Politikverdrossenheit bezeichnet das Desinteresse der Bürger bis hin zur Ablehnung von Politik und politischem Handeln. Politikverdrossenheit führt zur mangelnden Partizipation am politischen Prozess. Diese Haltung kann generell die ganze politische Ordnung betreffen oder sich nur auf Ergebnisse politischer Prozesse beziehen.
Obwohl das Phänomen „Politikverdrossenheit“ auch davor bekannt war, tauchte es als Begriff Ende der 80er Jahre das erste Mal auf. Die Gesellschaft für deutsche Sprache e. V. erklärte es 1992 zum Wort des Jahres und zwei Jahre später fand es Eingang in den Duden. Daneben sind auch verwandte Wörter wie „Staats-“ oder „Parteienverdrossenheit“ entstanden.
Ausdruck
In wie weit die Politikverdrossenheit ausgeprägt ist, erkennt man an dem Verhältnis jedes einzelnen zur Politik. Jemand der kein Interesse für die Politik hat, wird sich auch nicht aktiv politisch engagieren. Politikverdrossenheit lässt sich daher z. B. an abnehmenden Mitgliedszahlen in politischen Parteien ablesen. Das Vorliegen einer solchen Beobachtung wird auch auf Parteienverdrossenheit zurückgeführt.
Auch ein abnehmendes passives politisches Engagament (also eine abnehmende Wahlbeteiligung) wird als Zeichen für das Vorliegen von Politikverdrossenheit gewertet.
Politik-/Parteienverdrossenheit in Deutschland
In den letzten Jahren ist neben der Politikverdrossenheit auch eine zunehmende Parteienverdrossenheit zu erkennen. Sie muss eng verknüpft mit der Politikverdrossenheit betrachtet werden, jedoch richten sich hier die ablehnende Haltung und die Inaktivität ausschließlich auf die Arbeit in und mit den Parteien. Rückläufige Mitgliederzahlen (siehe Tabelle), hoher Altersdurchschnitt der Mitglieder (2003 sind 45,7 Prozent der CDU-Mitglieder über 60 Jahre alt, 42,2 Prozent bei der SPD) und eine Abnahme der Stammwählerschaft – die allerdings auch mit dem Wahlverhalten (Wechselwähler) zusammenhängen – sowie vor allem geringe Wahlbeteiligung können als Belege hierfür betrachtet werden. Es besteht auch bei weitem nicht mehr das Vertrauen in die Parteien wie zu vergangener Zeit. Lobbyismus, Skandale, wie Spendenaffären oder illegale Machenschaften, die durch die Medien publiziert werden, tragen hierzu bei. Kritiker machen aber auch Massenmedien verantwortlich, die angeblich Politiker nicht selten kollektiv als schwarze Schafe darstellen. Dem gegenüber steht aber das große Engagement mancher Politiker, auch jenseits von Parteipolitik.
Jahresangabe (1990-2001) | Mitgliederzahlen von CDU, CSU, SPD, FDP, B90/Grüne, PDS in Tausend |
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1990 | 2321,7 |
1991 | 2206,3 |
1992 | 2067,6 |
1993 | 1989,0 |
1994 | 1952,4 |
1995 | 1896,3 |
1996 | 1846,3 |
1997 | 1805,3 |
1998 | 1794,4 |
1999 | 1779,3 |
2000 | 1722,9 |
2001 | 1684,4 |
Allerdings müssen die Zahlen relativiert werden, da z. B. allein die PDS im hier aufgeführten Zeitraum über 200.000 Mitglieder verloren - die meisten durch Sterbefälle. Dass dies allein mit Politik- bzw. Parteienverdrossenheit erklärt werden kann, ist fraglich.
Eine zunehmende Parteienverdrossenheit zeigt sich in Deutschland auch im abnehmenden Ansehen der Politiker. Regelmäßig werden von Demoskopen Umfragen zum Ansehen bestimmter Berufsgruppen durchgeführt; dabei schneiden Politiker regelmäßig sehr schlecht ab.
Politikverdrossenheit bei Jugendlichen
Bei Jugendlichen ist die Politikverdrossenheit ausgeprägt. Das Ergebnis der 14. Shell-Jugendstudie von 2002 lautet: “Inzwischen bezeichnen sich nur noch 30 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren als politisch interessiert. Für die Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren liegt für die Entwicklung des politischen Interesses im Rahmen der früheren Shell Jugendstudien eine Zeitreihe vor. Danach ist der Anteil der politisch interessierten Jugendlichen von 55 Prozent im Jahre 1984 bzw. sogar 57 Prozent 1991 inzwischen auf 34 Prozent gesunken.“ Vorlage:Lit
Ein diskutiertes Thema ist, dass Jugendliche unter 18 Jahren kaum politische Mitspracherechte haben. Ihre Wünsche werden kaum beachtet, da sie nicht stimmberechtigt sind und somit ist diese Gruppe eben für Politiker „uninteressanter“. Ob die Herabsetzung des Wahlalters eine Lösung wäre, bleibt fraglich.
Gründe
Es gibt viele Gründe die bei der Entstehung und Ausprägung des Desinteresses eine große Rolle spielen.
In der jüngeren deutschen Geschichte war beispielsweise nach der Wiedervereinigung der Bundesrepublik mit der DDR eine zunehmende Politikverdrossenheit zu beobachten. So titelte die „Berliner Zeitung“ am 1. 6. 1992: „Kaum befreit und schon verdrossen“. Zur allgemeinen Wirtschaftsflaute kamen noch die hohe Staatsverschuldung, Parteien- und Finanzskandale, Flüchtlingsprobleme, wachsende Arbeitslosigkeit und die massenhafte Schließung von Betrieben im Osten sowie ganz allgemein die Enttäuschung über vollmundige (Wahl-)Versprechungen und deren spätere Relativierung oder Zurücknahme. Prominentes Beispiel ist das Versprechen des damaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl am 21.06.1990 (während der Debatte zum Zwei-plus-Vier-Vertrag im Bundestag): „Nur der Staatsvertrag gibt die Chance, dass Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg und Sachsen bald wieder zu blühenden Landschaften werden können ...“.
Viele Beobachter sehen den Hauptgrund aber direkt bei der Politik und den Politikern.
Zum einen wird die mangelnde Volksnähe kritisiert: Inwiefern Parteien und Politiker, die in den Parlamenten die Interessen ihrer Wählerschaft vertreten sollen, bei der Entscheidungsfindung ihre Aufgabe als Delegierte des Volkes wahrnehmen oder vernachlässigen, wird von Bürger oft sehr unterschiedlich bewertet. Das Resultat parlamentarischer Arbeit ist häufig nicht konform mit den Wünschen der Wähler. Zwar gehört es zum Wesen der repräsentativen Demokratie, dass gewisse Themengebiete in den entsprechenden Ausschüssen von Fachleuten beraten werden, da den meisten Bürgern das Grundwissen über diese Themen fehlt, allerdings kann sich daraus auch eine mangelnde Identifikation der Bürger mit den Abgeordneten oder den Parteien ergeben. Zudem kann ein „Reformstau“, also das zu langsame Reagieren auf aktuelle Anforderungen, zu einem Vertrauensverlust gegenüber den Volksvertretern beitragen. Wichtige Regelungen, wie zur Finanzierung der Renten oder der Gestaltung des Gesundheitssystems, greifen augenscheinlich nicht schnell genug oder gar nicht. Die Gemeinschaftsaufgaben werden nicht gelöst und es stellt sich die Frage nach der Kompetenz der Parteien. Aus dieser Situation heraus kommt es zudem bei vielen Menschen zur sogenannten Existenzangst.
Als weiterer Grund wird angenommen: Zunehmendes Eigeninteresse der Parteien, Macht und Geld stehen im Vordergrund und nicht das Wohlergeben des Staates und der Wähler. Vertrauensverlust und Ablehnung der Parteien sind die Folge.
Das Eisverkäufer-am-Strand-Problem wird ebenfalls als Erklärungsmodell für Politikverdrossenheit verwendet. Im Zwei-Parteien-System der USA lässt sich mit dem Modell zeigen, dass Parteien Wähler außerhalb der Mitte aus taktischen Gründen weitgehend ignorieren, da sie sich vom so genannten Medianwähler die meisten Stimmen erhoffen. Allerdings eignet sich das Modell nur bedingt, die Situation in den meisten europäischen Ländern zu beschreiben. So besetzen beispielsweise in Deutschland zunehmend kleine Parteien politische Nischen (FDP, Linkspartei, B90/Grüne), während der Stimmenanteil der beiden großen Volksparteien CDU und SPD in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich abgenommen hat. Diese Zersplitterung trägt möglicherweise dem Streben der großen Parteien zur Mitte Rechnung und sollte daher die negativen Effekte auf Randwähler kompensieren.
Insbesondere unter Jugendlichen, aber auch unter Bürgern mit einem geringen Ausbildungsstand dürfte auch die zunehmende Komplexität politischer Entscheidungen zu einem wachsenden Desinteresse an Politik beitragen. Hier ist es Aufgabe des Staates die politische Bildung zu fördern und dadurch mehr Menschen zur Partizipation zu bewegen. Als empirisch erwiesen gilt nämlich, dass mit wachsendem Bildungsgrad, das Engagement für gesellschaftliche Belange zunimmt.
Literatur
- Kai Arzheimer: Politikverdrossenheit. Bedeutung, Verwendung und empirische Relevanz eines politikwissenschaftlichen Begriffs, Westdeutscher Verlag, Opladen 2002 ISBN 3531137972
- Wolling, Jens: Politikverdrossenheit durch Massenmedien? Der Einfluss der Medien auf die Einstellungen der Bürger zur Politik, Westdeutscher Verlag, Opladen 1999.
- Huth, Iris:
Politische Verdrossenheit : Erscheinungsformen und Ursachen als Herausforderungen für das politische System und die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland im 21. Jahrhundert / Iris Huth. - Münster : LIT, 2004. - 559 S. : graph. Darst. - (Politik und Partizipation ; 3) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 2003 ISBN 3-8258-8183-0
- Wolfgang Gaiser / Martina Gille / Winfried Krüger / Johann de Rijke: Politikverdrossenheit in Ost und West?, Aus Politik und Zeitgeschichte (B 19-20/2000)