Chaosforschung

mathematisches Teilgebiet der nichtlinearen Dynamik
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Die "Chaostheorie" (umgangssprachlich) beschäftigt sich als ein Teilgebiet der Mathematik und Physik mit bestimmten nichtlinearen dynamischen Systemen. Die "Chaostheorie" geht unter anderem auf Arbeiten von Edward N. Lorenz, Benoit Mandelbrot und Henri Poincaré zurück. Beispiele für chaotische Systeme sind Wetter, Klima, Plattentektonik, Turbulenz, Wirtschaftskreisläufe, Internet und das Bevölkerungswachstum. Abgesehen davon, dass die Ausgangsdaten nichtphysikalischer und nichtchemischer, sondern biologischer Systeme (Fischteiche, Wiesen, eine Stadt etc.) zu komplex sind, um sie vollständig erfassen zu können, verändern sie sich ständig. Bei diesen Systemen kann niemals mehr die gleiche, geschweige denn dieselbe Ausgangsituation hergestellt werden. Beliebig kleine Änderungen in den Anfangsbedingungen aber führen zu einer qualitativ veränderten Dynamik des Systemes. Fazit: Alle Prognosen sind auf Sand gebaut. Jeder scheinbar noch so kontrollierte Prozess kann an irgendeiner Stelle eine nicht vorhersehbare Entwicklung nehmen, ins "Chaos" umschlagen. Es sind deshalb (für uns) "chaotische" Systeme, weil wir ihre Ordnung (noch) nicht durchschauen. "Chaos" ist immer ein Zeichen für Lebendigkeit. Das Leben an sich ist "chaotisch". Gern wird im Zusammenhang mit der "Chaostheorie" der so genannte Schmetterlingseffekt erwähnt.

Sensitive Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen

Anders als der Begriff Chaos in der Umgangssprache charakterisiert der Begriff hier nicht den Zustand eines Systems, wie beispielsweise seine Unordnung, sondern sein zeitliches Verhalten, das heißt seine Dynamik. Genau genommen ergibt sich chaotisches Verhalten dann, wenn die aus einer Änderung der Anfangsbedingungen resultierenden Unterschiede in der zeitlichen Entwicklung eines Systems zunächst exponentiell mit der Zeit anwachsen anstatt linear oder polynomial, das System aber beschränkt ist, so dass auch dem Wachstum dieser Unterschiede eine Grenze gesetzt ist.

Anhand klassischer Experimente in der Physik Galileis und anderen zeigt sich, dass schon bei geringfügigen Änderungen in den Anfangsbedingungen eines Systems (schwingendes Pendel, das mit den Zustandsvariablen bzw. Parametern Ort, Geschwindigkeit, Luftwiderstand/Dissipation beschrieben wird) große und überraschende Effekte auf den Zustand und die Dynamik des Systems entstehen können.

Folglich können klassische mechanische, also deterministische, Systeme nicht-lineare bzw. chaotische Eigenschaften aufweisen (beispielsweise Aperiodizität) und sind in ihrer Dynamik unvorhersehbar. Ihre Systemzustände lassen sich somit zum Beispiel nicht in linearen Gleichungen erfassen. Nicht-lineare Gleichungen zur Analyse und Beschreibung von dynamischen Systemen sind bis heute aber nur schwer oder nur numerisch lösbar.

Trotz des prinzipiellen Determinismus übersteigen jedoch die Anforderungen an die Präzision der Kenntnis der Anfangsbedingungen für die Vorhersage des Verhaltens für einen bestimmten Zeitraum rasch die Möglichkeiten praktischer Messgenauigkeit um astronomische Faktoren. Obwohl solche Systeme theoretisch dem Determinismus unterliegen, ist eine praktische Vorhersage daher prinzipiell nur für mehr oder weniger kurze Zeitspannen möglich, die je nach System durchaus im Bereich von Sekunden oder weniger liegen können. In Abgrenzung zum Verständnis von Chaos in Form von Unordnung wird dieses auch als deterministisches Chaos bezeichnet.

Die Rolle der Zustandsvariablen

Die Beobachtung beispielsweise des System "Erdklima" muss praktisch unendlich viele Kombinationen von Zustandsvariablen einbeziehen (zum Beispiel Wetterzyklen), bekannt und unbekannt, die die langfristigen Trends des Erdklimas beeinflussen. Mit anderen Worten: die Trefferquote von Vorhersagen für das aktuelle Wetter oder grundlegender Klimatrends ist von der hinreichenden Kenntnis von Wetter- bzw. Klima entscheidender Zustandsvariablen abhängig. In diesem Sinne ist beispielsweise die Wettervorhersage von vielen, zum Teil unbekannten oder kaum messbaren Faktoren und praktisch unbestimmbaren Wirkungsketten abhängig.

Rückkopplung

Solche schwer zu erfassenden systemischen Wechselwirkungen finden in der Chaosforschung ihren Ausdruck in dem Grundsatz: "Alles hängt irgendwie mit Allem zusammen". So kann etwa der "Flügelschlag" (stellvertretend für eine minimale Veränderung eines einzelnen Faktors am Anfang) eines Schmetterlings im Amazonas einen Gewittersturm über Europa (ein großer Effekt auf den Endwert) im globalen Wettersystem auslösen (siehe Schmetterlingseffekt). Jede noch so winzige Änderung des Anfangszustandes in einem System führt zu neuen System(-anfangs)zuständen, die ihrerseits wieder zu weiteren unvorhersehbaren Dynamiken im System führen (Iteration: Rückkoppelungseffekt). Die Kausalität solcher Phänomene ist weitgehend unerforscht.

Bezug zur Quantentheorie

Durch die extremen Anforderungen an die Genauigkeit der Anfangsbedingungen lässt sich über die Heisenbergsche Unschärferelation ein Bezug zur Quantentheorie herstellen, nach der Ort und Geschwindigkeit eines Teilchens nicht gleichzeitig beliebig genau definierbar sind. Diese Einschränkung ist gewöhnlich nur im Mikrokosmos relevant. Die Vorhersagbarkeit makroskopischer chaotischer Systeme stößt jedoch früher oder später ebenfalls an die Grenze dieser Unschärferelation. Damit sind chaotische Systeme hinsichtlich ihres deterministischen Charakters quantenmechanische Systeme. Das bedeutet, dass sie aufgrund der begrenzten Gültigkeit der klassischen Physik prinzipiell nicht deterministisch sind.

Beschreibungsweisen chaotischer Phänomene

Qualitative Beschreibung durch seltsame Attraktoren im Phasenraum

Wesentlich für die exakte Beschreibung nichtlinearer Systeme ist das Modell des Phasenraums, der sozusagen die zeitliche Abfolge jeweils spezifischer Kombinationen von gemessenen Zustandsvariablen bzw. Parametern abbildet, d. h. dass sich spezifische Systemzustände auf einer Zeitachse erfassen lassen. Jeder dieser messbaren Zustände stellt einen Punkt bzw. eine Kombination von Zustandsvariablen im Phasenraum dar. Derartige Punkte sind so genannte Attraktoren, dies sind temporäre Gleichgewichtszustände im Phasenraum wie zum Beispiel Anfangs- oder Endzustände eines dynamischen Systems. Die Wirkungsrichtung von Attraktoren manifestiert sich in Trajektorien, also Bahnenkurven von sich nicht überschneidenden, temporären Gleichgewichtszuständen (=spezifische Kombinationen von Zustandsvariablen bzw. Attraktoren). Unterschieden werden verschiedene Formen von Attraktoren, u.a. stabile Fixzustände und Grenzzyklen; am bekanntesten sind wohl die chaostypischen "seltsamen Attraktoren" wie der Lorenz-Attraktor.

Quantitative Beschreibung

Siehe auch: Ljapunow-Exponent, metrische Entropie, Kolmogorow-Entropie, fraktale Dimension

Interdisziplinarität

Die Chaosforschung verbindet eine Reihe von Forschern aus verschiedenen Disziplinen wie der Physik, Geometrie/Mathematik, Biologie, Wirtschaftswissenschaften oder Meteorologie, die man als akademische Querdenker bezeichnen könnte. Historisch gesehen handelt es sich um Persönlichkeiten, die im akademischen Betrieb kaum bekannt waren wie z.B. Farmer, Benoit Mandelbrot, Lorenz u. a. Übertragen wurden Prinzipien, Methoden und Denkweisen aus der Chaosforschung aber auch auf weitere Bereiche, wie beispielsweise die Stadtforschung. Bedauert werden darf: Geisteswissenschaftler allgemein, die Philosophen im Besonderen, die Gesellschaftswissenschaftler, aber auch die Mediziner (die ja alle mit lebendigen "Systemen" zu tun haben) die "Chaostheorie" bislang nicht oder nur marginal entdeckt haben. Das ist umso erstaunlicher, als die meisten Mediziner zum Beispiel in ihrer Wissenschaft-Denke Physik und Chemie einen großen Platz einräumen, obwohl eben gerade die Ansätze der "Chaosforschung" hilfreich(er) sein könnten. Populär-"wissenschaftlich" (man kann auch sagen: spekulativ) kann auch mit Hilfe der Ansätze der nichtlinearen Dynamik das Unmögliche einer (sozialistischen) Planwirtschaft konstatiert einleuchten: Ein so komplexes System wie es ein ganzer Staat nun mal ist, ist per se "chaotisch", niemals vorhersehbar, planbar.

Paradigmenwechsel?

Oft wird im Zusammenhang mit der Chaostheorie von einem Paradigmenwechsel in der Physik durch die Formulierung der Chaostheorie gesprochen. Dabei wird jedoch übersehen, dass in der Physik bereits seit der Entwicklung der Quantentheorie in den 1920er Jahren der Determinismus kein grundlegendes Prinzip der Beschreibung der Natur mehr darstellt.

Der Umstand, dass man sich erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts der Erforschung chaotischer Systeme zugewandt hat, ist lediglich darin begründet, dass es erst seit dieser Zeit die dazu erforderlichen Computer gibt. Die Chaostheorie basiert vollständig auf den Konzepten der klassischen Physik. Ihre wesentlichen Neuentdeckungen bestehen darin, in der Dynamik chaotischer Prozesse wiederum Ordnungsstrukturen entdeckt zu haben wie beispielsweise die so genannten seltsamen Attraktoren.

Siehe auch

Chris Langtons Ameise (Turingmaschine), Systemtheorie, Logistische Gleichung, Volterra-Gesetze, Bifurkation, Komplexe Systeme, Schmetterlingseffekt, Mitchell Feigenbaum, Mandelbrot-Menge

Literatur