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Ghetto (Venedig)

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Ghetto heißt das abgeschlossene Wohngebiet für die jüdische Bevölkerung der Republik Venedig.


Die Juden Venedigs wohnten bis zum Ende der Republik im Jahre 1797 unter beengten Verhältnissen getrennt von der übrigen Bevölkerung, genossen aber gleichzeitig den Schutz durch die Republik. Sie wurden zwar finanziell ausgepresst, man gewährte ihnen aber in der Regel Schutz gegen die von der Inquisition auch in Venedig immer wieder versuchten Repressalien. Übergriffe von Christen gegen Juden wurden bestraft, ebenso wie die verantwortlichen Beamten in den Städten der Terra ferma bestraft wurden, die Übergriffe gegen jüdische Einwohner duldeten und nicht sanktionierten. Venedigs Juden genossen vom 16.Jahrhundert bis Anfang des 19. Jahrhunderts eine in Europa einzigartige Rechtssicherheit. An Pogromen gegen seine jüdische Bevölkerung hat sich die Serenissma nicht beteiligt.

Der Name Ghetto

Campo de Gheto Novo

Die Herkunft des Names ist nicht vollständig geklärt. Wahrscheinlich ist er abgeleitet von dem italienischen Ausdruck geto für Gießerei, der sich im Laufe der Zeit zu gheto oder ghetto verhärtet hat. In Venedig taucht er 1414 in dieser Form in einer Akte auf. 1562 gebrauchte Papst Pius IV. das Wort in einer Bulle erstmals für ein abgeschlossenes jüdisches Stadtviertel. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts hatte sich das Wort ghetto für abgeschlossene jüdische Wohngebiete in italienischen Städten durchgesetzt. Bis ins das frühe 16. Jahrhundert wurde das Wort sowohl geto als auch ghetto geschrieben.

Geschichte

Bereits im 5. und 6. Jahrhundert gab es Juden in Venedig, die von der Stadt jedoch in der Regel nur als Händler aber nicht als Einwohner geduldet wurden. Jüdische Händler deutscher Herkunft mussten wie die übrigen Kaufleute aus Deutschland im Fondaco dei Tedeschi wohnen, italienische Juden wohnten auf dem Festland. Zu einem ersten größeren Zustrom von Juden auf venezianisches Territorium kam es im Zuge der Pest von 1348/49, da man in Mitteleuropa den Juden die Schuld an der Seuche zuschob und sie blutig verfolgte. 1386 erhielten sie auf dem Lido ihren ersten eigenen Friedhof.

Die Gründung des Ghetto novo

Mitte des 14. Jahrhunderts befand sich die Stadt in einer prekären wirtschaftlichen Situation: Die Kriege gegen Verona und Genua (1350-1355) und die Folgen der Pest hatten zu einem Niedergang des Handels geführt. Der große Rat hatte sich mit dem Problem des allgemeinen Geldmangels, der nicht nur die Staatskasse sondern die gesamte Bevölkerung betraf, zu befassen. Eine dauerhafte Zulassung jüdischer Pfandleiher, die bereits in Mestre und Treviso tätig waren, wurde auch für Venedig erwogen. Durch deren Tätigkeit konnte neues Kapital in den Wirtschaftskreislauf fließen, und die verantwortlichen Gremien der Republik erkannten bald den Nutzen für die Republik. Man nahm also Juden auf, gab ihnen aber nur befristete Aufenthalterlaubnis, so dass sie weiterhin zwischen Festland und Stadt hin und her pendeln mussten. Mit der wirtschaftlichen Erholung Venedigs kam es bald wieder zu Spannungen zwischen den einzelnen sozialen Gruppen, die sich in mehr oder weniger kurzfristigen Schikanen von Seiten der Behörden niederschlugen. So mussten die Juden ihre Kleidung kennzeichnen, durften keinen Baugrund erwerben, andererseits durften sie in Zeiten von Gefahr ihre diskriminierende Kleidung ablegen und zu ihrem Schutz bewaffnete "Bodygards" halten, das heißt natürlich zum Schutz des von den Christen benötigten Kapitals, das durch ihre Hände ging. Die kurzfristig wechselnden Rechtstitel wurden immer den aktuellen Bedürfnissen der Republik angepasst.
Der Zuzug von Franziskanern und Dominikanern, den Hütern der Inquisition, in die Stadt machte die Situation für die Juden und die Signoria nicht einfacher. Um sich über mögliche päpstliche Repressionen wegen seiner toleranten Politik klar zu werden, gab der Doge Cristoforo Moro bei Kardinal Bessarion ein Gutachten in Auftrag, in dem er darlegen sollte, ob der tägliche Umgang von Juden mit Christen diesen schaden könnte. In seinem Brief von 18. Dezember 1463 erklärte der Kardinal, dass keine Gefahr für das Seelenheil der Christen bestünde und dass die Juden zu respektieren seien. Venedig konnte also mit seiner pragmatischen Politik fortfahren und den Reaktionen aus Rom unbesorgt entgegensehen.

Der für alle Beteiligten unbefriedigende Zustand von verweigerter oder gewährter, zeitlich begrenzter Zulassung wurde schließlich am 26. März 1516 durch einen Erlass, der den Juden einen festen Wohnplatz zuwies, beendet.

Die pragmatische Haltung der Republik zu den jüdischen Einwohnern, bei der ideologische oder religiöse Motive nur eine marginale Rolle spielten und die das Verhältnis zwischen der Serenissima und der jüdischen Gemeinschaft auch in Zukunft kennzeichnen sollte, zeigt sich exemplarisch an der Gründungsgeschichte des Ghettos.

Das Ghetto novo befindet sich im in Canareggio auf dem Gebiet einer verlassenen Gießerei. Die Erlaubnis, sich dort anzusiedeln, galt zunächst nur für die nordeuropäischen und italienischen Juden. Das Ghetto wurde jeden Abend abgeschlossen, die Tore wurden in der Nacht bewacht, die Kosten für die Bewachung hatte die Bewohner zu tragen. Das Verfahren, bestimmte Wohngebiete in der Nacht zu schließen und zu bewachen, war in der Zeit durchaus üblich. Für die deutschen Kaufleute wurde es im Fondaco dei Tedeschi praktiziert, venezianische Kaufleute ihrerseits wohnten in Alexandria/Ägypten in einem Distrikt, in den sie nachts und an muslimischen Feiertagen eingeschlossen wurden.
Allein die hoch angesehenen jüdischen Ärzte durften bei Bedarf das Ghetto nachts verlassen, wurden aber von den Wachen kontrolliert und mussten die Namen der Patienten angeben.

Das Ghetto vecchio

Gheto Vechio

1474 bestiegen Ferdinand II. von Aragonien und Isabella von Kastilien den spanischen Thron. Es begann eine blutige Judenverfolgung, eine Welle der Intoleranz verbreitete sich über das gesamte spanische Territorium, das damals bis Sardinien und Sizilien reichte. Ab 1496 beteiligte sich auch das Königreich Portugal, das von dem Schwiegersohn des spanischen Königs Manuel I. regiert wurde an den Verfolgungen. Wer sich nicht bereit erklärte, das Land binnen kurzer Zeit zu verlassen, wurde zwangsgetauft. Diese Politik löste eine Wanderungsbewegung im gesamten Mittelmeerraum aus. Die Gruppe der jüdischen Einwanderer, die nach Umwegen über Stationen in Hafenstädten des östlichen Mittelmeers in Venedig ankamen, nannte man Levantiner.
Eine weitere Einwanderungswelle wurde durch die Niederlage in der Schlacht von Agnadello von 1508 ausgelöst, bei der Venedig der Liga von Cambrai unterlegen war, und zahlreiche Juden der Terra ferma den Schutz der Serenissima suchten. Auch die Bankiers aus Mestre flohen nach Venedig. Die Spannungen in der Stadt zwischen den Eingesessenen und den Flüchtlingen nahmen zu und das Wohnrecht der Juden wurde im Senat erneut diskutiert.

Pragmatisch wie immer erkannte man das wirtschaftliche Potential, das die Zuwanderer mitbrachten und fand eine Lösung. Ein dem Adeligen Leonardo Minotti gehörendes angrenzendes Areal wurde zur Erweiterung des Ghettos umgewidmet, indem man dem Eigentümer hohe Mieteinnahmen versprach. Das neue Ghetto mit dem namen Ghetto vecchio wurde vornehmlich von Levantinern besiedelt.

1589 erhielten schließlich auch orientalische Juden sowie die spanischen und portugiesischen Juden und Marranen die Erlaubnis, sich im Ghetto vecchio anzusiedeln.

Das Ghetto novissimo

1611 wohnten auf einem Gebiet von rund drei Hektar 5500 Einwohner, während es im Jahr 1552 erst 900 gewesen waren. Die Wohnverhältnisse in den Ghettos waren also außerordentlich beengt, daher baute man die Häuser immer mehr in die Höhe, während die Höhe der einzelnen Stockwerke immer mehr reduziert wurde, so dass man in den Räumen kaum stehen konnte. Nach den Verlusten durch die Pest von 1630 verließen viele Juden die Stadt und siedelten sich in anderen Städten Italiens, beispielsweise in dem liberalen Livorno an.
1633 entstand schließlich das ghetto novissimo, in dem sich großzügige Wohnhäuser und Paläste befanden und in dem vor allem spanische und portugiesische Juden wohnten. In dieser Zeit waren die Juden in Venedig anerkannt und geschätzt, sie konnten in Padua, der venezianische Universität, studieren. Dort unterlagen sie keinen Restriktionen, für sie galten die gleichen Gesetze wie für alle anderen Studenten. Nur die Studiengebühren waren für Juden erheblich höher. Nach dem Examen arbeiteten sie als Wissenschaftler oder Ärzte. In Venedig selbst entfaltete sich ein reiche jüdische Kultur.

Die Öffnung des Ghettos

Relief am Campo de Gheto Novo

Mit der Eroberung Venedigs durch Napoleon wurden die diskriminierenden Gesetze für die Juden aufgehoben, die gleichen Rechte wie alle Bürger erhielten sie aber erst 1848. Die Tore des Ghettos wurden 1797 verbrannt und die Residenzpflicht aufgehoben. Allerdings hatten viele Bewohner im Zuge des wirtschaftlichen Niedergangs die Stadt längst verlassen, das Ghetto war in einem schlechten baulichen Zustand, und zurückgeblieben war nur die arme Bevölkerung.
Die meisten der während des Faschismus noch im Ghetto lebenden Juden wurden im Zuge des nationalsozialistischen Terrorregimes umgebracht. An die Opfer erinnern die am Campo de Gheto Novo angebrachten Reliefs des litauischen Bildhauers Arbit Blatas.

Die Scole

Während des 16. Jahrhunderts wurden im Ghetto für die so genannten Nationen Synagogen, genannt Scole, gebaut. Diese Synagogen fallen im Stadtbild kaum auf, da sie wegen des Verbots, Synagogen auf venezianischen Grundstücken zu bauen, entweder in der äußeren Gestalt von Wohnhäusern oder auf deren Dächern errichtet wurden. Als erste Scola im Ghetto novo entstand die Scola Grande Todesca 1531. Dank ihrer fünf Rundbogenfester ist sie auch äußerlich zu erkennen. Die Scola Canton von 1531 war eine Synagoge für die Askenasi, ihre Bima stammt aus dem 17. Jahrhundert. Von 1571 ist die Scola Italiana, die mit einer kleinen Kuppel bekrönt ist. Im Ghetto vecchio befinden sich die Scola Levantina, deren Innenausstattung dem Bildhauer Andrea Brustolon zugeschrieben wird sowie die Scola Spagnola, die größte der venezianischen Synagogen. Sie stammt aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und wurde von den Marronen und Juden spanischer und portugiesischer Herkunft besucht. 1635 wurde sie unter der Leitung von Baldassare Longhena vollständig umgebaut. Der Innenraum mit seiner Ausstattung aus vielfarbigem Marmor, vergoldeten Stukkaturen und Holzvertäfelungen und der ovalen Frauenempore mit der hölzernen Balustrade zeigt sich als eine großartige barocke Rauminszenierung.

Das Ghetto in der Literatur

  • Maltese, Corto: Venezianische Legende. Roman.
  • Pressler, Ingrid: Shylocks Tochter. Venedig im Jahre 1568. Roman. Frankfurt 1999,
  • Rilke, Rainer Maria: Eine Szene aus dem Ghetto. in: Rilke: Geschichten von lieben Gott.
  • Zangwill, Israel: Kinder des Ghetto. 1897.
  • Zangwill, Israel: Träumer des Ghetto. 1898.
  • Zangwill, Israel: Komödien des Ghetto. 1907.

Literatur

  • Berg, Silke: Il Ghetto di Venezia. Das erste jüdische Ghetto in Europa. 1996.
  • Calimani, Riccardo: Storia del Ghetto di Venezia. Mailand 1995.