Schlieffen-Plan
Der Schlieffen-Plan war eine militär-strategische Blaupause des Generalstabs im Deutschen Kaiserreich. Er wurde nach seinem Autor Alfred Graf von Schlieffen benannt, der sein Konzept als Chef des Generalstabs im Jahr 1905 präsentierte und später mehrfach aktualisierte.
Nachdem sich das ehemals gute Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich und Russland nach der Balkankonferenz 1878 in Berlin rasch abgekühlt hatte, bereitete sich die deutsche Militärführung auf einen Zweifrontenkrieg vor, den Schlieffens Vorgänger allerdings für nicht führbar hielten. Schlieffens Plan sah dagegen im Wesentlichen eine schnelle deutsche Mobilmachung vor und rechnete mit einer wesentlich längeren Mobilmachungszeit in Russland. Zwischenzeitlich sollte Frankreich durch die neutralen Staaten Belgien und Niederlande angegriffen werden (was fast unweigerlich auch Großbritannien auf den Plan rufen musste) und in einer schnellen Zangenbewegung („Macht mir den rechten Flügel stark“) über Paris nach Südosten niedergezwungen werden. (Im Südosten gab es an der deutsch-französischen Grenze starke französische Verteidigungslinien, die von beiden Seiten in die Zange genommen werden sollten). Für den notwendigen Transport der Truppen wurden in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine ganze Reihe strategischer Eisenbahnen gebaut.
1906 wurde Helmuth Johannes Ludwig von Moltke Chef des Generalstabs. Moltke („der Jüngere“) passte den Schlieffen-Plan der veränderten strategischen Lage an. Der offensive rechte Flügel, der durch Belgien stoßen sollte, behielt zwar die im ursprünglichen Plan vorgesehen Stärke, zusätzliche Kräfte wurden aber dem defensiven linken Flügel zugeteilt. Ferner sah Moltke von einem Angriff auf die Niederlande ab, da er diese als eine Art „Luftröhre“ behalten wollte, um von dort im Falle eines längeren Krieges Nahrungsmittel zu importieren. Man glaubte im Großen Generalstab irrtümlich, dadurch England aus dem Krieg heraushalten zu können.
In der Julikrise 1914 sollten sich die Grundannahmen des Schlieffen-Plans verheerend auswirken. Er setzte auf die langsame russische Mobilisierung, so dass erst ein Schlag gegen Frankreich, später gegen Russland geführt werden sollte. In den letzten Tagen der Krise ordnete der Zar Nikolaus II. die russische Mobilmachung an. Zwar sollte das mobilisierte Heer nicht sofort Kampfhandlungen vollziehen, doch dem Deutschen Reich lief nun die Zeit davon. Wenn man den Schlieffen-Plan erfolgreich durchführen wollte, musste man den Krieg unmittelbar auslösen, um nicht von einem bereits mobilisierten Russland angegriffen zu werden, während man selbst in Frankreich kämpfte. Dies verhinderte endgültig eine diplomatische Lösung.
In der Praxis schlug der Plan fehl. Schlechte Nachrichtenverbindungen, eigenmächtige Entscheidungen der einzelnen Armeeführer, besonders am rechten Heeresflügel, und mangelnder Durchsetzungswille bei der Führung des Heeres führten Anfang September 1914 in der Schlacht an der Marne zum Scheitern der deutschen Westoffensive und damit des Schlieffen-Plans. Außerdem drang die russische Armee schneller als vorausgesehen mit teilmobilisierten Kräften in Ostpreußen ein. Dadurch geriet das Deutsche Reich gleich zu Beginn des Krieges in große Bedrängnis.
Insgesamt ist der Schlieffen-Plan als einziger Kriegsplan des Generalstabs eine Folge des direkten Zusammenwirkens von militärischer Führung und Oberbefehlshaber (Kaiser), die eine Mitwirkung der Politik nicht notwendig machte. Der Chef des Großen Generalstabs hatte nämlich seit 1871 Immediatrecht beim Kaiser (Recht zum jederzeitigen Vortrag). Vor 1890 hatte es eine Fülle von militärischen Planungen gegeben, die aus der Feder des älteren Moltke stammten und beispielsweise einen Offensivkrieg im Osten vorsahen bei gleichzeitiger strategischer Defensive im Westen. Dieser unter dem Begriff „Großer Ostaufmarsch“ bekannte Plan wurde ab 1913 nicht mehr weiterverfolgt, hätte aber 1914 einen begrenzten regionalen Krieg im Osten ermöglicht. So stand man 1914 mit einem einzigen Kriegsplan da, der überhaupt nicht zum politischen Szenario passte. Abgesehen von der militärischen Problematik des Schlieffenplans ist hervorzuheben, dass Schlieffen und sein Nachfolger Moltke ohne Skrupel, aus rein militärischen Erwägungen heraus, bereit waren, die Neutralität Belgiens und Luxemburgs zu verletzten. Die Verletzung der belgischen Neutralität, die von den europäischen Großmächten, u.a. auch von Preussen, garantiert worden war, musste zwangsläufig den Kriegseintritt Englands herbeiführen und damit das Deutsche Reich von vorne herein in eine politisch wie militärisch höchst schwierige Situation bringen. Die Entscheidung der Militärs ist von den Reichskanzlern Bülow und Bethmann Hollweg nicht problematisiert oder gar verhindert worden.
Auch vom rein militärischen Standpunkt aus war der Plan höchst waghalsig:
- Die Annahme Frankreich - wie 1870 - innerhalb weniger Wochen entscheidend schlagen zu können, berücksichtigte weder die Tatsache, daß es sich damals um eine sehr günstige Konstellation gehandelt hatte, noch die neueren waffentechnischen Entwicklungen, welche die Verteidigung begünstigten.
- Selbst 1870 hat es nach dem Sieg bei Sedan noch 3 Monate gedauert, Frankreich, das damals allein stand, zur Kapitulation zu zwingen. Während dieses Zeitraums mußten die siegreichen Truppen vor Ort bleiben. Es gab keinen Grund anzunehmen, daß Frankreich, von England und Rußland unterstützt, diesmal schneller kapitulieren würde.
- Der deutsche Generalstab hatte Rußland 6-8 Wochen zur Mobilisierung zugebilligt. Die Möglichkeit, daß es auch schneller gehen könnte, war niemals ernsthaft diskutiert worden.
Der Schlieffenplan und seine Entstehung stehen daher für das Scheitern der politischen und militärischen Elite des Kaiserreiches.
Literatur
Neu und aktuell:
- David Fromkin: "Europas letzter Sommer", 2005 Blessing
ältere Literatur:
- Ritter, Gerhard : Der Schlieffenplan. Kritik eines Mythos, München 1956
- Förster, Stig: Der deutsche Generalstab und die Illusion des kurzen Krieges, 1871–1914. Metakritik eines Mythos, in: MGM 54 (1995), S. 61-95.
- Wallach, Jehuda: Das Dogma der Vernichtungsschlacht, dtv München, 1970
- Haffner, Sebastian: Die Sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg, Lübbe-Verlag Bergisch Gladbach 1964/1981/2001
- Haffner, Sebastian: Das Wunder an der Marne – Rekonstruktion der Entscheidungsschlacht des Ersten Weltkriegs, Lübbe-Verlag Bergisch Gladbach, 1982
- Manstein, Erich von: Verlorene Siege, Erinnerungen 1939-44. Verlag Bernard & Graefe 12. Auflage 1991, S. 67-171 (Der Westfeldzug 1940 in der "Nachfolge" Schlieffens)
- Mombauer, Annika: Helmuth von Moltke and the Origins of the First World War, Cambridge University Press, 2001
- Graf Moltke („der Ältere“): Die deutschen Aufmarschpläne 1871–1890, in: Forschungen und Darstellungen aus dem Reichsarchiv, Heft 7, herausgegeben von Ferdinand v. Schmerfeld, Berlin, Verlag Mittler und Lohn, 1929
- Rassow, Peter: Der Plan des Feldmarschalls Grafen Moltke für den Zweifrontenkrieg (1871-1890), in: Breslauer historische Forschungen, Heft 1. Herausgegeben von Hermann Aubin, Gisbert Beyerhaus, Joseph Vogt. Verlag Priebatsch's Buchhandlung Breslau, 1936
- Schulte, Bernd F.: Die deutsche Armee: 1900–1914; zwischen Beharren und Verändern, Düsseldorf, 1977