Verschwindenlassen

Form der staatlichen Willkür
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In der zweiten Hälfte des 20. Jh. stützten viele der lateinamerikanischen Militärdiktaturen ihre gewaltsame Unterdrückungspraxis auf eine neue, als „Verschwindenlassen“ (desaparición forzada) bezeichnete Repressionstechnik, die zunehmend das öffentliche Foltern, Ermorden und Massakrieren in ihrer Bedeutung ablöste. Grundlage ihres Handelns war die von US-amerikanischen Militärstrategen propagierte Doktrin der Nationalen Sicherheit, die den zu vernichtenden Feind inmitten der Gesellschaft verortete (enemigo interno) und somit nicht nur auf den bewaffneten, in Guerillaverbänden oder kommunistischen Bewegungen organisierten „Subversiven“ Bezug nahm, sondern auf die repressive Durchdringung der gesamten Gesellschaft abzielte.

Wie die jeweiligen Berichte der jeweiligen Wahrheitskommissionen zur Aufarbeitung der Konflikte deutlich machten, wurde das Verschwindenlassen nicht von geheimen, sich der staatlichen Kontrolle entziehenden Todesschwadronen durchgeführt, sondern stellte eine staatliche Repressionstechnik dar, mit der offizielle Sicherheitskräfte betraut wurden. Es verschwanden Mitglieder aller gesellschaftlichen Sektoren, ethnischer Zugehörigkeiten, sozialen Standards und Altersgruppen (inklusive kleiner Kinder und Babys).

Die Taktik des Verschwindenlassens wurde 1940 durch Hitlers Nacht und Nebel-Dekret erstmalig eingeführt, als festgestellt wurde, dass Festnahmen über einen längeren Zeitraum und öffentliche Hinrichtungen dazu führten, dass die Ermordeten als Märtyrer gefeiert und der Widerstand gestärkt wurde. Franzosen, die sich den Deutschen im 2. Weltkrieg widersetzten, wurden daher bei Nacht und Nebel entführt und auf deutsches Territorium verbracht, wo sie von ihrer ursprünglichen Umgebung isoliert waren. Im Vietnam-Krieg wurde das Verschwindenlassen als Teil der psychologischen Kriegsführung praktiziert. Hintergrund war die Erkenntnis, dass nicht so sehr der Tod von Angehörigen die in den Krieg verwickelten Vietnamesen psychisch verwundbar machte, sondern die Unmöglichkeit, die einem Toten zustehende Trauer- und Abschiedszeremonie vollziehen zu können.

Die Taktik des Verschwindenlassens in Lateinamerika fand ihren Ursprung Anfang der 60er Jahre in Guatemala, wo sie über zwei Jahrzehnte kontinuierlich praktiziert wurde (vgl. Argentinien, in denen 30.000 Personen innerhalb von zweieinhalb Jahren verschwanden). In der Regel wurden die Entführten mehrere Tage in Militärbasen oder geheimen Lagern inhaftiert und gefoltert, bis sie getötet wurden. Dadurch verfügte man über unbewaffnete, gefesselte Informanten, durch deren Verhör neue Namen preisgegeben wurden. Man konnte über Tod oder Leben des Feindes verfügen, ohne sich langwierigen juristischen Prozessen widmen oder national und international politisch verantworten zu müssen. Leichen von Verschwundenen wurden entlang von Strassen, in Universitätsgebäuden, Schornsteinen und anderen öffentlichen Orten hinterlassen sowie in Flüsse, Seen und sogar Vulkane geworfen.

Um die Entführungen wuchs eine Mauer des Schweigens: In Krankenhäusern, Gefängnissen und Leichenhallen wurde den fortan suchenden Angehörigen mitgeteilt, es sei nichts über das Schicksal der Verschwundenen bekannt. In nicht wenigen Fällen hieß es, der Gesuchte sei wahrscheinlich mit einer anderen Frau durchgebrannt oder hätte seine Familie im Stich gelassen, um sich in die USA abzusetzen. Es vergingen Tage, Wochen, Monate und schließlich Jahre der Ungewissheit, in denen die Angehörigen in einem unheimlichen Schwebezustand verharrten. Ehemalige Freunde und Bekannte grüßten nicht mehr auf der Strasse aus Angst, mit der betroffenen Familie in Verbindung gesetzt zu werden. Familienmitglieder zweiten Grades leugneten ihre Verwandtschaft zum Verschwundenen; in einigen Fällen versuchten sogar die unmittelbaren Angehörigen, das Schicksal ihres Verschwundenen zu verheimlichen, um nicht gesellschaftlich isoliert zu werden. Im Laufe der Zeit wurde es immer unwahrscheinlicher, dass die Verschwundenen lebend wieder auftauchen würden, und dennoch war es psychologisch unmöglich, den Verlust der Angehörigen trauernd zu verarbeiten: Würde der Tod des Verschwundenen angenommen und ein Prozess von Trauer, Tröstung und schließlich Lösung eingeleitet, würden sich die Überlebenden gleichsam des Verrats an dem womöglich noch Lebenden schuldig machen. Hinzu kommt, dass ein Neubeginn für viele Partner von Verschwundenen unmöglich war, da sie nicht offiziell verwitwet waren.

Ein Verschwundener ist kein einfacher politischer Gefangener und ebenso wenig ein Toter, obwohl es Fälle gegeben hat, in denen Kadaver gefunden wurden, für die sich jedoch niemand verantwortlich gezeigt hat. Das Verschwindenlassen unterscheidet sich vom heimlichen Mord, da mit dem Verschwinden des Beweises gleichzeitig der Körper des Opfers verschwindet. Verschwunden zu sein bedeutet nicht, tot zu sein. Mitglieder von Angehörigenorganisationen fordern daher die Exhumierung von heimlichen Massengräbern, in der Hoffnung darauf, die Knochen und Gebeine ihrer Geliebten finden und angemessen bestatten zu können. Das Verschwindenlassen ruft traumatisierte Gesellschaften hervor, die in einem allgegenwärtigen Zustand der Angst, Unsicherheit und des Misstrauens innerhalb autoritärer Strukturen leben.