WP:WWNI/WP:NPOV --fossa net ?! 19:33, 5. Sep. 2012 (CEST)

Thomas Mann, der während der Zeit des Nationalsozialismus eine bedeutende Rolle als politisch engagierter Autor im Exil spielte, bezeichnete sich selbst mehrfach als Philosemiten, kämpfte für die Anerkennung der diskriminierten jüdischen Minderheit und hatte Umgang mit etlichen jüdischen Intellektuellen, die er sehr schätzte; auch sein Verleger Samuel Fischer, vor allem aber seine Ehefrau Katia waren jüdischer Herkunft.
Sein Verhältnis zum Judentum war indes ambivalent und nicht ohne gewisse Vorbehalte. Es war zudem nicht unbeeinflusst von Fehden, die er mit Alfred Kerr und Theodor Lessing hatte. Bei aller Hochschätzung vor allem der geistigen Leistungen des Judentums kommen nach Ansicht einiger Forscher diffuse antijüdische Akzente und Dispositionen zum Vorschein, die vor allem in seinen frühen und mittleren Schaffensjahren zu beobachten sind.
Auf der anderen Seite spielte gerade das Judentum in seinem Erzählwerk wie in der Essayistik eine bestimmende Rolle. Während er die Charaktere - von den Buddenbrooks über den Zauberberg, der Joseph-Tetralogie bis zum Doktor Faustus - nach je dramatischen Anforderungen gestaltete, lässt sich in den Essays eine Entwicklung verzeichnen, die von gewissen Klischees und Vorurteilen, sowie selbst Beiträgen für die antisemitische Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert bis zur Absage an das nationalsozialistische Deutschland reichen. Von nun an rückte er die Bekämpfung des Antisemitismus unter die „Fundamente der abendländischen Gesittung“ und stellte sie in den Mittelpunkt seiner stilistisch eindrucksvollen, von Ernst und Pathos getragenen Veröffentlichungen.[1]
Hintergrund
Ambivalenz
Die ambivalente Einstellung Thomas Manns zum Judentum ist nach wie vor im Blickfeld der Forschung, deren Schwerpunkte sich seit etwa 1980 verschoben haben.
Nachdem die historische Forschung wie die mediale Bearbeitung allmählich die Dimension des Holocaust erfasst und diesen überwiegend als welthistorisches Schlüsselereignis bewertet hatten, ergaben sich neue Ansätze für die Rezeption.[2] Im Laufe der Zeit rückte die Opferseite zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses, was für die Bundesrepublik auch mit der Aufnahme der Fernsehserie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss zusammenhängt, ein Ereignis mit großer Resonanz.
Daneben kam die Literaturwissenschaft in dieser Zeit zu einer neuen Bewertung des Themas der Identität Thomas Manns, in der sie sein zentrales Problem erkannte, das die Bereiche Sprache und Politik, Sexualität und Psychologie berührte. Hierbei ließ sich beobachten, dass der Autor beschädigte Identitäten heilen wollte, dabei aber immer ambivalent blieb, was sich auf das von ihm behandelte Thema Judentum auswirkte: Einerseits bieten sich jüdische Figuren als Projektionsflächen für den Außenseiter an, andererseits bedrohen sie seinen Selbstentwurf. Die Forschung begreift Werk und Person des Dichters zudem immer mehr als ein Element der deutschen Moderne, in der sich förderliche wie verderbliche Tendenzen der Zeit versammeln.[3]
Viele Widersprüche wurzeln im Persönlichen und legen psychologische Interpretationen nahe, die sich mit dem Selbstbild des Künstlers befassen. So lassen sich gängige antijüdische Versatzstücke bei der Zeichnung der Figuren von den Anfängen bis zu den reifen Werken finden. Will Hermann Hagenström aus den Buddenbrooks sich vergeblich einen Kuss Tonys mit einer Zitronensemmel erkaufen, bietet Saul Fitelberg dem Tonsetzer Adrian Leverkühn an, seine Kunst zu vermarkten.[4]
Trotz unterschiedlicher Einschätzungen von Teilaspekten gehen viele Autoren davon aus, dass Mann die „jüdische Frage“ projektionsartig vor allem bei sich selbst ausgetragen hat. Viele Seiten, die er an sich selbst nicht mochte, lehnte er bei Juden ab, seine Kritik traf ihn somit häufig selbst.
Die Lösung der Judenfrage
Vor allem der frühe und kurze Essay mit dem missverständlichen, heute unmöglichen Titel Die Lösung der Judenfrage ist mit seinen Stereotypen trotz aller Zeitgebundenheit problematisch und nach wie vor im Blickfeld der Forschung. Heinrich Detering etwa weist auf Spannungsverhältnisse und Widersprüche hin. Thomas Mann habe sich zunächst zwar als Philosemit bezeichnet und den von „Zionisten der strengen Observanz“ geforderten „Exodus“ wegen des für Europa „unentbehrlichen ... Kultur-Stimulus“ als größtes Unglück charakterisert, das dem Kontinent zustoßen könne. Wenige Zeilen später aber, so Detering, widerspricht Thomas Mann dem kategorisch Erklärten, während seine Worte unmerklich ins Feindselige abgleiten. Wie selbstverständlich etwa spreche er von den „entarteten und im Ghetto verelendetsten Rasse(n)“. Das „Ghetto“ sitze „den Juden heute noch … zutiefst in der Seele.“ Indem der Autor gönnerhaft einschränke, „der Jude“ müsse keine „krummen Beine und rote mauschelnde Hände behalte(n)“ wiederhole er genau die Aspekte, die er vorher habe entkräften wollen. [5]
Die Diskrepanz zwischen philosemitischer Zurückweisung des Klischees und seiner tatsächlich antisemitischen Wiederholung dürfe nicht vorschnell relativiert werden, etwa mit dem häufig vorgebrachten Hinweis auf Interpretationsunterschiede vor und nach der Zeit des Nationalsozialismus.
Beiträge in der Zeitschrift „Zwanzigstes Jahrhundert“
Wie sein Bruder Heinrich, verfasste auch Thomas Beiträge für das „Zwanzigste Jahrhundert“. Zwar sind diese nicht von einer derart aggressiven antisemitischen Rhetorik gekennzeichnet wie die seines Bruders. Wie Rolf Thiede feststellt, zeige die Rezension der „Ostmarkklänge“, eine Gedichtsammlung des völkischen Dichters Theodor Hutter, allerdings gewisse antisemitische Dispositionen, selbst wenn diese nur zitatweise zum Vorschein kämen. Statt aus den Kommentierungen könne man dies dem Vorzug derjenigen Gedichte entnehmen, die Mann als besprechenswert eingestufte.[6]
Heinrich Mann hatte von Juden als „winzige(r) Clique einer neuen Aristokratie von Emporkömmlingen“ gesprochen, die sich allenthalben der Führung bemächtigt hätten. Der Antisemitismus sei eine „tiefe und mächtige Volksbewegung“, mit der die Entartung des Kapitalismus und Liberalismus schlagartig kuriert und der Niedergang des Mittelstandes aufgehalten werden könne.[7] Die Juden würden nicht wegen ihrer Religion oder ihres Volkstums verfolgt, sondern „weil sie die verköperte Verneinung von beidem“ seien, der „sichtbarste Beweis dessen, was zerstört und niedrig macht.“[8]
Nun habe sich, so Stefan Breuer, Thomas Mann davon nicht distanziert und seinem Jugendfreund Otto Grautoff geschrieben, wie „feuerifrig“ er seinem Bruder helfe, das Blatt zu redigieren. Doch könne man anerkennen, dass sein Ton deutlich moderater gewesen sei. Zwar bekunde er gewisse antijüdische Stereotype, trage diese allerdings längst nicht so gewaltsam vor wie sein Bruder. Seine auch zur Schau getragene Überzeugung von der Überlegenheit der deutschen Kultur in Europa sei zwar deutschnational, bleibe aber unterhalb der Exalatationen, die sich sonst in dem Blatt finden ließen.[9]
Die antijüdischen Tendenzen in Thomas Manns Frühphase hätten sich teils aus seiner psychologischen Verfassung, teils aus der Prägung durch ein stadtbürgerliches Milieu ergeben. Dieser Hintergrund sei seit den napoleonischen Kriegen durch ein hohes Maß an Diskriminierungsbereitschaft gekennzeichnet gewesen. Von Antisemitismus könne - nach Reinhard Rürup und Johannes Heil - bei der schlichten Bündelung antijüdischer Stereotype noch nicht gesprochen werden, sondern erst dann, wenn diese zu einer Doktrin und postreligiösen Weltanschauung ausgestaltet würden, mit der die nicht verstandenen Tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft modellartig erklärt werden sollten.[10]
Konflikt mit Theodor Lessing
Da einige der problematischen Vorbehalte in Thomas Manns Biographie verankert sind, ist der Blick auf den Konflikt mit Theodor Lessing sinnvoll. Hierbei wird deutlich, dass seine Ambivalenz im Persönlichen wurzelt und er Auseinandersetzungen auf die wahrgenommene Andersartigkeit zurückführt, was auch für seine positiven Erfahrungen gilt.[11]
Auf eine Satire des Autors mit dem Titel „Samuel zieht Bilanz“, die sich gegen Samuel Lublinski gerichtet und diesen als „fettiges Synagöglein“ geschildert hatte, reagierte Thomas Mann mit einem ungewöhnlich scharfen und persönlichen Essay: „Der Doktor Lessing“. Mann, der sich Lublinski verpflichtet fühlte, warf dem Autor nicht nur vor, eine stümperhafte Imitation Heines versucht zu haben, sondern den Kritisierten mit unlauteren Mitteln diskreditieren zu wollen. Würde man die Techniken „einem Dämon an Bosheit und Sprachkunst mit widerwilligem Entzücken verzeihen“, handhabe Lessing sie in seinem Machwerk „mit einer Dreistigkeit“, die in einem Missverhältnis zu seinem Vermögen stehe. Könne man über seine Talentlosigkeit bedauernd hinwegsehen, fordere seine Impertinenz zu öffentlichem Widerspruch auf. Das vom mangelnder Sachkenntnis und Selbstüberschätzung zeugende Pamphlet zeichne ein verleumderisches Zerrbild, das Lublinski verhöhne.[12]
Indem Thomas Mann sich für Lublinski einsetzte, verteidigte er indes nicht nur einen ihm gewogenen Kritiker, sondern auch einen galizischen, um Assimilation bemühten Juden gegen eine antisemitische Provokation, die ebenfalls von jüdischer Seite kam. Mit der doppelten Karikatur als „Talmud-Gebürtchen“ und „deutsches Literaturfontänchen“ erinnerte Lessing Lublinksi aggressiv an seine Herkunft und das, was Lessing für „seine wahre Natur“ hielt.
Allerdings bediente sich Thomas Mann, der dem „unverschämten Zwerg ...gebührend übers Maul zu fahren“ gedachte, bei seiner Reaktion selbst gewisser antisemitischer Wendungen.[13]
Nachdem Thomas Mann ein von Lessing angebotenes Duell nicht angenommen hatte, veröffentlichte dieser etliche polemische Artikel „wider Thomas Mann“, die teilweise im Privatdruck erschienen. Hier spielte er auf die „Männerweiblichkeit“ Thomas Manns an, apostrophierte ihn als „femininen, dekadenten Patriziersohn“ und machte sich über dessen „gediegene Prosa“ lustig.
Der so Angegriffene erwog, eine Novelle mit dem Titel, „Ein Elender“ zu verfassen, deren Hauptfigur wesentliche Züge Lessings und Alfred Kerrs tragen sollte, ein Projekt, das nicht verwirklicht wurde, als Titel allerdings in Manns Novelle Der Tod in Venedig eine Rolle spielte. Die Konflikte mit Lessing verarbeitete Thomas Mann auch in seiner Polemik gegen die „Zivilisationsliteraten“ in den Betrachtungen eines Unpolitischen.
In einer Tagebucheintragung vom 5. November 1918 bezeichnete er „die Juden Kerr und Lessing“ als seine „geborenen Feinde“ und „Verächtlichmacher“ seiner Existenz. Dass Lessing gegen den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und die geheime Aufrüstung der Reichswehr polemisierte und dafür später mit dem Leben bezahlte, stimmte Thomas Mann nicht milder. Nachdem Lessing im Sommer 1933 von nationalsozialistischen Schergen ermordet worden war, reagierte Mann mit einer kalten und eitlen Tagebuchnotiz: Es grause ihm vor diesem Ende, aber nicht „weil es das Ende, sondern weil es so elend ist und einem Lessing anstehen mag, aber nicht mir.“[14] In einer weiteren Tagebucheintragung vom 15. Juli 1934 schrieb er den Juden „an den geistigen Dingen“, die sich in dem politischen System „fratzenhaft“ ausdrückten, einen starken Anteil zu. Sie seien „zum guten Teil als Wegbereiter der antiliberalen Wendung zu betrachten.“
Kampf gegen den Antisemitismus
Während der Zeit des Nationalsozialismus galt Thomas Mann als bekanntester Vertreter der deutschen Literatur und rückte den Kampf gegen den Antisemitismus in den Mittelpunkt seines politisch-publizistischen Wirkens.
Sei der „Faschismus der Sozialismus der dummen Leute“, so der „Antisemitismus der Aristokratismus des Pöbels.“ Der Aristokratismus des Geistes hingegen sei eine Notwendigkeit und rechtmäßiger als das „armselige Vornehmheitsbedürfnis“, das sich unter anderem im Antisemitismus äußere.[15] Er sei ein „Zubehör und Losungwort aller trüben, wirren und mit viel Bestialität vermischten Massenmenschlichkeit und Massenmystik.“[16]
Weitere mahnende Aufsätze, die vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Judenverfolgung an Dramatik gewinnen, sind „Rettet die Juden Europas“ und „Ein beharrlich Volk.“ In dieser späten Abhandlung versucht Mann sich an einer Gesamtbewertung des jüdischen Nationalcharakters. Goethe als Gewährsmann zitierend, spricht er von den Juden als selbständigem, tapferem und zähem Volk. [17]
Um zu verdeutlichen, dass sich „das jüdische Volk“ durch „besondere Gaben“ (für die Medizin und Musik) auszeichnet, erwähnte er Paul Ehrlich und August von Wassermann, sowie Yehudi Menuhin und Vladimir Horowitz, Jascha Heifetz und Arthur Rubinstein; daneben den „größten theoretischen Physiker unserer Epoche: Albert Einstein.“ Kein menschliches Wesen, „das im Reiche des Geistes zu Hause war“, könne je Antisemit sein.[18]
Darstellung jüdischer Charaktere
Einige Beschreibungen, die nahezu leitmotivisch bestimmte jüdische Figuren begleiten, erweisen sich aus heutiger Perspektive und nach Forschungsansätzen über literarischen Antisemitismus als problematisch.[19] Die judenfeindlichen Stereotypen können hierbei drei Kategorien zugeordnet werden: körperlichen, geistigen und sozialen.[20]
Die schon durch ihre Erscheinung als Außenseiter gezeichneten Gestalten beziehen zum Guten wie Bösen eine Sonderstellung, die teils äußerlich erzwungen, teils internalisiert wurde, was für die Erzählungen wie die Essayistik gilt. Die Juden zeichne etwas aus, was sie „artfremder erscheinen“ lasse „als ihre Nase.“ Es sei die „Liebe zum Geist“, die sie zwar nicht „selten zu Führern ... der Menschheit gemacht“ habe, „die ihnen aber...die Künstler, die Dichter und Schriftsteller immer zu Schuldnern nund Fremden machen wird.“[21]
Vor allem im Frühwerk finden sich zahlreiche Figuren, die von Klischees des bürgerlichen Antisemitismus geprägt sind. Das entweder unscheinbare oder exotisch-orientalische, zur Hässlichkeit tendierende Aussehen der männlichen Charaktere fällt dabei ebenso auf, wie die häufig unschönen, ordinär diamantgeschmückten Frauenfiguren.[22] Die mitunter abstoßenden Attribute, die in den Essays zu erkennen sind, lassen sich etwa im Willen zum Glück, dem skandalumwitterten Wälsungenblut und der Kurzgeschichte Gladius Dei finden.
Auf der anderen Seite betont etwa Thomas Klugkist, dass die Arbeit mit Stereotypen zum wichtigsten Handwerkszeug Thomas Manns gehört habe, was nicht nur für die „blonden und blauäugigen“ Figuren seiner frühen Jahre (etwa Inge und Hans Hansen im Tonio Kröger), sondern auch für die symbolisch und mythisch überhöhten der folgenden Werke gelte. Neben den satirisch verfremdeten französischen, deutschen und russischen Charakteren hätten augenfällig positiv dargestellte Juden parteiisch gewirkt und somit gegen das Gebot poetischer Gerechtigkeit verstoßen.[23]
Gladius Dei
Ein Beispiel ist die „platt auf der Oberlippe liegende Nase“, mit der Herr Blüthenzweig in ihr beschrieben wird, der, geschäftsorientiert und ohne Verständnis für die Gewissensqualen des Hieronymus, die Käufer beschnüffelt und sich die Hände reibt.[24] Die Darstellung erinnert an die Beschreibung Franz Fehérs, eines Klassenkameraden Thomas Manns, den er in dem zurückgezogenen Essay Zur jüdischen Frage als „Typus, pronociert bis zur Häßlichkeit“ vorstellt, „mit platter Nase und früh dunkelndem Schnurrbartschatten„, dessen „fremdartig schleppende(r) Dialekt“ dem Autor interessanter erscheine als das gewöhnliche Waterkantische. Ephraim Carlebach sei ein quickes, „wenn auch nicht sehr reinliches“ „Rabbinersöhnchen“, „dessen große, kluge, schwarze Augen“ ihn gefreut hätten. Schon der Name sei erfüllt von der „Wüstenpoesie eben jener Stunde, von der seine Besonderheit ausgeschlossen war […] markanter und farbiger […] als Hans und Jürgen.“[25]
Wälsungenblut
Im Wälsungenblut, einer klirrend scharfen und höhnischen Satire, die mit ihrer Schilderung von dekadentem Snobismus und inzestuösem Rausch einiges Aufsehen erregte, schildert Thomas Mann, angeregt von Eindrücken, die er im Hause Pringsheim empfangen hatte, einen neureichen jüdischen Großbürger, der vermittelst „einer kühnen und klugen Unternehmung, großartiger Machenschaften....einen gewaltigen Goldstrom in seine Kasse gelenkt“ habe.[26]Seine „kleine, hässliche Frau“, die eine „Kette von Brillanten“ „auf ihrer eingefallenen Brust“ trägt, war „wie unter einer fremden, heißen Sonne verdorrt“ und früh gealtert.[27]
Die berüchtigte Erzählung gehört mit ihren stereotypen, dem Arsenal des Antisemitismus entstammenden Vorstellungen[28] zu den umstrittensten Werken des Schriftstellers. Thomas Mann war sich ihrer Bedenklichkeit selbst bewusst und nannte sie mitunter seine „Judengeschichte“. Als er mit Vorwürfen konfrontiert wurde, er habe eine antisemitische Novelle geschrieben, zog er sie noch vor der Veröffentlichung in der Neuen Rundschau zurück. Zugleich bestimmte er, dass der letzte Satz in einer künftigen Publikation geändert werde. Statt: „Beganeft haben wir ihn, - den Goy,“ sollte es heißen: „Dankbar soll er uns sein. Er wird ein minder triviales Dasein führen, von nun an.“ Seine Einstellung der Erzählung gegenüber änderte sich grundlegend erst im Exil. Noch 1921, als sie in einem limitierten Privatdruck erschien, zeigte er sich darüber verstimmt, dass er das ursprüngliche Ende mit den jiddischen Ausdrücken nicht wieder eingesetzt hatte, ein Versäumnis, das er in einem Ernst Bertram persönlich gewidmeten Exemplar später nachholte. Als ihm 1936 die Auswirkungen des vom ihm lange unterschätzten Antisemitismus bewusst wurden, betonte er, dass seine Novelle keinen Angriff auf das Judentum darstelle.[29]
Buddenbrooks
In den Buddenbrooks geht es nicht nur um die Chronik und den Niedergang des titelgebenden Lübecker Patriziergeschlechts, sondern den damit dialektisch verknüpften Aufstieg der Firma Hagenström.
Verkörpert die Firma Buddenbrook die traditionelle Produktionsweise, so das Haus Hagenström die neue und fortschrittliche. Im Verlauf des Romans kommt es zu etlichen oft peinlichen Begegnungen mit den Buddenbrooks. Die Hagenströms werden dabei leitmotivisch in einer Weise beschrieben, die ihnen das Signum des Fremden und Störenden gibt.
Hinrich Hagenström, der noch nicht lange in der Stadt wohnt, ist Leiter der Firma Strunck & Hagenström und gilt als „nicht sonderlich beliebt“, da er es darauf „abgesehen zu haben [scheint], den Angehörigen der alteingesessenen Familien bei jeder Gelegenheit zu opponieren.“ Seine junge Frau ist eine „Dame mit außerordentlich dickem schwarzen Haar und den größten Brillanten der Stadt an den Ohren.“[30]
Ähnlich wie Sieglind Aarenhold im Wälsungenblut hat seine Tochter Julchen „blanke, schwarze Augen“. Ihr Bruder Hermann Hagenström, mit einer „platt auf der Oberlippe“ liegenden Nase, atmet nur durch den Mund und schmatzt deswegen „beständig mit den Lippen.“ Tony Buddenbrook, hübsch, mit blonden Haaren, begleitet sie, trotz ihrer Abneigung, auf dem Weg zur Schule, da sie ihre Nachbarin ist und sie ohnehin den gleichen Weg nehmen müssen. Als Tony sich einmal gegen eine Zudringlichkeit Hermanns wehrt und ihm ins Gesicht schlägt, fährt Julchen hinter einem Baum „wie ein schwarzes Teufelchen hervor, warf sich, zischend vor Wut, auf Tony, riß ihr den Hut vom Kopf und zerkratzte ihr die Wangen aufs jämmerlichste...“[31]
Für Rolf Thiede bedurfte es für den wirtschaftlichen Ruin einer deutschen Traditionsfirma in der politischen Kultur des Kaiserreiches, vor allem während der Großen Depression eines Sündenbocks, für den in aller Regel Juden in Betracht gekommen seien. Der Erfolg antisemitischer Agitation während dieser Krisenzeit sei vor allem darauf zurückzuführen, dass jüdische Unternehmer nicht von traditioneller Wirtschaftsführung gefesselt worden wären und somit prosperieren konnten. Da die antisemitischen Bewegungen Juden mit der „modernen Wirtschaftsweise“ identifizierten, nähmen die Hagenströms eben die von der Agitation erzwungene Position ein.[32]
Andere Werke
Die Gattin Baron von Steins aus der Erzählung Der Wille zum Glück mit ihren an den Ohren „funkelnden großen Brillanten“, vor allem aber „negative“ Charaktere wie Leo Naphta aus dem Zauberberg sowie der jüdische Nationalsozialist Chaim Breisacher oder der den Mädchen in die Wange zwickende Musikimpresario Saul Fitelberg aus dem Doktor Faustus ergänzen das Kabinett fragwürdiger jüdischer Gestalten.
Doktor Faustus
In diesem bedeutenden Roman lässt Thomas Mann den Humanisten Serenus Zeitblom die Geschichte seines Freundes, des tragisch-genialen „deutschen Tonsetzers“ Adrian Leverkühn erzählen. Auf einer zweiten Ebene bezieht sich Zeitblom auf seine Gegenwart und die am Ende dramatisch sich zuspitzende Situation in Deutschland während des Zweiten Weltkrieges und erwähnt dabei immer wieder, wie sehr ihn die Umstände ermüden und von der eigentlichen Darstellung abhalten. Zwar finden sich zahlreiche zeitgeschichtliche Bezüge, so über die Ermordung der Geschwister Scholl, die Euthanasiepoltik, die Aktivitäten der Gestapo und - nach der Niederlage - die Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald. Wie Ruprecht Wimmer bemerkt, wird die nationalsozialistische Judenverfolgung selbst indes nicht dargestellt, was er als „nicht mehr verständliches Manko“ betrachtet. Es komme der Verdacht auf, dass die dargestellte jüdische Thematik im Biographieteil des späten Romans die zwiespältige Haltung des Autors zum Judentum belegen würde, die sich auch in seinem Frühwerk finde.[33]
Neben der fragwürdigen Figur des Chaim Braisacher etwa fällt die Beschreibung des Rabbiners Dr. Carlebach auf, der im Hause der Zeitbloms ebenso verkehrt wie ein katholischer Geistlicher, der Rat Zwilling. Dieser sei äußerlich attraktiver, während nach Zeitbloms Eindruck der „kleine und langbärtige Talmudist“ den Pfarrer an „Gelehrsamkeit und religiösem Scharfsinn weit“ übertreffe. Nach Auffassung Ruprecht Wimmers finden sich hier zwei schon in den Essays erkennbare Stereotypen: „Die Überlegenheit des jüdischen Intellekts bei unscheinbarem, wenn nicht häßlichem Äußeren, und der Spürsinn für die künstlerische Leistung.“[34] Die intellektuelle Schärfe lasse sich auch bei dem jüdischen Faschisten, dem Privatgelehrten Braisacher finden, der mit seinen Zügen und Thesen (auch nach Auffassung Theodor W. Adornos und Gershom Scholems) ein Porträt Oskar Goldbergs ist, der die hebräische Mythologie reaktivieren wollte. Der „Verfall des Judentums“ sei selbst verschuldet gewesen, da sich das jüdische Volk nicht für die Metaphysik, sondern für die Technik entschieden habe.
Thomas Klugkist äußert hingegen, dass Breisacher und die anderen jüdischen Figuren des Romans sicher keine Sympathieträger sind, nimmt den Autor vor dem Vorwurf antisemitischer Zeichnung allerdings in Schutz. Thomas Mann habe Deutschland buchstäblich zu einem Charakter gemacht, der auf der weltgeschichtlichen Bühne neben anderen Völkern handele und agiere. Da er sich mit Deutschland identifiziert habe, seien Parallelen zwischen deutscher und jüdischer Kultur hervorgetreten, die es „in sich“ gehabt hätten. In diesem konstruierten Sinne wären beide Völker in mythischer Vorzeit aus dem Kreise der anderen ausgeschlossen worden, um in die Fremde auszuwandern, fortan in der Wüste ein religiös bestimmtes Leben zu führen und auf Rückkehr in die Gesellschaft zu hoffen. In diesen Gefilden hätte sich das Ressentiment des „Ernstes gegen den Salon der Welt“ und damit ein nationaler Erwähltheitsdünkel entwickelt. Auf diese Weise sei die moralische Verbannung der Deutschen fahrlässig auf eine Stufe mit dem Einschluss der Juden ins Ghetto gestellt worden. Dieser Befund wird für Klugkist noch fataler, wenn man im Zyniker Breisacher den raffinierten Wortführer der Reaktion erkennt.[35]
Später erkannte Thomas Mann die Gefahr einer antisemitischen Interpretation der beiden jüdischen Figuren des Doktor Faustus und schrieb, er sei sich bewusst, dem „jüdischen Menschentum und seiner so hohen und ernsten Geistigkeit keineswegs gerecht“ geworden zu sein. Er habe es versäumt, „dem Fitelberg und Breisacher durch eine jüdische Figur von Würde (ich denke an den prophetischen Typus Buber) ein Gegengewicht zu geben. Die Gefahr antisemitischer Wirkung“ sei jedenfalls bei einfacheren Lesern nicht gering.[36]
Literatur
- Jacques Darmaun: Thomas Mann, Deutschland und die Juden, Tübingen, Niemeyer, 2003 ISBN 3484651407
- Manfred Dierks / Ruprecht Wimmer (Hrsg.): Thomas Mann und das Judentum. Die Vorträge des Berliner Kolloquiums der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft. Thomas-Mann-Studien, Bd. 30. Klostermann, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-465-03302-7
- Heinrich Detering: Juden, Frauen und Litteraten. Zu einer Denkfigur beim jungen Thomas Mann. Fischer, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-10-014203-9
- Yahya Elsaghe: Die imaginäre Nation, Thomas Mann und das "Deutsche", Wilhelm Fink, München 2000
- Franka Marquardt: Erzählte Juden, Untersuchungen zu Thomas Manns Joseph und seine Brüder und Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, Lit Verlag, Münster Juni, 2003 ISBN 3825868052
- Guy Stern: Thomas Mann und die jüdische Welt, in: Thomas-Mann-Handbuch, Hrsg. Helmut Koopmann. Fischer, Frankfurt am Main 2005, S. 54–67, ISBN 3-596-16610-1
- Rolf Thiede: Operativer Antisemitismus, in: Stereotype von Juden, Die frühen Schriften von Heinrich und Thomas Mann, Zum antisemitischen Diskurs der Moderne und den Versuch seiner Überwindung. Metropol Verlag, Berlin 1998
Einzelnachweise
- ↑ Guy Stern in: Thomas Mann und die jüdische Welt, Thomas Mann Handbuch, Fischer, Frankfurt am Main, 2005, S. 63
- ↑ Orientiert am Vorwort von Manfred Diers und Ruprecht Wimmer, aus: Thomas Mann und das Judentum, Thomas-Mann-Studien, Klostermann, Frankfurt am Main, 2004, S. 7 f.
- ↑ Manfred Diers und Ruprecht Wimmer, Thomas Mann und das Judentum, Thomas-Mann-Studien, Klostermann, Frankfurt am Main, 2004, S. 8
- ↑ Manfred Diers und Ruprecht Wimmer, Thomas Mann und das Judentum, Thomas-Mann-Studien, Klostermann, Frankfurt am Main, 2004, S. 12
- ↑ Heinrich Detering, Juden, Frauen und Litteraten. Zu einer Denkfigur beim jungen Thomas Mann. Fischer, Frankfurt am Main 200, S. 66
- ↑ Rolf Thiede, Operativer Antisemitismus in: Stereotype von Juden, Die frühen Schriften von Heinrich und Thomas Mann, Zum antisemitischen Diskurs der Moderne und den Versuch seiner Überwindung, Metropol Verlag, Berlin 1998, S. 74
- ↑ Stefan Breuer, „Das Zwanzigste Jahrhundert“ und die Brüder Mann, in: Thomas Mann und das Judentum, Thomas-Mann-Studien, Klostermann, Frankfurt am Main, 2004, S. 92
- ↑ Zit. nach: Stefan Breuer, Das „Zwanzigste Jahrhundert“ und die Brüder Mann, in: Thomas Mann und das Judentum, Thomas-Mann-Studien, Klostermann, Frankfurt am Main, 2004, S. 93
- ↑ Stefan Breuer, „Das Zwanzigste Jahrhundert“ und die Brüder Mann, in: Thomas Mann und das Judentum, Thomas-Mann-Studien, Klostermann, Frankfurt am Main, 2004, S. 93
- ↑ Stefan Breuer, „Das Zwanzigste Jahrhundert“ und die Brüder Mann, in: Thomas Mann und das Judentum, Thomas-Mann-Studien, Klostermann, Frankfurt am Main, 2004, S. 94
- ↑ Guy Stern in: Thomas Mann und die jüdische Welt, Thomas-Mann-Handbuch, Fischer, Frankfurt am Main, 2005, S. 62
- ↑ Thomas Mann, Der Doktor Lessing, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band 11, Fischer, Frankfurt 1974, S. 719-721
- ↑ Heinrich Detering, Juden, Frauen, Literaten, in: Thomas Mann und das Judentum, Thomas-Mann-Studien, 30. Band, Vittorio Klostermann, Frankfurt 2004, S. 26
- ↑ Thomas Mann, Tagebücher 1933-1934, Hrsg. Peter de Mendelssohn, Fischer, Frankfurt 1977, S. 165
- ↑ Thomas Mann, Zum Problem des Antisemitismus, in: Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band 13, Nachträge, Fischer, Frankfurt 1974, S. 479
- ↑ Thomas Mann, Zum Problem des Antisemitismus, Thomas Mann, Gesammelte Werke, Band 13, Nachträge, Fischer, Frankfurt am Main 1974, S.480 – 481.
- ↑ Thomas Mann, Ein beharrlich Volk, in: Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band 13, Nachträge, Fischer, Frankfurt 1974, S. 512
- ↑ Thomas Mann, Ein beharrlich Volk, in: Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band 13, Nachträge, Fischer, Frankfurt 1974, S. 510
- ↑ Guy Stern in: Thomas Mann und die jüdische Welt, Thomas-Mann-Handbuch, Fischer, Frankfurt am Main, 2005, S. 61
- ↑ Hans Rudolf Vaget, „Von hoffnungslos anderer Art.“ Thomas Manns Wälsungenblut im Lichte unserer Erfahrung, in: Thomas Mann und das Judentum. Thomas-Mann-Studien, Klostermann, Frankfurt am Main, 2004, S. 38
- ↑ Thomas Mann: Zur Jüdischen Frage. In: Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Band 13, Nachträge, Fischer, Frankfurt 1974, S. 475
- ↑ Ruprecht Wimmer, Doktor Faustus und die Juden, in: Thomas Mann und das Judentum, Thomas-Mann-Studien, 30. Band, Vittorio Klostermann, Frankfurt 2004, S. 152
- ↑ Thomas Klugkist, Thomas Mann und das Judentum, in: Thomas Mann und das Judentum. Thomas-Mann-Studien, Klostermann, Frankfurt am Main, 2004, S. 163
- ↑ Thomas Mann, Gladius Dei, in: Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band 8, Fischer, Frankfurt 1974, S. 206-207
- ↑ Thomas Mann: Zur Jüdischen Frage. In: Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Band 13, Nachträge, Fischer, Frankfurt 1974, S. 466
- ↑ Thomas Mann, Wälsungenblut, in: Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band 8, Fischer, Frankfurt 1974, S. 385
- ↑ Thomas Mann, Wälsungenblut, in: Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band 8, Fischer, Frankfurt 1974, S. 380
- ↑ Hans Rudolf Vaget,„Von hoffnungslos anderer Art“, Thomas Manns Wälsungenblut im Lichte unserer Erfahrung, in: Thomas Mann und das Judentum. Thomas-Mann-Studien, Klostermann, Frankfurt am Main, 2004, S. 38
- ↑ Hans Rudolf Vaget, „Von hoffnungslos anderer Art.“ Thomas Manns Wälsungenblut im Lichte unserer Erfahrung, in: Thomas Mann und das Judentum. Thomas-Mann-Studien, Klostermann, Frankfurt am Main, 2004, S. 36
- ↑ Thomas Mann,Buddenbrooks, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band 1, Fischer, Frankfurt 1974, S. 63
- ↑ Thomas Mann,Buddenbrooks, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band 1, Fischer, Frankfurt 1974, S. 65
- ↑ Rolf Thiede, Die Darstellung der „Judenfrage“ in der „höheren Erzählkunst“, Thomas Manns Buddenbrooks; in: Stereotype von Juden, Die frühen Schriften von Heinrich und Thomas Mann, Zum antisemitischen Diskurs der Moderne und den Versuch seiner Überwindung, Metropol Verlag, Berlin 1998, S. 81
- ↑ Ruprecht Wimmer, Doktor Faustus und die Juden, in: Thomas Mann und das Judentum, Thomas-Mann-Studien, 30. Band, Vittorio Klostermann, Frankfurt 2004, S. 151
- ↑ Ruprecht Wimmer, Doktor Faustus und die Juden, in: Thomas Mann und das Judentum, Thomas-Mann-Studien, 30. Band, Vittorio Klostermann, Frankfurt 2004, S. 156
- ↑ Thomas Klugist, 49 Fragen und Antworten zu Thomas Mann, War Thomas Mann Antisemit?, Fischer, Frankfurt 2003, S. 201
- ↑ Zit. nach: Guy Stern, Thomas Mann und die jüdische Welt, Thomas-Mann-Handbuch, Fischer, Frankfurt am Main, 2005, S. 61