Anthroposophie
Als Anthroposophie (wörtlich Die Weisheit vom Menschen, Menschenweisheit) wird eine von Rudolf Steiner (1861-1925) begründete weltweit vertretene spirituelle Weltanschauung mit europäischen Wurzeln bezeichnet. Anthroposophie ist eine Erkenntnislehre, die zu eigenständiger "Forschung auf geistigem Gebiet" anleiten soll. Steiner betonte dabei die Freiheit des Menschen, der sich von allen Formen der Bevormundung, auch religiöser, emanzipieren soll, um einen individuellen, wenngleich systematischen Zugang zu Phänomenen der "übersinnlichen Welt" zu erlangen.
Steiner grenzte dabei die Anthroposophie von der Anthropologie ab. Letzteres behandele dasjenige, was der Mensch durch seine Sinne und den an die Sinnesbeobachtung sich haltenden Verstand über die Welt wissen könne; ersteres dagegen sei das "Wissen des Geistesmenschen" und es erstrecke sich auf alles, was dieser in der "geistigen Welt" wahrnehmen könne. Von dieser Prämisse aus entwickelt Steiner in der Anthroposophie eine umfassende ("kosmologische") Lehre des Menschen, die auf der Vorstellung von Karma und Wiedergeburt basiert.
Steiner selbst bezeichnet die Anthroposophie als "Erkenntnisweg" bzw. eine wissenschaftliche Methode zur Erforschung der "geistigen Welt", die über die auf "Sinneswahrnehmung und Verstandestätigkeit gegründeten Wissenschaft" hinausgeht. Er lehnte deswegen eine feste Bezeichnung für die von ihm vertretene "Erkenntnis- und Lebenspraxis" ab, da er dem Eindruck eines geschlossenen Lehrsystems entgegenwirken wollte. Synonym zu der Bezeichnung Anthroposophie verwendete er auch andere Begriffe, wie Geheimwissenschaft oder Geisteswissenschaft (letzteres in Anlehnung an Wilhelm Dilthey), um sein Gedankengebäude zu charakterisieren.
Im engeren Sinne wurde der Begriff Anthroposophie von Steiner als Titel einer Fragment gebliebenen Schrift aus dem Jahre 1910 verwendet (Gesamtausgabe (GA) 45). In dieser Programmschrift wurde die Anthroposophie in Anknüpfung an Ignaz Paul Vitalis Troxler als Mittler zwischen Theosophie und Anthropologie angesiedelt. Anthroposophie ist für Steiner dabei die Schaffung eines Bewußtsein des Menschentums. Es geht ihm um die Formulierung einer umfassenden Erkenntnistheorie zur menschlichen Bewußtwerdung. Da Steiner "Ich" und "Welt" nicht dualistisch geschieden vorstellt, will seine Anthroposophie Anleitung zur Selbst- und Welterkenntnis des Menschen zugleich bieten. Dies ist das monistische Programm des anthroposophischen Erkenntnisweges, das - Mit Friedrich Nietzsche und Max Stirner - einen freien, individualistisch geprägten Menschen voraussetzt. Dem Monismus ist dabei Naturerkenntnis und im gleichen Moment auch Erkenntnis der "geistigen Welt".
Der hier verwendete Begriff der Anthroposophie bezieht sich also auf die von Steiner begründete Erkenntnispraxis. Im weiteren Sinne wird landläufig allerdings auch die Summe von Steiners Schriften und Vorträgen oder die Praxis der von ihm begründeteten Anthroposophischen Gesellschaft als Anthroposophie bezeichnet.
Die Impulse, die von der Anthroposophie ausgehen umfassen so unterschiedliche Lebensbereiche, wie Pädagogik/Heilpädagogik (Waldorfschule, Camphill), Medizin (anthroposophisch erweiterte Medizin), Landwirtschaft (biologisch-dynamische Landwirtschaft), Gesellschaft (Dreigliederung des sozialen Organismus), Bewegungskunst (Eurythmie) und Religion (Christengemeinschaft, selbst nicht zur Anthroposophie gehörend). Als Zentrum der Anthroposophischen Gesellschaft wurde das Goetheanum erbaut.
Zu den bekennenden Anthroposophen gehörten zahlreiche Persönlichkeiten, vor allem aus Kunst und Kultur, darunter Joseph Beuys, Wassily Kandinsky, Christian Morgenstern, Bruno Walter und Michael Ende.
Herkunft des Begriffs Anthroposophie
Der Begriff Anthroposophie geht bereits auf die Epoche der Frühen Neuzeit zurück. In einem anonymen Buch mit dem Titel "Arbatel de magia veterum, summum sapientiae studium" (1575), das dem Esoteriker und Neuplatoniker Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim zugerechnet wird, wird die Anthroposophie (ebenso wie die Theosophie) der "Wissenschaft des Guten" zugerechnet und mit "Kenntnis der natürlichen Dinge" bzw. "Klugheit in menschlichen Angelegenheiten" übersetzt.
1806 wurde der Begriff Anthroposophie von dem schweizer Arzt und Philosoph I.P.V. Troxler (1780-1866) übernommen und der Biosophie zugeordnet (Elemente der Biosophie, 1806). Im Sinne der Vorläufer der Lebensphilosophie, vor allem des Naturphilosophen Schelling, bei dem Troxler studiert hatte, sollte Biosophie Naturerkenntnis durch Selbsterkenntnis bedeuten. Die Erkenntnis der menschlichen Natur nannte Troxler Anthroposophie. Die Philosophie - und alle Philosophie sei Naturerkenntnis - muss also nach Troxler zu Anthroposophie werden. Diese wird als eine "objektivierte Anthropologie" vorgestellt, die vom "ursprünglichen Menschen" ausgehen soll. In der menschlichen Natur vereinen sich demzufolge in einem mystischen Vorgang Gott und Welt.
Auch Immanuel Hermann Fichte (1796-1879) verwendete den Begriff 1856 in seiner "Anthropologie - Die Lehre der menschlichen Seele" und bezeichnete damit eine "gründliche Selbsterkenntniss des Menschen", die "nur in der erschöpfenden Anerkenntnis des Geistes" liege. Wahrhaft gründlich oder ergründend könne sich der "Menschengeist" aber nicht erkennen, ohne eben damit der "Gegenwart oder Bewährung des göttlichen Geistes an ihm inne zu werden".
Der Religionsphilosoph Gideon Spicker (1872-1920), der eine "Religion in philosophischer Form auf naturwissenschaftlicher Grundlage" erstrebte und den Konflikt zwischen Glauben und Wissen, zwischen Religion und Naturwissenschaft als das Grundproblem seines Lebens und Denkens bezeichnete, formulierte das Programm der Anthroposophie ebenfalls im Sinne "höchster Selbsterkenntnis": "Handelt es sich aber in der Wissenschaft um die Erkenntnis der Dinge, in der Philosophie dagegen in letzter Instanz um die Erkenntnis dieser Erkenntnis, so ist das eigentliche Studium des Menschen der Mensch selbst und der Philosophie höchstes Ziel ist Selbsterkenntnis oder Anthroposophie." (Die Philosophie des Grafen von Shaftesbury, 1872). Spickers Ideal umfasste in der Religion die Einheit von Gott und Welt als selbstverantwortete Erkenntnis unter Anwendung von Vernunft und Erfahrung.
Der österreichische Philosoph und Herbartianer Robert Zimmermann (1824-98), Schöpfer der "Philosophischen Propädeutik" wählte die Bezeichnung "Anthroposophie" 1882 als Titel einer Programmschrift, die ein System idealer Weltsicht auf realistischer Grundlage beschreiben wollte (Anthroposophie im Umriß. Entwurf eines Systems idealer Weltsicht auf realistischer Grundlage, 1882). Zimmermann, bei dem Steiner Philosophie Vorlesungen besuchte, wollte in diesem System über die "Schranken und Widersprüche, die der gemeine Erfahrungsstandpunkt in sich trägt" hinausgehen und eine Philosophie des "Menschenwissens" errichten, die als Wissenschaft von der Erfahrung ausgeht, aber, wenn es das logische Denken erfordert, über dieselbe hinausreicht.
1895 übernahm Steiner, stark von Lebensphilosophie, Naturphilosophie, Idealismus und Irrationalismus beeinflusst, den Begriff Anthroposophie von Zimmermann und stützte sich dabei auch stark auf die inhaltliche Ausprägung des Begriffes bei Troxler, Fichte und Spicker. 1916 beschrieb Steiner den Impuls Zimmermanns in folgenden Worten: "Als es sich vor einer Anzahl von Jahren darum handelte, unserer Sache einen Namen zu geben, da verfiel ich auf einen solchen, der mir lieb geworden war, deshalb, weil ein Philosophie-Professor, dessen Vorträge ich in meiner Jugendzeit gehört habe, Robert Zimmermann, sein Hauptwerk 'Anthroposophie' genannt hat." (Gesammelte Aufsätze, GA 35, S. 176)
Anthroposophie bei Rudolf Steiner
Die Anthroposophie Rudolf Steiners versteht sich als eine christliche und humanistische Methode der Bewusstseinsentwicklung. Sie schöpft aus esoterischen und okkulten Quellen und umfasst Elemente des Gnostizismus und des Rosenkreuzertums. Aufgrund dieser Verbindung sehr unterschiedlicher Konzepte wurde die Anthroposophie von Skeptikern schon zu Steiners Lebzeiten als synkretistische Weltanschauung bzw. als eklektischer Mystizismus bezeichnet. Sie beinhaltet einen umfassenden (kosmischen) Evolutionsbegriff sowie ein vielschichtiges Konzept der Wiederverkörperung (Reinkarnation) und des Schicksals (Karma). Anders als in der Theosophie, aus der sie hervorging, spielt in der Anthroposophie das Christentum – in einer individuellen Variante – eine zentrale Rolle.
Unter Anthroposophie lassen sich zum einen die theoretischen Lehren Rudolf Steiners verstehen und zum anderen der von ihm entwickelte „geisteswissenschaftliche“ Schulungsweg, über den es möglich sein soll, die theoretischen Lehren nachzuvollziehen.
Steiner selbst wollte die Anthroposophie immer als "Erkenntnisweg" bzw. eine wissenschaftliche Methode zur Erforschung der "geistigen Welt" verstanden wissen: "Unter Anthroposophie verstehe ich eine wissenschaftliche Erforschung der geistigen Welt, welche die Einseitigkeiten einer blossen Natur-Erkenntnis ebenso wie diejenigen der gewöhnlichen Mystik durchschaut, und die, bevor sie den Versuch macht, in die übersinnliche Welt einzudringen, in der erkennenden Seele erst die im gewöhnlichen Bewusstsein und in der gewöhnlichen Wissenschaft noch nicht tätigen Kräfte entwickelt, welche ein solches Eindringen ermöglichen" (Philosophie und Anthroposophie, GA 35).
Die anthroposophische Bewegung ist soziologisch, weltanschaulich-religiös und politisch sehr heterogen. Die Interpretation von Steiners Werk ist aufgrund der verschiedenen Themengebiete und des großen Umfangs (28 Schriften und ca. 5900 Vorträge) innerhalb der Anthroposophie nicht einheitlich.
Geschichte der Anthroposophie
Steiner übernahm wichtige Anregungen von seinem Wiener Lehrer Robert Zimmermann, der 1895 bereits eine Anthroposophie als System idealer Weltsicht veröffentlicht hatte. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte er daraus in Berlin als freier Publizist in zahlreichen Vorträgen und Aufsätzen die Grundzüge der heutigen Weltanschauung. Nach anfänglich enger Verbindung mit der Theosophie (Steiner war Vorsitzender der Theosophischen Gesellschaft), trennte sich Steiner 1912 von dieser Richtung und gründete in Köln die Anthroposophische Gesellschaft, ohne religiösen Anspruch, aber auch in expliziter Distanzierung von der rational-wissenschaftlichen Aufklärung. Im gleichen Jahr wurde in Dornach bei Basel (Schweiz) das erste Goetheanum erbaut, als Veranstaltungsraum und Zentrum der Gesellschaft. Gleichzeitig begannen vielfältige Aktivitäten im sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Bereich. 1919 gründete etwa Emil Molt, Generaldirektor der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria, in Stuttgart für die Kinder seiner Angestellten die erste Waldorfschule mit anthroposophischer Ausrichtung. 1921 wurde die Pharmafirma Weleda AG gegründet, die anthroposophische und homöopathische Arzneimittel herstellt und vertreibt. 1922 gründet eine Gruppe von Theologen die Christengemeinschaft, eine Bewegung zur Erneuerung des Christentums mit anthroposophischer Ausrichtung.
Gleichzeitig formierten sich Gegner. In der Silvesternacht 1922 brannte das aus Holz errichtete erste Goetheanum bis auf seine Grundmauern nieder, vermutlich von Unbekannten in Brand gesetzt. Daraufhin entwarf Steiner ein zweites, größeres Goetheanum, das erst 1928 fertiggestellt wurde. 1923 reorganisiert sich die Anthroposophische Gesellschaft als Dachorganisation von unabhängigen Landesgesellschaften in zahlreichen europäischen Staaten; Rudolf Steiner wurde Vorsitzender und außerdem Leiter der sog. Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Nach Steiners Tod übernahm Albert Steffen diese Position.
Die Anthroposophie im Nationalsozialismus
Am 1. November 1935 wurde die Anthroposophische Gesellschaft wegen ihrer "Beziehungen zu ausländischen Freimaurern, Juden und Pazifisten" verboten. Schon vorher hatten alle jüdischen Mitglieder ihre Ämter in der Gesellschaft abgegeben, und ein Großteil der jüdischen Mitglieder war ausgetreten. Nach dem Verbot bemühten sich einige Anthroposophen um eine Wiederzulassung. Diese Versuche scheiterten 1939 endgültig, als Rudolf Heß die "Gleichbehandlung mit ehemaligen Freimaurern" anordnete. Die acht Waldorfschulen durften bis 1940 keine Einschulungen mehr vornehmen. Zwei Schulen wurden verboten (1938 Stuttgart und 1941 Dresden), die restlichen mussten aus finanziellen Gründen schliessen. Von den acht anthroposophischen heilpädagogischen Heimen wurden drei massiv bedroht, davon zwei geschlossen. Trotz dieser Repressionsmaßnahmen gab es auch Mitglieder, die sich mit dem System arrangierten oder sogar aktiv in den Gremien der NSDAP mitarbeiteten. Hohe Wertschätzung fand die biologisch-dynamische Landwirtschaft bei einigen NS-Größen, was jedoch auf deren "Ursprünglichkeit", und nicht auf die spirituelle Begründung zurückzuführen ist.
Nachkriegszeit
Nach dem Krieg wurde die Bewegung neugegründet; Schwerpunkte ihrer Tätigkeit blieben die Pädagogik, Medizin und Landwirtschaft (vgl. Demeter-Landwirtschaft). Weltweit sind zahlreiche Waldorfschulen und Waldorfkindergärten, die auf der Pädagogik Rudolf Steiners basieren, in Betrieb (lt. Selbstdarstellung: 877 Schulen in 57 Ländern), dazu entsprechende Studiengänge und Kurse in Waldorf-Pädagogik. Eine Bank mit anthroposophischer Zielsetzung wurde 1960 in Bochum gegründet (GLS-Gemeinschaftsbank). 1969 entstand das Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, eine zum damaligen Zeitpunkt moderne Einrichtung. Auch die Universität Witten-Herdecke, Deutschlands einzige Privatuni, war ursprünglich anthroposophisch geprägt. Zur Zeit sind nach Aussagen der Anthroposophischen Gesellschaft weltweit über 10 000 Einrichtungen in 103 Ländern aktiv.
Anthroposophie als "Erkenntnispraxis"
Steiners Erkenntnisse entstammen nach eigenen Angaben einer ihm seit seiner Kindheit bewussten und methodisch vertieften geistig-übersinnlichen Schau (s. z.B. Akasha-Chronik). In seinem stärker philosophisch geprägten Frühwerk entwickelte Steiner einen erkenntnistheoretischen Monismus, der wesentlich auf einer Auseinandersetzung mit Immanuel Kant ("Kritik der reinen Vernunft") und dem Neokantianismus beruhte und plädiert für einen "ethischen Individualismus", der in Max Stirner und dem Anarchismus eines Benjamin R. Tucker oder John Henry Mackay Verwandtes findet. Als weitere Einflüsse können Goethe, Hegel (Phänomenologie), Fichte (deutscher Idealismus), Nietzsche, und Ernst Haeckel gelten. Deren Lehren werden von Steiner allerdings sehr selektiv bzw. individuell herangezogen und ausgelegt (s. insb. Wahrheit und Wissenschaft und Die Philosophie der Freiheit).
Ab 1902 tritt Steiner explizit christlich und esoterisch auf. Die Frage, inwieweit dieser Umstand einer wesentlichen Wandlung in Steiners Biographie, er selbst spricht von einem "Erweckungserlebnis", zuzuschreiben ist, ist - auch unter Anthroposophen - nicht entschieden. Philosophisch bedeutet diese Wendung jedoch eine Kehre, deren Auswirkung auf das Gesamtwerk bislang nicht - oder nicht abschließend - reflektiert ist. Nach Steiner befindet sich der Mensch (und die gesamte Welt, also auch die geistige) in beständiger Entwicklung (Evolution). Das Ziel des anthroposophischen Schulungsweges sei es, durch Meditation, Selbsterziehung und Beobachtung auf einer lebenslangen 'Suche', höhere Bewusstseinsebenen zu erreichen. Dieser Schulungsweg sei individuell auszugestalten und könne von jedem Menschen beschritten werden.
Der Mensch, der für die Anthroposophie im Zentrum steht, wird - in Anknüpfung an die Theosophie - als eine zusammengesetzte Wesenheit vorgestellt. Der Mensch existiert laut Steiner in vier ineinander greifenden Ebenen, die auch als Wesensglieder bezeichnet werden. Wichtig für die Bezeichnung der einzelnen Glieder: "Mit 'Leib' soll bezeichnet werden, was einem Wesen von irgendeiner Art 'Gestalt', 'Form' gibt. Man solle den Ausdruck 'Leib' nicht mit sinnlicher Körperform verwechseln."(GA9,S.38/39)
- Der physische Leib
Mit dem Begriff "physischer Leib" bezeichnet Steiner den sichtbaren mineralisch-physischen Körper von Mensch, Tier, Pflanze und Stein. Dieser ist den physikalischen Begebenheiten der Erde ausgesetzt, wenn er nicht, wie bei Mensch, Tier und Pflanze noch von anderen "Leibern" durchzogen wird. Laut Steiner würde der alleinige "physische Leib" beim Menschen, den chemichen Gesetzmäßigkeiten gehorchend zerfallen, wie es beim Tode des Menschen durch den Verwesungsprozess gekennzeichnet ist, da mit dem Tod ein Auflösungsprozess des "Leibergefüges" beginnt.
- Der Ätherleib oder Lebensleib
Steiner hat im Laufe seines Lebens die Bezeichnung "Ätherleib" nie als zufriedenstellend empfunden. An verschiedenen Stellen tauchen auch die Bezeichnungen "Lebensleib" und "Bildekräfteleib" auf. "'Äther' bezeichnet hier etwas anderes als den hypothetischen Äther der Physik. Man nehme die Sache einfach als Bezeichnung..." (GA9,S.38) Der Ä. ist laut Steiner als übersinnlicher Teil doch sehr dem Physischen oder Äußerlichen verhaftet. Er soll belebender Teil des physisch-mineralischen Körpers sein. Im Gegensatz zu Letztgenannten, der durch äußere Kräfte seine Gestalt findet, gestalte der Ä. aus dem Inneren des menschlichen Wesens heraus ständig den physischen Leib neu. Beim Menschen sei der Ä. laut Steiner auch Träger von Denkkräften und Gewohnheiten.
- Der Astralleib
Mit dem Astral- oder Empfindungsleib reagiere der Mensch auf die Außenwelt. Er sei das Empfindende im Menschen als Teil seiner Seele, so Steiner in der Schrift Theosophie. Im A. erlebe der Mensch seine Begierden und Leidenschaften.
- Das Ich
Das Ich sei der eigentliche Wesenskern des Menschen, welcher demnach als ewig angesehen werden müsste, wenn man Steiners Ausführungen folgt. "Denn mit seinem 'Ich' ist der Mensch ganz allein. - Und dieses 'Ich' ist der Mensch selbst. Das berechtigt ihn, dieses 'Ich' als seine wahre Wesenheit anzusehen. Er darf deshalb seinen Leib (hier als Körper, anm.) und seine Seele als die 'Hüllen' bezeichnen; innerhalb deren er lebt; und er darf sie als leibliche Bedingungen bezeichnen, durch die er wirkt."(GA9,S.49) Das Ich ist nicht zu verwechseln mit dem "Alltags-Ich", das sich dem Menschen als seine Persönlichkeit darstellt. Das Ich weist über dieses und beheimatet das Geistige des Menschen. "Die Sinneserscheinungen offenbaren sich dem 'Ich' von der einen, der Geist von der anderen Seite. Leib und Seele geben sich dem 'Ich' hin, um ihm zu dienen; das 'Ich' aber gibt sich dem Geiste hin, daß er es erfülle. Das 'Ich' lebt in Leib und Seele; der Geist aber lebt im 'Ich'."(GA9,S.50)
Laut Steiner befinde der Mensch sich auf einem Entwicklungsweg zur "Läuterung" der oben beschriebenen Leiber. Ein Durchdringen der eigenen Leidenschaften, der Gewohnheiten, etc. durch das Ich sei u.a. der momentane Entwicklungsweg. "Das Ich wird immer mehr Herrscher über Leib und Seele."(GA9,S.50)
Daraus ergibt sich eine Gliederung in sieben Teile des irdischen Menschen:
- Der physische Körper
- Der Äther- oder Lebensleib
- Der empfindende Seelenleib
- Die Verstandesseele
- Die geisterfüllte Bewusstseinsseele
- Der Lebensgeist
- Der Geistesmensch
Durch den Tod, bei dem sich die höheren Leiber vom physischen Leib trennen, löse sich zunächst der Ätherleib, später der Astralleib auf und das Ich sinke zuletzt in einen bewusstlosen Zustand um sich mit Hilfe höherer Wesenheiten auf die Reinkarnation in einer veränderten physischen Umgebung vorzubereiten. Dieser Zyklus werde von dem individuellen Schicksal und der konkreten Lebensgestaltung des Menschen bestimmt.
Kritik an Steiners Anthroposophie
Fehlende Wissenschaftlichkeit / Hellseherische Wissensbasis
Aus kritischer Perspektive handelt es sich bei Steiners als synkretistisch verstandener Weltanschauung um eine Pseudowissenschaft bzw. eine Spielart der Esoterik. Deren zentrale Begriffe zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie nicht wissenschaftlich überprüfbar sind (d.h. nicht intersubjektiv, falsifizierbar, empirisch überprüfbar und allgemein zugänglich). Geheimwissenschaft (Okkultismus) ist eine von Steiner selbst verwendete Bezeichnung, mit der er ausdrückt, dass seine Lehre über das bloße "Verstandesdenken" hinausgeht. An H. Blavatskys Secret Doctrine Geheimlehre anknüpfend, stellt die Geheimwissenschaft einen Kern seiner Werke aus der frühen theosophischen Phase (1902-10) dar. Fortgeschrittene Schüler seien zu übersinnlichen Wahrnehmungen imstande. Die sog. "Geheimwissenschaften" errichten Denkgebäude, die nur für "Eingeweihte" nachvollziehbar sind.
Steiner nahm für sich in Anspruch, in der sog. "Akasha-Chronik" (Blavatsky) "lesen" zu können, einer Art kosmischem Gedächtnis, in dem alles Wissen über Vergangenheit und Zukunft gespeichert sein soll. Aus dieser Quelle entnahm Steiner Details aus Atlantis, korrigierte christliche Evangelien, enthüllte Geheimnisse ägyptischer Priester oder traf Prophezeiungen, etwa über das Kommen des Christus im Aetherischen in den Dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die von ihm begründete Anthroposophie fußt somit laut Kritikern auf dem Anspruch, über Zugang zu unumstößlichen Wahrheiten zu verfügen. Diese Wahrheiten, so Steiner, stünden jedoch nicht in einem Widerspruch zur "herkömmlichen" empirischen Wissenschaft und sie seien intersubjektiv überprüfbar. Allein an diesen beiden Proklamationen, so der Philosoph Sven Ove Hansson, ließen sich Steiners Aussagen falsifizieren. Erstens sei es niemandem, der auf Steiners Schulungsweg gegangen ist, bis heute gelungen, wie dieser in der Akasha-Chronik zu lesen und zweitens ließe sich alleine anhand Steiners Aussagen über Quantenphysik und Relativitätstheorie leicht zeigen, dass seine spirituellen Erkenntnisse zu anderen Ergebnissen führten, als die Experimente der modernen Wissenschaft. Diese und ähnliche Überlegungen bewogen Kritiker, der Anthroposophie die selbstproklamierte Wissenschaftlichkeit - Steiner spricht mit Dilthey von Geisteswissenschaft - abzusprechen.
Rassismusvorwurf
In seinem weitausgreifenden Werk (das vielfach auf ungeprüften Mitschriften seiner Vorträge beruht) finden sich auch wiederholt Aussagen über menschliche Rassen, also völkische Ideen, wie sie sich auch bei Oswald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck und Ernst Niekisch finden. Das Vorhandensein menschlicher Rassen in unterschiedlichen Entwicklungsstufen sei eine Tatsache, die sich ihm aus seinen Forschungen ergeben habe. Aus linksprogressiven Kreisen kam daher schon früh der Vorwurf, Steiners Lehre sei "faschistoid" (Ernst Bloch). Tatsächlich finden sich in Steiners Werk vereinzelt entsprechende Passagen, die besonders vor dem Hintergrund der späteren NS-Rassenpolitik problematisch sind. So griff Steiner etwa die "Wurzelrassentheorie" der Theosophie auf und beschäftigte sich, wenn auch überwiegend distanziert kritisch, mit Rassenmystikern wie Guido von List und Lanz von Liebenfels, die er persönlich kannte. Die theosophische Lehre besagt, dass sich die Menschheit in Rassen, von niederen zu immer höheren Stadien entwickelt hat, mit der arischen Rasse als höchster Entwicklungsstufe. Dieses Ideengebäude wurde später auch von der sog. "Ariosophie" aufgegriffen und explizit auf das Germanentum gemünzt. 1997 - im Europaratsjahr gegen den Rassismus - wurde die Verwendung dieser und ähnlicher Vorstellungen seitens der Anthroposophie Rudolf Steiners in den Blick genommen. In den Niederlanden wurde eine Kommission aus der Anthroposophie nahestehenden Wissenschaftlern unter Leitung eines international tätigen Menschenrechtsanwaltes gebildet, die das gesamte, 300 Bände umfassende Oeuvre mit 89 000 Textseiten systematisch auf entsprechende Aussagen hin überpüfte. Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass darin 67 Textstellen aus heutiger Sicht diskriminierend sind, 16 wären sogar in den Niederlanden strafbar. Allein die quantitative Auflistung (< 1 Promille) zeigt, dass die Äußerungen nicht zentral für Steiners Werk gewesen sein können. Die Kommission urteilt: "Das anthroposophische Menschenbild Rudolf Steiners steht auf der Grundlage der Gleichwertigkeit aller menschlichen Individualitäten und nicht auf einer vermeintlichen Überlegenheit der einen Rasse gegenüber einer anderen." Dem Bericht zufolge enthält die Anthroposophie keine Rassenlehre. Damit kann der Rassismusvorwurf als widerlegt gelten. Was bleibt sind jedoch eine Reihe von sehr problematischen Äußerungen in Steiners Werk, die für die Anthroposophie aber nicht konstitutiv sind. Ebenso wies die Kommission den Vorwurf des Antisemitismus zurück. Sie betonte, dass sich Steiner stets gegen Antisemitismus eingesetzt hat, dessen Verbreitung er gleichwohl massiv unterschätzt habe.
Christologie
Die anthroposophische Christologie enthält gnostische Elemente, die neben der Lehre von Reinkarnation und Karma Angriffspunkte der konfessionellen Kritik geworden sind. Zwar betont Steiner die "Wissenschaftlichkeit" der Anthroposophie, die wertfreien Aufschluss über die unterschiedlichen Religionen der Menschheitsgeschichte geben solle: "Den Religionen gegenüber kann sie (die Geisteswissenschaft,anm.) einzig und allein nur die Aufgabe haben, zu einem tieferen Verständnis der religiösen Wahrheiten zu führen...Es wird so vielfach verkannt, daß die Geisteswissenschaft im Grunde auf einem ganz anderen Boden steht als irgendein Religionsbekenntniss" (GA704,S. 196). Auf der anderen Seite spricht Steiner aber selbst auch von "christlicher Wissenschaft", was die Problematik seines Wissenschaftsbegriffs zeigt. "Darin besteht das Christliche (der anthroposophischen Wissenschaft,anm.), daß man den Ausgleich sucht [...] aber ohne abergläubisch, ohne frömmelnd zu sein." (GA723,S.232) Diese religiösen Bestandteile seines Werkes werden oft kritisiert, so z.B. die eklektische Verknüpfung von Christentum und Reinkarnationslehre. So steht für die Anthroposophie die "Erlösung" nicht am Ende eines einzigen, sondern am Ende vieler Leben. Sie stelle sich ein, wenn sich der Mensch durch viele Verkörperungen hindurch zu einem Wesen, das einen eigenen Platz in den himmlischen Hierarchien einnimmt, entwickelt habe. Die anthroposophische Bewegung wird weder von Kirchen noch von der Bundesregierung in den sog. "Sektenberichten" erwähnt, etwa im Zusammenhang mit gesellschaftlich geächteten Vorgehensweisen, z.B. manipulativer Mitgliederwerbung.
Literatur
- Eine Liste der Werke Rudolf Steiners
- Rudolf Steiner Gesamtausgabe
- Steiner, Rudolf: Einführung in die Anthroposophie. Dornach : Rudolf-Steiner-Verlag, 1992. ISBN 3-7274-6560-3
- Steiner, Rudolf: Einführung in die Geisteswissenschaft. München : Archiati, 2004. ISBN 3-937078-25-8
Anthroposophie allgemein
- Becker, Kurt E.: Anthroposophie.Revolution von innen, Fischer Verlag, Frankfurt, 1984
- Ziegler, Renatus: Anthroposophie : Quellentexte zur Wortgeschichte. In: Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Heft Nr. 121, Herbst 1999 (Hrsg.: Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung, Dornach)
- Heisterkamp, Jens: Was ist Anthroposophie? Eine Einladung zur Entdeckung des Menschen. Dornach : Verl. am Goetheanum, 2000. ISBN 3-7235-1089-2
- Baumann-Bay, Lydie und Andreas: Achtung, Anthroposophie! : ein kritischer Insider-Bericht. Zürich : Kreuz, 2000. ISBN 3-268-00255-2
- Badewien, Jan: Die Anthroposophie Rudolf Steiners. München : Evangelischer Presseverband für Bayern, 1994. ISBN 3-583-50662-6
- Barz, Heiner: Anthroposophie im Spiegel von Wissenschaftstheorie und Lebensweltforschung. Zwischen lebendigem Goetheanismus und latenter Militanz. Weinheim : Deutscher Studien-Verlag, 1994. ISBN 3-89271-458-4
- Lutterbeck, Ernst: Anthroposophie verstehen : eine Einführung nach persönlichen Erfahrungen. Paderborn : Möllmann, 1997. ISBN 3-931156-21-4
Spezialthemen
- Binder, Andreas: Wie christlich ist die Anthroposophie? Standortbestimmungen aus der Sicht eines evangelischen Theologen. Stuttgart : Urachhaus Verlag 1989. ISBN 3-87838-611-7 (2. Aufl.)
- Kriele, Martin: Anthroposophie und Kirche. Erfahrungen eines Grenzgängers. Freiburg im Breisgau; Basel; Wien : Herder, 1996. ISBN 3-451-23967-1
- Okruch, Stefan: Wirtschaft und Anthroposophie - Darstellung und Kritik des Konzepts Rudolf Steiners. Bayreuth : Verlag PCO, 1993. ISBN 3-925710-50-7
- Werner, Uwe: Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus : 1933 - 1945. München : Oldenbourg, 1999. ISBN 3-486-56362-9
- Ravagli, Lorenzo: Unter Hammer und Hakenkreuz : der völkisch-nationalsozialistische Kampf gegen die Anthroposophie. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben, 2004. ISBN 3-7725-1915-6
- Bierl, Peter: Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister : die Anthroposophie Rudolf Steiners und die Waldorfpädagogik. Hamburg : Konkret-Literatur-Verlag, 1999. ISBN 3-89458-171-9
Weblinks
- Umfassendes Informationsportal Anthroposophie
- Die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft
- Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe mit Volltextsuche
- Anthroposophie bei Relinfo.ch (Evangelische Informationsstelle)
- Kommission zur Klärung der Rassismusvorwürfe
Linkkatalog zum Thema Anthroposophie bei odp.org (ehemals DMOZ)
Anthroposophie in der Diskussion
Affirmativ
- Erläuterung der Anthoroposophie und Stellungnahme zu Vorwürfen
- Was Anthroposophie nicht ist (Antwort auf Hansson: "Ist die Anthroposophie eine Wissenschaft?")
- Kurzzusammenfassung des 720 Seiten umfassenden Abschlussberichtes der Kommission Anthroposophie und die Frage der Rassen