Marginalisierung der Tuareg in Mali und Niger

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Die Marginalisierung der Tuareg in den Staaten Mali und Niger beschreibt den Prozess der Miss- bzw. Nichtachtung bis hin zur Unterdrückung der Interessen der Tuareg in den Staaten Mali und Niger. Seit der Kolonialzeit bereits werden die Tuareg an den Rand der jeweils vorherrschenden Gesellschaften gedrängt. Die Marginalisierungsmaßnahmen basieren dabei auf Konflikten vielschichtiger Prägung.[1]

Verteilungskarte der Tuareg über 5 Staaten (Libyen, Algerien, Niger, Mali, Burkina Faso)
Karte Französisch-Westafrikas 1936
Tuareg zur Zeit der Kolonialisation (Aufnahme mit unbekanntem Erstellungsdatum)

Historisch bedingt sind Konflikte, die daraus resultieren, dass durch die Region die Grenze zwischen hellhäutigen arabo-berberischen Völkern mit (halb)-nomadischer Lebensgrundlage als Tierhalter (Tuareg) und sesshaften negriden Bauernvölkern (Ackerbau) verläuft, die ihrerseits Staaten gründeten und in den Sahelstaaten auch staatliche Führungspositionen besetzten (schwarzafrikanische Volksgruppen). Ausfluss der daraus resultierenden Konflikte waren drei Tuareg-Rebellionen, die sich zeitlich einteilen lassen in die 1. Tuareg-Rebellion (1961/2–1964), die 2. Tuareg-Rebellion (1990–1995) und die 3. Tuareg-Rebellion (2007–2009). Seit März 2012 entbrennt in Mali zudem ein weiterer Aufstand.[2]

Geschichte

Kolonialzeit

Kaosenaufstand 1917

Fundamentale Krisen ereigneten sich über vier Jahrzehnte lang ab den 1950er bis in die 1990er Jahre. Diesen Krisen gingen bereits Marginalisierungsprozesse gegen die Tuareg in der Kolonialzeit voran. Hungersnöte katastrophalen Ausmaßes - insbesondere 1914 - führten zu den ersten gewaltsamen Erhebungen der Tuareg gegen die Kolonialmacht Frankreich. 1917 scheiterte der Kaosenaufstand in Agadez. Dieses Ereignis wird von den Tuareg bis heute als kollektive moralische Katastrophe wahrgenommen.[3] Zahlreiche Vertreter ihrer Adelsschichten (Imajaren) wurden bei diesen Auseinandersetzungen getötet.

Sklavenbefreiung

Daneben befreite die Kolonialverwaltung die (schwarzen) Sklaven der Tuareg (iklan), da seit 1906 die Sklaverei als unvereinbar mit den Grundprinzipien der Föderation der französischen Gebiete in Westafrika angesehen wurde[4]; eine Tatsache, die die Tuareg-Gesellschaften noch mehr destabilisierte, denn die mit dem bäuerlichen Feldbau betrauten iklan produzierten nicht mehr für die Tuareg-Krieger und Vasallen[5] (imrad), was eine eklatante Schwächung derer Versorgung bedeutete, da diese sich um die Herden gekümmert und (wildes) Getreide geliefert hatten.

Die Aufgabe der Sklaverei durch die Befreiung der iklan legte einen Grundstein für deren gesellschaftliche Emanzipation und bestimmte die weitere Entwicklung der nationalen Geschichte erheblich. Über die Tuareg-Revolten hinaus fanden die befreiten Bevölkerungsgruppen in der jüngeren Geschichte Möglichkeiten, sich im Zeichen von Demokratisierung und Dezentralisierung zunehmend selbst zu bestimmen und zu organisieren, sodass sie eine neue gesellschaftliche Position finden konnten.[6]

Übergangszeiten bis zu den Revolten

Noch vor der Unabhängigkeit der Staaten Niger und Mali setzten durch die gesellschaftlichen Umbrüche (Ende der Sklaverei) Erwartungshaltungen der Tuareg ein, weil sie die Chancen, Lebensformen neu zu sortieren, erkannten. Seit 1944 wurden afrikanische Eliten seitens der französischen Regierung zunehmend in Staatsangelegenheiten eingebunden. Soziale, kulturelle und sportliche Organisationen entstanden, wie in Mali beispielsweise die „Amicale Sportive“, die „Société-Sportive Soudanaise“, oder „Les Flamboyants“, wo Persönlichkeiten wie Mamadou Konaté, Modibo Keïta oder Mamby Sidibé sich trafen, um über Politik zu diskutieren. Erste Handelsvereinigungen existierten bereits, Gewerkschaften wurden nunmehr gegründet, Bindeglieder zwischen den neuen afrikanischen Bildungseliten und der restlichen Bevölkerung, wie den einzelnen ethnischen Gruppierungen der Tuareg.[7] Die nach dem Zweiten Weltkrieg aufkommenden Entkolonisierungsvorhaben wurden ebenfalls als Chance wahrgenommen. Allerdings dauerte es bis 1958, bis Charles de Gaulle erneut an die Macht kam und eine Verfassungsänderung umsetzte, die ein Referendum über die Abspaltung afrikanischer Territorien beinhaltete.[8]

1958 vollzog sich der administrative Wechsel. Die Verwaltungsaufgaben wurden an afrikanische Beamte übertragen. Der Umstand, dass die Franzosen das Feld räumten, traf die Mehrzahl der Tuareg insoweit überraschend, als sie kaum zu glauben vermochten, dass ein übermächtiger Gegner - ohne Bezug einer militärischen Niederlage - tatsächlich abziehen würde. Dies entsprach nicht der eigenen Tradition als Krieger. Diese Transition führte die Tuareg in eine politische Krise, denn sie mussten sich mit dem Umstand auseinandersetzen, dass diejenigen, die sie beherrscht hatten, nunmehr Macht über sie selbst hatten, die iklan.[9][10]

Perioden von Krisen

Von André Bourgeot[11][12] werden vier Krisen beschrieben, die die Aufstände der Tuareg in den beiden Staaten Mali und Niger begünstigten.

1. Krise

 
Sahel - Niederschlagsindex: Gut ablesbar sind die niederschlagsreichen 1960-1970er Jahre und die dürren 1970-1980er-Jahre
 
Tuareg in Mali, 1974 - zu Zeiten der Dürrekatastrophen
 
Nigrischer Targi

Bis zu den 1950er Jahren konnten die Tuareg im Niger - in den dort vornehmlich vorherrschenden Altdünengebieten - Weidewirtschaft betreiben. Sie nutzten die Landstriche im Rahmen ihrer nomadischen Subsistenzwirtschaft. Die 1950er und 1960er Jahre waren geprägt durch Niederschlagsreichtum. Sesshafte bäuerliche Gruppen, ebenso die ehemaligen Tuaregsklaven (iklan), weiteten durch diese klimatische Begünstigung ihren Regenfeldbau enorm aus. Dies führte zur Verdrängung der Tuareg aus deren besten Weidegründen. Unterstützt wurden die Regenfeldbauern durch staatliche Förderprogramme, die ab 1961 mittels Brunnenbauprojekten und veterinärmedizinischen Kampagnen vorangetrieben wurden. Diese Projekte führten zu einem Anwachsen der Rinderbestände, was zur Überweidung der Areale führte. Grundsätzlich sahen die Landnutzungsrechte auch Einschränkungen vor, nämlich territoriale Begrenzungen. Der 15. Breitengrad sollte nordwärts nicht durchstoßen werden. Diese ausdrücklichen Verordnungen wurden allerdings ignoriert, sodass die Tuareg keine Rückzugsgebiete im Niger mehr hatten. Daraus wiederum resultierten zunehmend gewaltsame Konflikte, denn die Interessen waren sehr unterschiedlich. Der Konflikt um die Wirtschafts- und Lebensformen der Streitbeteiligten war damit auch zugleich ein Konflikt, der politische Dimensionen aufwies. Als es nach der Unabhängigkeit des Niger (1960), Bodenrechte zu vergeben galt, geschah dies einseitig im Sinne des Ackerbaus, was einer Entscheidung gegen die Lebensformen der Tuareg gleichkam.

2. Krise

Die Unabhängigkeit der Sahelländer Mali und Niger fiel in das Jahr 1960. Mit der neu gewonnenen Freiheit dieser Staaten verschärfte sich die nagative Entwicklung für die Tuareg auch politisch. Die Staatsgewalt dieser Länder ging nämlich fortan von der in deutlicher Majorität lebenden schwarzafrikanischen Bevölkerung aus. Die wenig konföderierten Tuareg [13] fanden immer weniger Gehör in den Machtzentren der Elite. Zu entfernt waren die Stellungen der Potentaten. Identitätspolitische Infragestellungen der Tuareg kamen noch hinzu.

Neben den ideologischen Differenzen förderten den Ausbruch der Revolte der 1960er Jahre somit ökonomische Gründe. Gesetze wurden erlassen und Aufsichtsbrigaden gebildet, die Holzschlag verhindern und mit schweren Strafen ahnden sollten. Mali verließ 1962 zudem die Westafrikanische Währungsunion und erhöhte die Steuern. Der eingeführte Franc Malien war nicht konvertierbar, was den ausländischen Handel lahmlegte. Die Steuern auf Vieh wurden erhöht und deren Handelspreis künstlich gesenkt, um den Tauschwert an die isolierte Wirtschaft anzugleichen. Damit erlag auch der Viehhandel der Tuareg.[14] Mangels einheitlicher Vertretung ihrer Interessen und mangels inneren Zusammenhalts standen die Tuareg den Geschehnissen militärisch, politisch und logistisch machtlos gegenüber.

3. Krise

Die nächste Krise in den 1970er und 1980er Jahren wurde durch Dürrekatastrophen ausgelöst. Sie verursachten Viehsterben, eine instabile Währung jetzt auch im Niger mit fortschreitendem Kaufkraftverlust und ausgeprägter Fluchtmigration. Die Tuareg flüchteten in die nördlich des Sahel angrenzenden Staaten Algerien und Libyen. Ebenso flohen sie in die Stadtzentren Malis und Nigers. Hungersnöte brachen aus. Massensterben und Verelendung folgten. Die Abhängigkeit von internationalen Spendenaktionen verschiedener Hilfsorganisationen waren eine Folge. Handlangertum und Söldnerdasein verblieben als einzige Auswege. An der Grenze zu Algerien verdiente man sich Geld, indem man von der sozialistischen Regierung subventionierte Produkte über die Grenze schmuggelte und sie in Mali weiterverkaufte. Im Gegenzug hierzu belieferten die Tuareg Südalgerien mit Fleisch, um deren Engpässe auszugleichen. Gleichzeitig bildeten die schlechten Gesamtbedingungen die Vorstufe zur Massenarbeitslosigkeit. Viele Tuareg trieb es in die militärisch instrumentalisierten Flüchtlingslager Libyiens. Solche Refugien bestanden in Ubari, Ghat und Ghadames. Libyiens Staatschef Muammar al-Gaddafi rekrutierte unter den Tuareg Söldner, die in Kriegshandelsgebiete wie dem Tschad, dem Libanon und in Sri Lanka bei den Tamil Tigers eingesetzt wurden. Ebenso profitierte von ihnen die westsaharische Rebellenorganisation POLISARIO. Die erworbene Kampferfahrung kam den übrigen Tuareg, den ishumar (den Arbeitslosen) zugute, denn im Jahr 1990 bildeten sie den harten Kern der Tuareg-Revolte.[15]

4. Krise

 
Karte der Brennpunkte der 3. Rebellion

Ab den 1990er Jahren forderten die Tuareg politisch-institutionelle Rechte ein. Es ging um Mitspracherechte. Unterrepräsentiert und marginalisiert durch die seit Ende der 1980er Jahre vorherrschende Einparteienlandschaft der dominanten Völker der Bambara in Mali und der Djerma im Niger, erhoben sich die Tuareg zur sogenannten Gastarbeiterrevolte. 1991 und 1997/98 entflammten heftige Widerstände seitens der Tuareg gegen die Obrigkeiten. Gefordert wurden Föderalismus, mehr Autonomie und letztlich Sezession. Das Anfang 2007 gegründete Mouvement des Nigériens pour la Justice (MNJ) griff die Konfliktgegenstände der 1990er Jahre erneut auf.[16] Größere Beteiligungen an den Urangewinnen, umfassende Entwicklungsprogramme und Dezentralisierung bzw. Föderalismus wurden und werden gefordert.[17]

Friedensphasen

Seit 1996 wurden den Rebellenorganisationen der Tuareg sukzessive Friedensverträge angeboten. Weiterhin wurde die Aufnahme von Tuaregs in die Armeen zugesichert. Regierungsbeteiligungsmöglichkeiten wurden in Aussicht gestellt. Internationale EU-Hilfe unterstützte im Rahmen des PROZOPAS-Projektes die gezielte Rückführung von 60.000 Kriegs- und Langzeit-Dürre-Migranten zurück in den Niger. Geregeltes Weidemanagement, Selbstverwaltung und Katastrophenvorsorge wurden vereinbart. Präsident Alpha Oumar Konaré gestand den Tuaregs in Mali dezentrale Verwaltung in Kidal zu.

Die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung (IKRK) und das Programme Mali-Nord betreiben ländliche Regionalentwicklung (Schulen, Brunnen).

Da die Friedensabkommen der Jahre 1994/1995 seitens der Tuareg als mangelhaft umgesetzt erachtet werden, attackieren sie zunehmend wieder Wirtschaftseinrichtungen des Landes. Zentrum der Gewalt war zuletzt Iferouane. Auch in Mali rumort es wieder.[18]

Siehe auch

Literatur

  • Thomas Krings, Sahelländer, WBG-Länderkunden, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 2006, ISBN 3-534-11860-X
  • Gerd Splitter, (1989b), Handeln in einer Hungerkrise, Tuaregnomaden und die große Dürre von 1984, Opladen (Westdeutscher Verlag), ISBN 3-531-11920-6
  • André Bourgeot, (1990), Les sociétés touarègues: de l'aristocratie à la Revolución. Etudes rurales. No. 120, S. 129 - 162
  • Georg Klute, (1990), Die Revolte der Gastarbeiter. Die Auseinandersetzungen zwischen Tuareg und Regierung in Mali und Niger, Blätter des iz3w, Nr. 169, S. 3-6
  • Boilley, Pierre, 1999: Les Touareg Kel Adagh. Dépendences et révoltes: du Soudan français au Mali contemporain: 8
  • Diarrah, Cheikh Oumar, 1991: Vers la IIIe République du Mali. Paris: L'Harmattan
  • Imperato, Pascal James, 1989: Mali. A Search for Direction. Dartmouth: Westview Press
  • Bram Posthumus. Niger: A Long History, a Brief Conflict, an Open Future, in Searching for Peace in Africa, European Centre for Conflict Prevention (1999). ISBN 90-5727-033-1
  • Samuel Decalo. Historical Dictionary of Niger. Scarecrow Press, London and New Jersey (1979). ISBN 0810812290
  • Jolijn Geels. Niger. Bradt London and Globe Pequot, New York (2006). ISBN 1841621528.
  • Anja Fischer 2012: Sprechkunst der Tuareg: Interaktion und Soziabilität bei Saharanomaden, Reimer: Berlin

Einzelnachweise

  1. Thomas Krings, Sahelländer, WBG-Länderkunden (s. Literatur)
  2. Rebellenführer Najem in Mali Ein Söldner als Staatsfeind Nummer 1 (süddeutsche.de) abgerufen am 04. April 2012
  3. Gerd Spittler, (1989b) (s. Literatur)
  4. Afrique occidentale française (A.O.F.)
  5. die in der Literatur immer wieder in Verbindung mit der internen horizontalen bzw. vertikalen Sozialorganisation der Imuhar verwendet werden, sind einem mittelalterlichen Staatssystem entnommen und nicht übertragbar. (s. Anja Fischer)
  6. Pierre Boilley, 1999: S. 216 f.
  7. Imperato, 1989: S. 51 ff.
  8. Diarrah, 1991: S. 32
  9. Pierre Boilley, 1999: S. 301
  10. Imperato, 1989: S. 60
  11. André Bourgeot (1990) (s. Literatur)
  12. NomadInnen, Sesshafte, GrenzgängerInnen: Die Sahara und ihre BewohnerInnen wecken zunehmend das Interesse moderner Forschung, wie eine internationale Konferenz in Wien zeigt.
  13. emisch begreiflich gemacht, spricht man statt von Konföderation besser von Ettebel, Tausit oder auch Tegehe (s. Anja Fischer)
  14. Imperato, 1989: S. 60
  15. Goeorg Klute 1990 (s. Literatur)
  16. Universität Hamburg: Niger (Tuareg)(Bewaffneter Konflikt)
  17. Matthias Basedau und Benjamin Werner, Neue Tuareg-Rebellion: Der Niger in der „Konfliktfalle“?
  18. Konrad Adenauer Stiftung, Regionalprogramm Politischer Dialog Westafrika: Krise in Mali weitet sich aus - Präsident ATT setzt auf Politik der Starken Hand im Tuareg-Konflikt