Seiendes
Einem Seienden kommt irgendein Sein zu, so dass es - auf irgendeine Weise - ist. Dass es ein Seiendes ist, ist das schlechterdings Allgemeinste, das man über es sagen kann, sofern es sich um kein Nichtseiendes handelt. Denn dann wäre es gar nichts: weder etwas Lebloses noch Lebendiges, weder etwas Körperliches noch Geistiges, weder etwas Reales noch Ideales, weder etwas Vergangenes noch Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder etwas Mögliches noch Wirkliches noch Notwendiges usw.
Philosophiegeschichtliches
Kennzeichnend für die philosophische Diskussion des Seienden ist das Problem seiner Abgrenzung vom Nichtseienden. So betont jede Form des Realismus (Nominalismus, Empirismus, Sensualismus, Materialismus, Naturalismus, Objektivismus), dass es sich vor allem beim sinnlich Gegebenen um Seiendes handelt, dagegen bei bloß Gedachtem eher um Nichtseiendes. Im Gegensatz dazu sehen die verschiedenen Formen des Idealismus (Metaphysik, Mystik, Transzendentalismus, Konstruktivismus, Subjektivismus) das eigentlich Seiende in der Über- bzw. Innenwelt des rein gedanklich Vorgestellten, während gerade die Realität einer Außenwelt bestritten und für bloßen Schein gehalten wird.
Zwischen Realismus und Idealismus gelangt ein existenzphilosophischer Denkansatz zu der Auffassung, die Frage in einer prekären Schwebe zu halten, ob irgendetwas ein Seiendes oder ein Nichtseiendes sei - in Anbetracht einer allenthalben begegnenden Endlichkeit bzw. Kontingenz. Hatte gegen diesen schwachen Seinsmodus die mittelalterliche Scholastik den denknotwendigen Gott (Ontologischer Gottesbeweis) als den einzig Seienden bzw. "Seiendsten (ens realissimum)" abgehoben, so lässt ein atheistischer Existenzialismus (Sartre) über das Zufällige hinaus nichts gelten (vgl. Nihilismus). So gesehen, wäre in einem radikalen Sinn alles nur "der Fall" (Wittgenstein) und somit vollkommen hinfällig. -
In der traditionellen philosophischen Ontologie unterschied man - ähnlich wie auch heute noch in der Alltagssprache - nicht zwischen Sein und Seiendem. Erst das Denken Heideggers betonte die ontologische Differenz. Erst diese kritische Auseinandersetzung mit der Seinsfrage brachte es mit sich, dass ausdrücklich vom Seienden statt unterschiedslos vom Sein gesprochen wird.
Seitdem kann man sagen: Ein Seiendes unterscheidet sich von einem anderen Seienden allein durch seine Seinsweise. Es handelt sich also bei den verschiedenen Seienden nicht etwa um verschiedene Substanzen. An die Stelle der alten Substanzen-Ontologie (Platonismus, Aristotelismus) tritt vielmehr ein ontologischer Funktionalismus, der sich bereits gegen Ende der mittelalterlichen Philosophie - mit dem Nominalismus - abzuzeichnen begann. Der Cartesianismus ersetzte dann die Vielheit der Substanzen durch nurmehr zwei ("res cogitans" und "res extensa"), der Spinozismus schließlich durch eine einzige ("deus sive natura"). Daran anschließend, wurde im deutschen Idealismus das Seiende zum "Ein und Alles", das als ein und dasselbe auf unterschiedlichste Weise in Erscheinung tritt: die Ontologie wurde zur Phänomenologie.
Siehe auch
Ding, Entität, Ereignis, Gegenstand, Geschöpf, Idee, Individuum, Objekt, Subjekt, Universalienproblem, Wesen
Zitate
- Dem Seienden entsprangen alle Dinge der Welt. Das Seiende - es entsprang dem Nichtseienden. (Laudse)
- Seiendes ist, Nichtseiendes ist nicht. (Parmenides)
- Kein Sein ohne Seiendes. (Adorno)
Literatur
- Aristoteles: Metaphysik (4. Jh. v. Chr.)
- René Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie (1641)
- Martin Heidegger: Sein und Zeit (1927)
- Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts (1943)
- Emmanuel Lévinas: Vom Sein zum Seienden (1947)
- Heinrich Rombach: Substanz System Struktur (1965)