Die Stadt der träumenden Bücher ist ein Roman von Walter Moers, der am 9. September 2004 Münchener Piper-Verlag erschien. Wie bereits in einem der früheren Zamonien-Bücher (Ensel und Krete, 2000) gibt Moers vor, nur als deutscher Übersetzer eines Werkes des zamonischen poeta laureatus Hildegunst von Mythenmetz zu fungieren. Laut Moers Konstruktion stelle der Roman nur die ersten zwei Kapitel der 25-bändigen, über 10.000-seitigen "Reiseerinnerungen eines sentimentalen Dinosauriers" aus der Feder des Dichterfürsten von der Lindwurmfeste dar.
Inhalt
Der Handlung folgt dem in Fantasy- und Abenteuerromanen häufigen Modell der Quest: von seinem im Sterben liegenden „Dichtpaten“ Danzelot von Silbendrechsler erhält Mythenmetz einen genialen Text mitsamt dem Auftrag, dessen unbekannten Autor ausfindig zu machen. Zu diesem Zweck solle der sich der junge Lindwurm in die „Stadt der träumenden Bücher“, nach Buchhaim aufmachen. Von der Erfüllung dieser Aufgabe hänge es ab, ob Hildegunst eines Tages des „Orms“ teilhaftig werden könne, einer geheimnisvollen Kraft, die in allen großen Dichtern wirke.
In Buchhaim angekommen, ist Mythenmetz überwältigt von der Fülle der auf ihn einströmenden Erfahrungen und verwirrt von den Begegnungen mit einigen Einheimischen, darunter ein Impresario und drei Antiquare. Er erfährt nach und nach, dass die ganze Stadt von einem düsteren System ausgedehnter, labyrhintischer und überreich mit alten Büchern angefüllten Katakomben untertunnelt ist. Dort liefern sich die skrupellosen, blutrünstigen Bücherjäger erbitterte Kämpfe um kostbare Druckerzeugnisse– nicht nur untereinander, sondern auch mit einem Volk von Zyklopen, den Buchlingen (denen nachgesagt wird, sie fräßen Literatur) sowie zahllosen anderen, größtenteils höchst gefährlichen Daseinsformen. Über allem herrscht dort unten eine unfassbar grausame und erbarmungslose Gestalt, der Schattenkönig.
Als Eigentümer des genialen Manuskripts findet sich der Lindwurm alsbald inmitten einer undurchsichtigen Intrige wieder. Mit Hilfe eines giftigen Buches betäubt, wird er ins Labyrinth verbracht und verirrt sich immer tiefer in dessen Gängen. Inmitten vieler gefährlicher Abenteuer findet Mythenmetz schließlich auch die Wahrheit über die Buchlinge und den Schattenkönig heraus. Die zweite Hälfte des Buches nimmt über längere Passagen Züge eines Bildungsromans an, der uns schildert, wie der junge Hildegunst von Mythenmetz gewissermaßen in die Lehre geht, um schließlich das Orm zu erlangen.
Die Buchlinge
In den ersten Monaten nach Erscheinen des Romans ergötzte sich Moers' große Fangemeinde vor allem daran, die in den Namen der Buchlinge als Anagramme auftauchenden Literaturheroen zu entschlüsseln. In einigen Fällen treffen Moers' Permutationen Eigenheiten von Persönlichkeit oder Werk des persiflierten „originalen“ Dichters auf eine verblüffend genaue, wenn auch nicht unbedingt schmeichelhafte Weise. So verbirgt sich hinter dem Buchling Akud Ödreimer allem Anschein nach Eduard Mörike, während der Leser in Dölerich Hirnfidler Friedrich Hölderlin wiedererkennen soll. An dem literarischen Ratespiel des so genannten Ormens, das die Buchlinge im Roman mit Hildegunst von Mythenmetz zelebrieren, darf der Romanleser auf geistreiche Weise direkt teilnehmen; allein in dieser Passage des Buches treten „undercover“ auf:
- Ohjann Golgo van Fontheweg Johann Wolfgang von Goethe
- Gofid Letterkerl Gottfried Keller
- Perla La Gadeon Edgar Allan Poe
- Ali Aria Ekmirrner Rainer Maria Rilke
- Sanotthe von Rhüffel-Ostend Annette von Droste-Hülshoff
- T.T.Kreischwurst Kurt Schwitters
- Ydro Blorn Lord Byron
- Göfel Ramsella Selma Lagerlöf
- Fatoma Hennf E.T.A. Hoffmann
- Woski Ejstod Dostojewski
- Wonog A. Tscharwani Iwan Gontscharow
- Orca de Wils Oscar Wilde
- Balono de Zacher Honoré de Balzac
Eine umfassende Übersicht über die bedeutendsten Autoren Zamoniens findet sich hier [1]; die interessanteste Lücke in dieser Liste ist Werma Tosler (erwähnt auf S.107 des Romans), ein Illustrator von Trivialromanen, dem im uns bekannten Literaturbetrieb Walter Moers zu entsprechen scheint.
Die Illustrationen
In allen bisherigen Zamonien-Romanen hat Moers außerordentlichen Wert auf die Gestaltung der Bücher gelegt (das geht so weit, dass beispielsweise in Rumo & die Wunder im Dunkeln das Lesebändchen ein "silberner Faden" ist, was einen Bezug zum Inhalt des Romans schafft).
Wilde Reise durch die Nacht von 2001 stellt neben einem charmanten literarischen Experiment und einer Hommage an den großen Illustrator Gustave Doré auch ein Plädoyer für das illustrierte Buch dar.
In der Stadt der träumenden Bücher ist eine qualitativ neue Bewertung der Moers'schen Illustrationen auffällig, die der Autor bereits im Rumo anbahnte. Neben den bereits seit den 13½ Leben des Käpt'n Blaubär bekannten Bildern, die Moers noch stark an den Zeichenstil seiner Comics anlehnt, finden wir anderes Material: etliche Porträtzeichnungen (etwa S. 59 oder 70) sind von einer bisher bei Moers unbekannten (und offenbar durch Doré angeregten) handwerklichen Perfektion, die Vignetten schaffen einen weiteren Bezug zum im 19. Jh. üblichen Buchdruck. Das Ausdrucksspektrum von Moers als Illustrator der eigenen Werke wird dem Fantasiereichtum des Textes immer angemessener und die Stilmittel, über die er verfügt, legen die Vermutung nahe, dass er sich über Doré hinaus auch mit anderen Größen des Faches (Tomi Ungerer, Paul Flora, Honoré Daumier) beschäftigt hat.
Bisherige Rezeption des Romans
Walter Moers ist einer der kommerziell erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren, deswegen wäre jeder Versuch absurd, ihn als "verkanntes Genie" hinzustellen. Die Stadt der träumenden Bücher wurde bereits 2005, also kurz nach der Veröffentlichung, mit zwei Literaturpreisen ausgezeichnet, dem Sonderpreis der Jury der jungen Leser und dem Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar. Bemerkenswert ist jedoch die Parallele zu Umberto Ecos Bestseller Der Name der Rose: auch dieser Roman wurde (und wird zum Teil noch heute) vom größten Teil seiner breiten Leserschaft ausschließlich als geistvolle Variation des literarischen Genres des Kriminalromans gelesen. Kritik und Literaturwissenschaft brauchten einige Zeit, um zu der Einsicht zu gelangen, dass Eco tatsächlich einen, wenn nicht den paradigmatischen postmodernen Roman vorgelegt hatte.
Fantasy oder Popliteratur?
In der bisherigen Rezeption aller Zamonien-Romane fallen, größtenteils recht unreflektiert, die beiden Begriffe der Fantasy und der Popliteratur. Von diesen ist das letztere Schlagwort relativ leicht als im wesentlichen unangemessen nachweisbar: hier ist das zugrunde liegende Missverständnis, dass Moers ein erfolgreicher, also populärer Autor ist. Dagegen wird für Popliteratur im allgemeinen als konstituierend angesehen, dass der Autor sich mit den (aktuellen) Befindlichkeiten seiner Generation, seines sozialen Umfeldes oder seiner Gesellschaft im Ganzen auseinandersetzt. Dies trifft im Fall der Stadt der träumenden Bücher bestenfalls in dem Abschnitt zu, der die Stadt Buchhaim schildert und in die der Leser tatsächlich eine bis ins Groteske überzeichnete Darstellung des gegenwärtigen Literaturbetriebs, insbesondere der Frankfurter Buchmesse hineinlesen kann. Auf die Formensprache der Fantasy greift Moers dagegen in der Tat vielfach zurück; gerade Die Stadt der Träumenden Bücher stützt sich in ihrer Anlage auf die Vertrautheit des Lesers mit diesem Genre. Um nur einige besonders augenfällige Charakteristika zu nennen: seit J.R.R. Tolkien ist die Erfindung einer relativ elaborierten Parallelwelt für den Fantasy-Autor quasi verpflichtend; diesem Anspruch wird Moers' Zamonien zwar zweifellos gerecht, jedoch ist dieser fiktive Kontinent offensichtlich weit chaotischer strukturiert als Tolkiens vergleichsweise sauber geordnetes Mittelerde. So erweitert sich die Liste der Daseinsformen Zamoniens mit jedem Roman, und viele Einzelheiten variiert der Autor entweder sehr stark oder bekümmert sich gar überhaupt nicht um logische Kohärenz. Andererseits konstruiert er dann doch wieder mit großer Freude am Detail Systeme wie die Buchhaimer Runen (ein Zahlensystem, das auf Achtereinheiten beruht, aber für den eigentlichen Fortgang der Romanhandlung keine erkennbare Bedeutung hat).
Das Buch, der Autor und die Postmoderne
Im Fall der Stadt der träumenden Bücher stehen einer Rezeption, die dem tatsächlichen literarischen Wert des Buches gerecht werden, noch weit mehr Hindernisse entgegen:
- Im Gegensatz zu Eco scheut Moers die Öffentlichkeit und den Literaturbetrieb sehr stark. Er gibt kaum Interviews und steht dem akademisch-intellektuellen Diskurs eher fern. Wo Eco in seiner universitären Arbeit jahrelang den geistigen Boden bereitet hat für den Roman, mit dem er schließlich Erfolg beim großen Publikum hatte, war Moers auf der anderen Seite schon lange Zeit ein erfolgreicher Autor, allerdings im literarisch wenig angesehenen Comic-Genre. Vom Schöpfer provokanter, den so genannten guten Geschmack bewusst verletzender Figuren wie dem Kleinen Arschloch oder Adolf, der Nazi-Sau anspruchsvolle Literatur zu erwarten oder zu akzeptieren, fällt dem literarischen Establishment im Deutschland nicht leicht.
- Während viele andere Autoren (als Beispiele seien so verschiedene Schriftsteller wie Elfriede Jelinek, Bertold Brecht und eben Umberto Eco genannt) das Stilmittel der Ironie und den so genannten Verfremdungseffekt dahingehend einsetzen, um ein gewisses Interesse des Lesers auf sich selbst, also die Person des Autors und damit dessen tatsächliche oder vorgebliche Biographie und Befindlichkeit zu lenken, tritt der Mensch Walter Moers hinter seinem Werk völlig zurück. Es dürfte auch einem oberflächlichen Leser des Moers'schen Romanoeuvres schnell bewusst werden, dass eine detaillierte Kenntnis biographischer Fakten über den Autor so gut wie nichts zum Verständnis der Bücher beiträgt. Den in der gegenwärtigen kulturellen Rezeption so hoch bewerteten Bezug zwischen Biographie und Werk hebelt Moers fast vollständig aus.
- Moers verletzt die Erwartungshaltungen des Lesepublikums im deutschsprachigen Raum an "hohe" Literatur in den mannigfachsten Formen; zuweilen liegt der Verdacht nahe, er lege es nachgerade darauf an, dies auf jeder nur denkbaren Ebene zu tun. Was die Zamonien-Romane angeht, ist das auffälligste Stilmittel, das der Autor einsetzt, um diesen Effekt zu erzielen, die kinderbuchartige Aufmachung (unterstützt durch den "Stammbaum" der Romane, also ihre Verbindung mit der Figur des Käpt'n Blaubär, der mit der Kindersendung mit der Maus assoziiert wird). Auch die Anlehnung an Stilmittel der Fantasy-Literatur, die in Deutschland traditionell als minderwertig angesehen wird, ist in diesem Sinne durchaus hilfreich.