sinnlichkeit zu beschreiben. Schließlich steht der Begriff im Werk Hegels Phänomenologie des Geistes an prominenter Stelle. Eigenständige philosophische Methode wird die Phänomenologie allerdings erst Anfang des 20. Jahrhunderts durch Edmund Husserl.
Phänomenologie Husserls
Ziel Husserls ist es, die Phänomenologie als "erste Wissenschaft" (Prima philosophia) wieder zu rehabilitieren. Nach Husserl kann nur eine phänomenologische Philosophie den Vorbedingungen einer wahrlich strengen Wissenschaft genügen, weil eine naturalistische oder experimentelle Philosophie auf Vorurteilen und Existenzannahmen basiert, also nicht an den „Sachen selbst” sich orientiert, eine Vorgehnsweise, die schließlich die gesamte Strömung der Phänomenologie charakterisieren wird. Diese Vorgehensweise soll sicherstellen, dass sich die Wissenschaften nur von einer Evidenz leiten lassen, die aus dem unmittelbaren Bewußtseinserleben entstammen.
Wurzel der Phänomenologie
Husserls Phänomenologie ist stark beeinflusst von Brentanos deskriptiver Psychologie, die ebenfalls die psychischen Phänomene beschreibt, unabhängig von den sie erzeugenden physischen Reizen. In Abgrenzung zu einer empirischen Psychologie hatte Brentano den Begriff des intentionalen Bewusstseins gebildet. Dieser ist Ausdruck der Überzeugung, dass Bewusstsein niemals ohne Bezug auf etwas ist: Bewusstsein ist immer Bewusstein von etwas. Diese trivial anmutende Entdeckung ebned aber den Weg zu einer der grundlegenden philosophischen Frage - der Spaltung der Welt in Subjekt und Objekt. Erst durch den intentionalen Charakter des Bewusstseins konnte dieses Problem neu beantwortet werden.
Auch Brentano ging davon aus, dass sich die Grundlagen der Logik nicht in einer naturalistischen Psychologie begründen lassen. Husserl greift diesen Aspekt auf und weitet diesen Gedanken letztlich von einer deskriptiven Psychologie Brentanos auf eine transzendentale Phänomenologie, die die Möglichkeiten von Bewusstseinsakten überhaupt erklärt.
Die Psychologismuskritik
Die philosophische Ausgangslage Husserls war die zu seiner Zeit herrschende Annahme, dass Wahrheiten relativ betrachtet werden müssen und sich nur in ihrer jweiligen historischen Form zeigen (Historismus), oder aber Produkt einer naturalistisch gedachten Psyche sind (Psychologismus). Philosophie wäre demnach keine Form der Erkenntnisgewinnung mehr - sie hätte damit ihre Aufgabe an die Psychologie abzugeben. Dieser Auffassung setzte Husserl seine Kritik des Psychologismus entgegen. Nach Husserl ist die These des Psychologismus, dass die Logik ein Teil der Psychologie sei, da diese, als Wissenschaft der Psyche, dem Ort des Denkens, sich eben auch mit den Denkgesetzen beschäftige. Demnach wäre Logik die Lehre vom Denken, Schließen und Urteilen und ein Spezialfall der psychischen Fähigkeiten. Husserl widerspricht dieser Auffassung in doppelter Hinsicht. Zunächst zeigt er auf, dass die Konsequenz des Psychologismus eine bloße Relativität logischer Gesetze zur Folge hätte. So würde der Satz vom Widerspruch zu einer bloßen Wahrscheinlichkeit werden, da empirische Regeln keine Allgemeingültigkeit beanspruchen können. Ein weiteres Problem betrifft die Denkakte und deren Richtigkeit. Wenn die Gesetze der Logik rein empirischer Natur wären, abgeleitet aus den Denkgesetzen, ist damit noch nicht geklärt, dass diese auch richtig sind. So gibt es durchaus logisch falsche Urteile, die ebenfalls dem Denken entspringen. Somit kann das Kriterium der Richtigkeit nicht selber im Denken liegen, es sei denn falsche Urteile würden einer anderen Denkabfolge unterliegen, wobei dann wiederum die Frage bliebe, was denn nun das Kriterium für richtig oder falsch sei. Husserl ist der Überzeugung, dass der Psychologismus letztlich die Denkinhalt, z. B. das Urteil, nicht von dem Denkverlauf, dem Urteilen selber unterscheidet. Somit ist das Urteilen selber real, während der Urteilsinhalt ideal ist.
Intentionalität des Bewusstseins
Die Philosophen und Psychologen Franz Brentano und Carl Stumpf waren wichtige Lehrer Husserls, aus deren Theorien er die zentralen Ideen für seine Phänomenologie hergeleitet hat. Das in dieser Hinsicht wichtigste, von Brentano übernommene Element ist das Konzept der Intentionalität des Bewusstseins.
Mit Intentionalität ist die Tatsache gemeint, dass unser Bewusstsein immer auf etwas gerichtet ist, also ein Bewusstsein "von etwas" ist. Husserl differenziert dies noch
- "noetisch" ist, was sich auf den Bewusstseinsakt (glauben, wollen, hassen, lieben ...) bezieht
- "noematisch" ist, wie der Gegenstand durch diese noetischen Akte erscheint (das jeweils Geglaubte, Gewollte, Gehasste, Geliebte ...).
Was wir betrachten, ist also nicht der Gegenstand, wie er wirklich ist, sondern der ihm durch die intentionalen Akte des Bewusstseins gegebene Sinn. Will man aber das Wesen eines Gegenstandes erkennen, so bedarf es einer Ausschaltung dieser "unwesentlichen" Eigenschaften, die ja zudem immer subjektiv sind.
Die Epochè
Die Phänomenologie ist eine Denkmethode, die von der Frage absieht, ob der Erkenntnisgegenstand auch unabhängig vom erkennenden Bewusstsein existiert. Das phänomenologische Denken klammert sukzessive jede Vormeinung und Vorentscheidung ein. Ziel ist dabei, "zu den Sachen selbst" vorzudringen. Das auf diese Weise geschaute Phänomen zeigt am Ende sein gesamtes reines Wesen oder seine Idee (griech.= eidos)
Das Einklammern der Vormeinungen nannte Husserl "eidetische Reduktion", bzw. "Epoché" (Enthaltung, Innehalten). Dabei sollen zunächst alle theoretischen Annahmen (Hypothesen, Beweisführungen, tradiertes Vorwissen ...) über den betrachteten Gegenstand ausgeschaltet werden. In einem zweiten Schritt (die transzendentale eidetische Reduktion) wird die Existenz des Gegenstandes insofern außer Betracht gelassen, dass sich nur die "Washeit" zeigt, also auf das, was der Gegenstand ist, sein Wesen.
Die sukzessive Einklammerung der (zunächst) nebensächlichen Aspekte oder Eigenschaften ist aber keine Leugnung. Sie enthält auch kein Werturteil über das Eingeklammerte. Es kann anschließend ebenso phänomenologisch betrachtet werden. Die Einklammerung ist nur nötig für die Dauer der Betrachtung eines einzelnen Phänomens. Dies erst macht den Blick frei für eine intuitive Wesensschau. Das Phänomen zeigt sich nun von selbst in seinem ganzen Wesen.
Aus der Perspektive des transzendentalen Bewusstseins wird das Sein nur noch als Korrelat des Bewusst-Seins angesehen, ohne also Annahmen oder Urteile über das tatsächliche Sein oder Nicht-Sein der Bewusstseinsinhalte. Diese Methode nähert sich den Gedankenexperimenten von Descartes und Hobbes über die so genannte "Weltvernichtung" (d.h. was bleibt erhalten, wenn es die physische Welt nicht mehr gäbe?). Hiermit ergibt sich aber auch sofort eines der größten Probleme der Phänomenologie. Husserl hatte nämlich einen Unterschied angebracht zwischen Bewusstseins-Akt (Noesis) und Bewusstseins-Inhalt (Noema). Nun ist dies eigentlich eine Einteilung in was das Bewusstsein ist und was es bedeutet (das Bewusstsein ist ja schließlich nach Brentano immer intentional). Wie kann man aber sagen, dass die Inhalte des Bewusstseins noch Bedeutung haben, wenn wir jegliche Existenz ausgeklammert haben? Husserl wollte die Existenz ausklammern, da die Objekte das Bewusstsein transzendieren: wenn es sie gibt, so gibt es sie außerhalb des Bewusstseins selber. Daher, um die reinen Ideen gewinnen zu können, muss ihre Existenz ausgeklammert werden. Die Phänomenologie muss verantworten können, wann und wie es möglich sei, dass das Bewusstsein sich auf etwas Bewusstsein-transzendentes bezieht. Husserls Erklärung wird lauten, dass der Inhalt sehr wohl Bewusstsein-transzendent ist, aber dass das Intendieren selber Bewusstsein-immanent sein muss. Also wird etwas immer immanent intendiert, während es als Bewusstsein-transzendent intendiert wird (weil es, wenn es existieren würde, außerhalb des Bewusstseins sein würde).
Freie Variation
Was liefert nun diese Methode? Durch freie Variation in der Fantasie kann ich mir unterschiedliche aber sich gleichende Sachen vorstellen. Jede dieser Sachen wird nur von dem logisch Möglichen begrenzt, nicht von Existenz-Möglichkeit. In dieser freien Variation kann ich dann Konstanten entdecken, wo sich die unterschiedlichen Varianten sozusagen "decken", z.B. Scharlach und Bordeaux sind unterschiedlich, aber doch beide Rot. Es ist diese Deckung, diese Identität in der eidetischen Variation, welche die Allgemeinheit ergibt, die Husserl Idee nennt. Das Husserlsche eidos ist eine platonische Idee, aber ohne seine Metaphysik. Es ist das Wesen, eine Allgemeinheit, die anschaulich, intuitiv gegeben ist. Wichtig dabei ist der Unterschied zwischen empirischer Generalisation und dieser Ideation: empirische Anschauung ist immer begrenzt, während reine eidetische Variation unendlich ist, da sie nicht nur das aktuell Existierende schaut, sondern alle logischen Möglichkeiten in Anspruch nimmt. Wenn nach Husserl die Philosophie strenge Wissenschaft sein soll, so benötigt sie diese Universalität und die durch ihr gegebene Möglichkeit einer letzten Begründung, welche die Phänomenologie liefert.
Wirkungsgeschichte Husserls
Die Phänomenologie wurde zu einer der wichtigsten Strömung der zeitgenössischen kontinentalen Philosophie. Die Soziologie profitierte von ihr vor allem in Arbeiten von Alfred Schütz. Die Phänomenologie beeinflusste die Wertethik als Wesensanalytik des Ethischen (Moritz Geiger, Hans Reiner, Max Scheler), fand Eingang in die Psychologie (Alexander Pfänder) und die Rechtswissenschaften (Adolf Reinach). Das phänomenologische Denken hat die Entwicklung des Existenzialismus in Deutschland und Frankreich entscheidend geprägt und voran getrieben. Es zieht sich durch die wichtigsten Werke von Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty, Paul Ricoeur. Am treusten verfolgte Eugen Fink, Assistent Husserls, die Linie Husserls.Martin Heidegger ebenfalls Assistent Husserls und prominentester Vertreter der phänomenologischen Forschung, entwickelte schnell einen eigenen phänomenologischen Zugang. Husserls Gedanken übten einen starken Einfluss auf Lore Perls aus, eine der Mitbegründerinnen der Gestalttherapie.
Zeitgenössische phänomenologische Theorien
Die Phänomenologie hat viele der heutigen philosophischen Strömungen beeinflusst. Dabei ist zu bemerken, dass vielfach gerade Philosophen, die sich kritisch zur Phänomenologie stellen, z.B. Foucault, Derrida stark durch sie beeinflusst wurden. Reine phänomenologische Theorien stehen meist im Kontext des universitären Denkens.
Phänomenologie des Fremden
Bernhard Waldenfels hat mit seiner responsiven Phänomenologie, die stark an Merleau-Ponty orientiert ist, eine Phänomenologie des Fremden entwickelt, in der das Fremde als nicht zu übersteigende Grenzregion beschrieben wird. Insbesondere in den gesellschaftlich wichtigen Fragen wie Gewalt, Fremde, Kranheit und Tod, zeigt seine Phänomenologie Zugangsformen an der Grenze.
Strukturontologie
Im kritischen Anschluss an Husserl und Heidegger sowie im Überstieg phänomenologische Grundansätze von 'Transzendentaler oder Horizont-Phänomenologie' bei E.Husserl und 'Ontologischer oder Daseins-Phänomenologie' bei M.Heidegger, entfaltet Heinrich Rombach mit der Genetischen oder Strukturphänomenologie eine 'Phänomenologie der Je-Welten'.
Phänomenologie in anderen Wissenschaften
In vielen Wissenschaften wird von einer phänomenologischen Grundhaltung gesprochen. Diese unterscheidet sich meist wesentlich von der Phänomenologie Husserls. Die meisten Wissenschaften, die sich mit dem Etikett phänomenologisch versehen, greifen meist auf eine ursprünglichere Bedeutung des Begriffs Phänomenologie zurück.
Phänomenologisches Vorgehen in den Naturwissenschaften
Der "erste Blick" auf das empirische Datenmaterial zu einem Forschungsvorhaben, die erste Phase einer systematischen wissenschaftlichen Arbeit (Stoffsammlung) wird häufig auch als Phänomenologie bezeichnet. Phänomenologisch meint hier meist den Sachverhalt, die Sache selber zu beschreiben. So wird ein Versuchsablauf möglichst ohne zu Hilfenahme von Theorien beschrieben, Tierverhalten nur beschrieben, nicht im Sinne menschlichen Verständnisses gedeutet, nur gesehen was passiert. Der Phänomenbegriff, der hier zu Grunde liegt, ist der der naturalistischen Erscheinung, der allerdings eine gesetzmäßige Wahrheit zugrunde liegt. Darin unterscheidet sich der Begriff des Phänomens stark von dem der Phänomenologie Husserls, die im Phänomen das eigentliche Wesen der Sache sieht und dahinter nicht eine wahre Sache, ein Ding An Sich vermutet.
Phänomenologische Grundhaltung in therapeutischen Theorien
In humanistisch therpeutischen Theorien, Gestalttherapie, Gesprächstherapie oder auch Logotherapie, steht die Phänomenologie häufig als erkenntnistheoretisches Werkzeug im Vordergund. Neben Husserl, werden auch Philosophen wie Martin Buber oder auch Phänomenologen wie Emanuel Levinas genannt. Gemeinsam ist allen Theorien die Vorsicht bezüglich schneller Intepretation, Theorien nicht verabsolutieren zu wollen, sondern immer dem konkreten Erfahrungsbereich des Alltags verbunden zu bleiben, sowie die Autonomie der Erfahrung des anderen zu achten. Damit betrachten sie die Phänomenologie allerdings nur als methodische Zugangsform. Dass Husserl sehr wohl Theorie betrieb und reflexive Deskriptionen durchführte, steht in diesen therapeutischen Verfahren nicht im Vordergund. Die reflexive Schärfe und transzendental Problematik werden in diesen Verfahren nicht thematisiert. Somit ist der phänomenologische Sprachgebrauch nur eingeschränkt phänomenologisch im Sinne Husserls, die theoretischen Grundbeziehungen zur Phänomenologie nur assoziativ. Siehe auch Gestalttherapie Psychotherapie Psychoanalyse
Literatur
Einführungen und Übersichten
- Helmuth Vetter: Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe. Hamburg 2004 ISBN - 3-7873-1689-2
- Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie in Frankreich Frankfurt 1983
- Lyotar, Jean-Francoise: Die Phänomenologie Junius 1993 ISBN 3-88506-421-9
- Möckel, Christian: 'Einführung in die transzendentale Phänomenologie Paderborn 1998 ISBN 3-8252-2007-9
Spezielle Literatur
- Heinrich Rombach, Phänomenologie des gegenwärtigen Bewusstseins, Freiburg i.Br./München 1980