Inzest (auch Blutschande) bezeichnet den Geschlechtsverkehr zwischen nahen Verwandten. Viele Kulturen der Menschheit kennen ein Inzesttabu. Inzest ist in der Tierzucht ein durchaus gebräuchliches Zuchtverfahren, um Rassemerkmale zu stabilisieren.
Inzest als soziologisches Untersuchungsfeld
Universell abgelehnt wird der Geschlechtsverkehr zwischen Blutsverwandten ersten Grades also zwischen Eltern und ihren Kindern, sowie zwischen leiblichen Geschwistern. Geschlechtliche Beziehungen zwischen entfernteren Verwandten werden in verschiedenen Gesellschaftssystemen unterschiedlich bewertet; manchmal wird eine Ehe zwischen Vetter und Kusine bzw. Base erster Ordnung nicht mehr toleriert, manchmal wird der Kreis weiter gezogen. Daneben gilt auch der Geschlechtsverkehr zwischen verschwägerten Personen in manchen Gesellschaften als Inzest.
"Verwandtschaft" verbietet jedoch nicht nur Ehen, sie kann sie auch gebieten; "Inzest" als Verbrechen ist das dann nur aus dem Blickwinkel einer fremden Kultur. So ist in etlichen Stammesgesellschaften die Kreuzkusinenheirat vorgeschrieben. Es kann sogar der - dann eheliche - Geschlechtsverkehr zwischen Geschwistern vorgeschrieben sein, meist nur in hoher sozialer Position. Ein bekanntes Beispiel ist die Pharaonendynastie der Ptolemäer im antiken Ägypten (304 v. Chr. - 30 v. Chr.), die Geschwisterehen auf dem Thron vorschrieb; dies wird als Resultat der Machtzentralisierung bei matrilinearer Erbfolge von Hohepriesterinnen bei gleichzeitiger Patrilinearität einer Erbmonarchie angesehen.
Gesetzeslage heute
Inzest wird in vielen Staaten strafrechtlich verfolgt. In Deutschland und Österreich allerdings nur zwischen in gerader Linie verwandten – also Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, … und deren Kindern, Enkelkindern, Urenkelkindern … – sowie zwischen voll- und halbbürtigen Geschwistern. In Deutschland werden Abkömmlinge und Geschwister nicht bestraft, wenn sie zur Tatzeit jünger als achtzehn Jahre waren. In Österreich wird nicht bestraft, wer zur Tatzeit jünger als 19 Jahre war und zur Tat verführt wurde. In Deutschland ist der Tatbestand auch erfüllt, wenn das Verwandtschaftsverhältnis im Sinne des Bürgerlichen Rechts bereits erloschen ist. Im Jahr 2003 hat es insgesamt 10 Verurteilungen zu § 173 StGB in dem Gebiet der früheren Bundesrepublik Deutschland (Westdeutschland) gegeben.
Betreffend der Eheschließung ist das kanonische Recht der Kirche strenger als das bürgerliche: Während z.B. für eine katholische Eheschließung zwischen Cousin und Cousine eine kirchliche Dispens erforderlich wäre, ist eine Ziviltrauung nur zwischen Geschwistern sowie Nachkommen und Vorfahren ausgeschlossen, in allen anderen Fällen ohne weiteres möglich.
Biologische Aspekte
Kommt es beim Inzest zur Fortpflanzung, nimmt die Variabilität der Gene bei so gezeugten Nachkommen und der Heterosis-Effekt ab, während die Homozygotie steigt. Dadurch wird das Risiko des Ausbruchs von heterozygoten Erbkrankheiten bei den Kindern erhöht, gleichzeitig werden aber positive Erbmerkmale propagiert.
Meist besteht eine Erbkrankheit darin, dass ein für den Stoffwechsel notwendiges Protein fehlt, da das entsprechende Gen "nicht richtig funktioniert", weil es (etwa durch Mutation) beschädigt ist. Es kann vorkommen, dass ein betroffenes Individuum eine Erbkrankheit nicht ausbildet, weil es von dem Gen jeweils eine "funktionierende" und eine "nicht funktionierende" Variante besitzt, wobei mit der einen funktionierenden Variante eine ausreichende Menge des betroffenen Proteins hergestellt werden kann. Eine solche Erbkrankheit heißt rezessiv. Sind nun zwei Eltern genetisch nah verwandt und hat ein Elternteil eine solches nicht funktionierendes Gen, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das andere Elternteil auch ein solches nicht funktionierendes Gen besitzt. Ist dies der Fall (und dies ist wegen der großen Gen-Anzahl so gut wie immer der Fall) und wird durch beide Elternteile ein Nachkomme gezeugt, so tritt für jedes betroffene Gen der Eltern mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 25% der Fall ein, dass der Nachkomme zwei nicht funktionierende Varianten, also keine funktionierende Variante des Gens hat, was in der Regel einen "Totalausfall" der Funktionalität des Gens bedeutet, also die Ausbildung der Erbkrankheit.
Wegen der großen Anzahl der Gene ist das Risiko für die Ausbildung erblicher Defekte dieser Art bei Nachkommen von genetisch nahe verwandten recht hoch. So ist jedes zweite bis dritte Kind aus einer Beziehung zwischen Bruder und Schwester auffällig. Etwa jedes vierte ist geistig behindert, jedes siebte hat einen Geburtsdefekt und jedes achte leidet unter einer bekannten rezessiven Krankheit. Nachkommen aus inzestuösen Beziehungen werden daher aus rechtlicher Sicht als Opfer der Straftat Inzest betrachtet.
In der Natur sind bisweilen Strategien zur Inzestvermeidung zu finden. Bei Pflanzen sind das etwa Blüten, die erst nur Pollen produzieren, und danach zur Bestäubung geeignet sind, oder umgekehrt. Bei Tieren und Menschen ist es der Geruchssinn, der genetisch nahe Verwandte in einer Weise riechen lässt, die keine sexuellen Gefühle aufkommen lassen soll und folglich Sex zwischen nahen Verwandten vermeiden hilft. Kinder, die bis zum 6. Lebensjahr gemeinsam aufwachsen, entwickeln eine instinktive Inzesthemmung, und auch wenn sie nicht verwandt sind, werden sie im Erwachsenenalter höchstwahrscheinlich nicht miteinander sexuell aktiv.
Die Ausbildung eines doppelten Chromosomensatzes, die mit der Sexualität selbst (also der Zeugung von Nachkommen durch mehr als einen Vorgänger) eng zusammenhängt, wird als Mittel der Natur gesehen, die negativen Folgen von Mutationen (erhebliche Benachteiligung des Organismus, wenn eine Gen-Kopie "nicht funktioniert") zu mindern, indem von jedem Gen mindestens eine zusätzliche Kopie in jeder Zelle vorhanden ist.
Die Tierart mit der höchsten bekannten Inzestrate sind die Nacktmulle.
Literarische Verarbeitung
Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament der Bibel wird Inzest einheitlich verurteilt, wobei damit nicht nur Geschlechtsverkehr zwischen nahen Blutsverwandten, sondern auch zwischen nahen angeheiratete Verwandten gemeint ist (siehe 3. Mose 18, 6ff.).
Neben den Inzesten, die in den Schöpfungsmythen vieler Völker vorkommen, kennt die Literaturgeschichte eine Vielzahl von gewöhnlich dramatischen Erzählungen, die das Thema Inzest behandeln. Eine klassische Geschichte ist die Ödipussage, in der ein ausgesetzter Sohn, ohne darum zu wissen, seine Mutter heiratet und mit ihr vier Kinder zeugt. Das Märchen Allerleirauh der Brüder Grimm handelt von einer inzestuösen Beziehung zwischen Vater und Tochter.
Innerhalb der romantischen Literatur erscheint der Inzest teilweise als auslösendes Moment einer tragischen Geschichte. Etwa in E.T.A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels erfährt der Leser gegen Ende durch die Genealogie der Protagonisten, dass ein Fall von Inzest Auslöser war für den ausbrechenden Wahnsinn der Hauptfigur und ihres Doppelgängers, die in ihrem Wirrspiel quasi telepathisch verbunden erscheinen. Die Auslöschung der inzestuös entstandenen Familie erscheint als Ziel jener magischen bzw. wahnsinnigen Zustände.
In Richard Wagners Oper Die Walküre entbrennen die Zwillinge Siegmund und Sieglinde in Liebe zu einander. In der Vereinigung der Geschwister (Zitat: "So blühe denn Wälsungenblut") wird der Held Siegfried gezeugt.
Auch in Der Erwählte von Thomas Mann findet sich die Dualität von besonderer Tragik in Verbund mit einer gewissen Auserwähltheit. Hier wird der aus einer mittelalterlichen Erzählung, dem Gregorius Hartmanns von Aue entstammende Protagonist am Ende nach langen Leidens- und Bußejahren zum Papst erhoben. In Thomas Manns Novelle Wälsungenblut ist das Thema Inzest zwischen Geschwistern ebenfalls zentral, in Joseph und seine Brüder taucht es (in den Eltern des Potiphar) am Rande auf.
Eine moderne Version ist Max Frischs Homo faber.
Eine autobiographische Aufbereitung des eigenen Missbrauchs schildert Kathryn Harrison in Ich bin die Tochter, die keiner sieht (1997, ISBN 3426269791)
Filme
Geschichtliches
Im europäischen Hochadel kam es immer wieder zu Eheschließungen, die zumindest hart an der Grenze des Inzest waren. Grund dafür war der Glaube an eine "göttliche Kraft" des Blutes, die, so meinte man, durch Eheschließung und Fortpflanzung mit anderen Familienmitgliedern, die Inhaber des gleichen Blutes waren, nur noch gestärkt werden konnte. Auch das Prinzip der Ebenbürtigkeit schränkte die Wahl der möglichen Ehepartner erheblich ein, so dass schließlich fast jeder mit jedem verwandt war. Das kanonische Recht der katholischen Kirche verbot zwar Eheschließungen zwischen in engem Grade Verwandten, anders als bei Bürgerlichen war die Kirche jedoch bei Angehörigen des Hochadels (oft gegen gewisse finanzielle Zuwendungen) häufig dazu bereit, eine Ausnahmegenehmigung (einen päpstlichen Dispens) zu erteilen.
Nachdem die Kenntnisse der Genetik heute größer sind, nimmt man an, dass die hohe Zahl von Ehen im engen Verwandtschaftskreis zumindest eine Mitursache des Aussterbens einiger großer europäischer Dynastien (z. B. das Haus Valois) ist.
Siehe auch
Weblinks
- Stand der theoretischen Diskussion
- Beitrag bei Quarks
- Zur Gesetzeslage vergleiche:
- Deutschland: § 173 StGB (mit Rechtsprechungshinweisen)
- Österreich: § 211 StGB ("Blutschande"), § 6 EheG
- Schweiz: Art. 213 des Strafgesetzbuches
- Katholische Kirche: c.1091 CIC
Hilfsorganisationen: