Individualismus

Wertesystem, das dem Individuum die höchste Bedeutung beimisst
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Der Individualismus ist ein Gedanken- und Wertesystem, in dem das Individuum im Mittelpunkt der Betrachtung und der Werte steht. Im Gegensatz zum Individualismus steht der Kollektivismus.

Entwicklung und Folgen des Individualismus

Geschichte

Das Verhältnis des einzelnen Individuums und der Gemeinschaft (bzw. Gesellschaft), in der es lebt, ist seit jeher Gegenstand kontroverser Diskussionen. Während Aristoteles den Menschen als Gemeinschaftslebewesen ("zóon politikón", wörtlich etwa "das auf eine Polis angewiesene Tier") auffasste und dies für lange Zeit vorherrschende Ansicht blieb, gab es in neuerer Zeit eine stärkere Betonung des Individuums. Geistesgeschichtlich geschah dies durch den Liberalismus sowie durch den Anarchismus. Im Extremfall wurde der Individualismus zum Egoismus verschärft. Gegenpositionen zum Individualismus wurden z.B. im Sozialismus, im Nationalismus, im Panarabismus oder im Islamismus aufgestellt. Auch religiöse Gemeinschaften wie das Christentum stehen dem Individualismus meist sehr skeptisch gegenüber.

Die Grundidee des Individualismus ist also eine Befreiungsidee. Die Befreiung des Einzelnen von zu vielen Zwängen wird als angenehm empfunden, das Kollektiv als behindernd und beengend.

Eine weitere Begründung für den Individualismus wird durch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gegeben. Das westlich-individualistische System sei das offenkundig leistungsfähigste dieser Erde. Mit diesem Argument wird der allgemeine Wohlstand als Ergebnis vieler Egoismen betrachtet (vgl. Adam Smith).

Soziale und rechtliche Implikationen

Der Individualismus hat in unserem Leben eine Fülle von Folgen, die uns nicht immer als Erscheinungen des Individualismus bewusst sind. Dazu gehören die Auflösungen der Familie sowie der Dorf- und anderer Gemeinschaften. Noch vor etwa einhundert Jahren haben sich die Menschen innerhalb ihrer Gemeinschaften organisiert, häufig innerhalb ihrer Berufsgemeinschaften. Es gab Eisenbahnersportvereine, Lehrergesangsvereine und andere Standes- und Berufsvereinigungen, die das gesamte Leben durchzogen.

Der Individualismus läuft parallel zu wirtschaftlichen Entwicklungen. Familiäre Rücksichten bei der Arbeitsplatzwahl werden sozial diskreditiert und in vielen Fällen von der Arbeitsagentur nicht als legitim anerkannt. Der Kapitalismus entwickelt sich um so schneller, je mehr die Menschen ihre früher als normal angesehen Bindungen an Familie, Beruf, Heimat, Volk und Staat verlieren. Umgekehrt ist es daher auch die Wirtschaft, die den Individualismus fördert und widerstrebende Neigungen negativ bewertet. Mobilität und Flexibilität sind die Stichworte, unter denen die Menschen zur Einschränkung oder gar Aufgabe gewachsener Bindungen motiviert werden.

Auf der anderen Seite entwickelten sich während der Industrialisierung neue Gemeinschaften (z.B. Vereine), mit der Möglichkeit, die individuellen Interessen zusammen mit gleich Interessierten auszuüben. Unter diesem Aspekt wachsen Individualität und Gemeinschaft paradoxerweise zusammen: Individualität wird meist mit anderen und überlappenden Interessen ausgeübt. Trotzdem bleibt der Gegensatz zum Kollektiv, dass nun Gemeinschaften sich aufgrund individueller Interessen frei bilden können.

Deutlich werden die Veränderungen auch im Sport. Es gibt eine allmähliche, aber signifikante Zunahme der Individualsportarten gegen über den Mannschaftssportarten. Auch in der Breitenkultur gewinnt die kleine Gesangsgruppe ein stärkeres Gewicht gegeünber dem großen Chor. Gleiche Kleidungsstücke als Ausdruck der Zusammengehörigkeit werden in deutlich geringerem Umfang eingesetzt. So hat auch die Uniformierung in vielen Berufen abgenommen oder wurde gänzlich aufgehoben, in anderen wird sie außerhalb des beruflichen Bereichs schneller abgelegt als früher.

Im Verwaltungsrecht wurden im Laufe der Jahrzehnte zunehmend die Rechte der Individuen (Anwohner, "Betroffene" usw.) gestärkt. Das Gemeinschaftsinteresse wird stärker durch die Rechte einzelner gehindert, als dies früher der Fall war. Die Gewichte verschieben sich. Dies gilt für alle Arten von Vorhaben der Gemeinden, Länder und des Bundes. Das Verwaltungsverfahrensrecht kennt eine stetige Stärkung der Rechte des individuellen Bürgers.

Wirtschaftliche Betrachtungen

In der Wirtschaft und auch in den staatlichen Verwaltungen stößt der Individualismus allerdings bereits an Grenzen. Indivduelle Ziele werden häufig durch Teamziele ergänzt oder ersetzt. Insbesondere in kritischen Bereichen breitet sich die Gemeinschaftsbildung durch "Teams" wieder aus. Höchstleistungen werden oftmals in Gemeinschaft erbracht. In den Managementtrainings gibt es daher heute sowohl Veranstaltungen mit dem Ziel der Förderung des Egoismus des Einzelnen als auch solche zur Förderung des Teamgeistes.

Literatur hierzu: Karl Hackstette: Individualistische Unternehmensführung. Eine wirtschaftsphilosophische Untersuchung, Marburg 2003

Politischer Individualismus

Der Individualismus spricht sich für das unabhängige Leben des Menschen ohne Manipulation durch den Staat oder durch die Gruppe aus und entspricht damit dem Anarchismus oder in abgeschwächter Form dem Liberalismus.

Bedeutende Theoretiker des Individualismus

Der Denkansatz zum Individualismus wird bei Stirner besonders deutlich. Sein Buch Der Einzige und sein Eigentum beginnt mit der Klage ""Was soll nicht alles Meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein.""

Kulturvergleich

Der Individualismus hat in der westlichen Welt eine Ausbreitung erfahren, wie es noch nie in der Geschichte der Fall war. Damit steht der Westen im Gegensatz zu den eigenen Traditionen, die nicht-individualistisch waren, aber insbesondere zu allen anderen Kulturkreisen. Bemerkens- und bedenkenswert ist jedoch, dass keine der Strömungen des westlichen Individualismus, nicht einmal die radikalen Vertreter des US-amerikanischen libertarianism oder Anarchokapitalismus (Murray Rothbard, Ayn Rand), sich auf Max Stirner berufen, sondern sich sogar ausdrücklich von ihm distanzieren.

Literatur

  • Franciscus Suarez: Über die Individualität und das Individuationsprinzip (Fünfte metaphysische Disputation), lateinisch deutsch, herausgegeben, übersetzt und mit Erläuterungen versehen von Rainer Specht, Hamburg 1976

Siehe auch

Individualisierung, Nimby, Bobo