Als Essstörungen bezeichnet man medizinisch relevante längerfristige Verhaltensaufälligkeiten (Psychosomatik), die die Nahrungsaufnahme bzw. deren Verweigerung betreffen.
Formen
Die beiden bekanntesten und klinisch häufigsten Essstörungen sind die Magersucht (Anorexia nervosa) und die Ess-Brech-Sucht (Bulimie). Auch die Esssucht (Binge Eating) ist als Essstörung anzusehen; Binge Eating ist häufig, aber nicht immer mit Adipositas verbunden. Bei allen chronisch gewordenen Essstörungen sind lebensgefährliche körperliche Schäden möglich.
Essstörung muss nicht unbedingt bedeuten, dass sich der/die Betroffene hinsichtlich der Nährstoffe ungesund ernährt. Die Störung liegt in der unüblichen Beziehung zum Essen.
Gemeinsame Merkmale essgestörter Menschen sind nach Hilde Bruch (1973) die Störung des Körperbildes, Wahrnehmungsstörungen nach innen und aussen sowie im Gefühlsbereich und ein tiefes Gefühl eigener Unzulänglichkeit.
Magersucht
Magersucht (Anorexia nervosa) ist durch einen absichtlich selbst herbeigeführten Gewichtsverlust gekennzeichnet. Durch Hungern und "Kalorienzählen" wird versucht, dem Körper möglichst wenig Energie zuzuführen, durch körperliche Aktivitäten soll der Energieverbrauch gesteigert werden.
Die Folgen der Magersucht sind Unterernährung, Muskelschwund und Auszehrung des Körpers. Im Extremfall kann es zum Hungertod kommen.
In Deutschland sind ca. 100000 Leute betroffen.
Ess-Brech-Sucht
Bei der Ess-Brech-Sucht (Bulimie, Bulimia nervosa) sind die Betroffenen meist normalgewichtig, haben aber große Angst vor der Gewichtszunahme, dem "Dickwerden"; man kann das als "Gewichtsphobie" bezeichnen. Sie ergreifen deshalb ungesunde Gegenmaßnahmen wie Erbrechen, exzessiven Sport, Abführmittelgebrauch. Gerade dadurch kommt der Körper in einen Mangelzustand, und es kommt zu so genannten Ess-Attacken, wobei große Mengen Nahrung auf einmal verzehrt werden. Die Ess-Attacken werden als permanente Niederlage erlebt, der oder die Betroffene zieht keinen "Gewinn" aus ihrer Krankheit.
Die Ess-Brech-Sucht kann zu Störungen des Elektrolyt-Stoffwechsels, zu Entzündungen der Speiseröhre und zu Zahnschäden führen.
In Deutschland sind ca. 600000 Leute betroffen.
Esssucht, Binge Eating
Eine dritte Art von Essstörungen sind der ständige Heißhunger ("Gieper") auf Nahrung sowie suchtartige Heißhungerattacken, das Binge Eating. Binge Eating ist häufig, aber nicht immer mit Adipositas ("Fettsucht", Fettleibigkeit) verbunden. ("Fettsucht" als solche ist, obwohl der Begriff das suggeriert, keine Sucht; vielmehr ist dieses Wort analog zu solchen Begriffen wie "Fallsucht", "Nesselsucht", "Gelbsucht" und "Schwindsucht" gebildet). Die Betroffenen haben Schwierigkeiten, zwischen Hunger und Appetit zu unterscheiden und ihren Körper richtig wahrzunehmen.
Sowohl die Esssucht als auch das Binge Eating können Übergewicht, Zivilisationskrankheiten (zum Beispiel Herzinfarkt, Arteriosklerose, Diabetes mellitus, Arthritis und Arthrose, Gelenkschmerzen und Rheuma, Zahnkaries und Parodontose) zur Folge haben. Die Fettleibigkeit schlägt aufs Gemüt, dicke Menschen werden häufig diskriminiert und abgelehnt.
Orthorexie
Erstmal 1997 von Steven Bratman beschriebene Essstörung. Eine immer größere Verbreitung in der Bevölkerung zeigt sich bei der Orthorexie (krankhaftes Gesundessen) oder in Fachsprache Orthorexia nervosa (vom griechischen "orthos" = richtig und "orexis" = Appetit). Bei dieser Essstörung verbringen manche Betroffenen mehrere Stunden täglich damit, Vitamingehalt und Nährwerte zu berechnen und Lebensmittel auszuwählen. Die Auswahl der "erlaubten" Lebensmittel wird immer geringer. Der Genuss am Essen verringert sich immer mehr, weil die Gedanken nur noch um das Essen, Kalorienzählen, Vitamine, Mineralstoffe und um die Gesundheit kreisen.
Die Betroffenen sind meist junge Frauen, die große Angst vor ungesunden Lebensmitteln, wie Süßigkeiten, Fast Food, Fertigprodukten, Backwaren, gekochtes Essen etc. haben. Meist leben die Betroffenen komplett vegan, auf Getreide, Milchprodukte, Kaffee und Alkohol wird ebenso verzichtet. Oftmals besteht auch eine Abneigung gegen Supermärkte und die (meist Rohkost)-Nahrung wird nur im Bioladen oder bei Spezialversendern gekauft.
Negative Folgen sind oft ein zu niedriges Körpergewicht und soziale Isolation, weil neben Selbstgerechtigkeit und vermeintlicher moralischer Überlegenheit auch Gesellschaften gemieden werden, da dort nicht mitgegessen werden kann. Gesunde Menschen werden häufig als "Schlechtkostesser" bezeichnet. Verstoßen Betroffene gegen die selbstauferlegten Regeln und essen z.B. anderen zuliebe "schlechte Kost", so haben sie anschließend ein schlechtes Gewissen, das sie z.T. mit Erbrechen oder Fasten ausgleichen. Häufig organisieren sich Orthorektiker in quasireligiösen Sekten wie der sog. Urkost oder der Instinctosekte.
Da die Ergebnisse verschiedener wissenschaftlicher Untersuchungen deutlich darauf hinweisen, dass in Bezug auf die Gefahr von Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht nur die verzehrten Lebensmittel, sondern auch die Einstellung zum Essen eine Rolle spielt, kann sich aus der Orthorexie ebenfalls ein erhöhtes Risiko ergeben. Weiterhin behaupten die Rohkostsekten, die einen Sammelpool für Orthorektiker darstellen, dass die Zeichen der Mangelernährung in Wirklichkeit "Zeichen der Entgiftung" seien. Orthorektikern wird so suggeriert, die Bauchkrämpfe, Kopfschmerzen, Durchfälle, Blähungen und der Haarausfall seien Folgen der vorhergegangenen "Schlechtkosternährung" die jetzt "entgiftet" werde. Bei vielen Orthorektikerinnen kommt es durch die extreme Mangelernährung zu einer sekundären Amenorrhoe, weshalb die Menstruation von Orthorektikerinnen zur Krankheit erklärt wird, die bei "richtiger Ernährung" eben nicht auftrete. Außerdem ergibt sich ein stark erhöhtes soziales Risiko, da Orthorektiker ihr Umfeld, sowohl privat als teilweise auch beruflich, für ihre wahnhaft geprägte Ernährungsform zu missionieren beginnen. Dies führt bei stark ausgeprägter Orthorexie zu Vereinsamung und zum Verlust fast sämtlicher freundschaftlicher Bindungen sowie zur Zerstörung der Familie, da die gesunden Kinder und Lebenspartner missioniert und gegängelt werden. Zusätzlich erschwert wird die Situation durch die Orthorexie-immanente einstellung, anderen moralisch, ethisch und gesundheitlich überlegen zu sein, zusammen mit der stets fehlenden Krankheitseinsicht.
Pica-Syndrom
Das Pica-Syndrom (auch: Picazismus) beschreibt ein seltenes, wenig bekanntes Krankheitsbild, bei der Menschen ungewöhnliche und ausgefallene Dinge essen, wie zum Beispiel farbige Papierschnipsel, Gartenerde, Ton oder Kreide. Darunter fallen auch Dinge, die bei anderen Menschen Ekel hervorrufen können, wie beispielsweise Exkremente. Diese Essstörung kommt häufiger bei Menschen mit geistiger Behinderung oder Demenz vor. Bei kleinen Kindern ist zunächst mal von einem bloßen Ausprobierverhalten auszugehen, bei dem buchstäblich alles in den Mund genommen wird. Erst dann wenn es häufig und offenbar absichtsvoll gewollt zu unterschiedslosem Aufessverhalten kommt, besteht möglicherweise Anlass, ein Pica-Syndrom anzunehmen.
Das Vorliegen eines Pica-Syndrom ist nicht harmlos, denn es kann u.a. zu Vergiftungen, Unterernährung oder Obstipation führen.
Medizinische Einordnung und Forschung
Die medizinische Diagnostik der Störungen richtet sich im deutschsprachigen Raum nach den "diagnostischen Leitlinien" der ICD-10. Im Kapitel V bilden sie eine eigenständige Untergruppe "Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen und Faktoren".
Die Behandlungsanzahl anorektischer und bulimischer Störungen ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Bedeutung des Körpergewichtes und der körperlichen Selbstdarstellung in den Medien und sekundär in den Gesprächsthemen der Gesellschaft immer weiter zugenommen hat. Zugleich mit den empirischen Fallzahlen ist das Bewusstsein über das zugrundeliegende Krankheitsbild zunehmend ins öffentliche Blickfeld gekommen. Ob tatsächlich ein Anstieg der Erkrankungshäufigkeit vorliegt, ist in der Forschung (Habermas1994; Fichter 2000) umstritten.
Die wichtigste Wegbereiterin psychotherapeutischer Forschung zum Sachgebiet Essstörungen ist die deutschstämmige US-amerikanische Therapeutin Hilde Bruch gewesen mit ihrem in vielen Auflagen erschienenen Buch "Eating disorders : obesity, anorexia nervosa, and the person within", das erstmals 1973 puliziert wurde.
Seit 1999 gibt es in Deutschland sogar eine eigenständige medizinische Fachgesellschaft, die Gesellschaft für Ernährungsmedizin und Diätetik, deren Mitglieder vornehmlich aus Medizinern, Internisten, Apothekern, Ernährungswissenschaftlern und Diätassistenten bestehen.
Essstörungen in Kulturgeschichte, Literatur und Medien
Dass das Phänomen Essstörungen in der Kulturgeschichte keineswegs neu ist, sondern unter anderen Namen als populäre Geschichten in der Erzählkultur eine große Rolle spielte, wird durch neuere Forschungen und Veröffentlichungen belegt (siehe Literaturliste). Man erinnere sich z.B. an das Märchen "Der süße Brei" oder die Mär vom Schlaraffenland.
In der deutschsprachigen Literatur denkt man sicherlich sogleich an Franz Kafkas "Hungerkünstler" von Anfang des 20. Jahrhunderts. Weiter zurück verweisen die Balladen-Lyrik eines François Villon, dessen bekannte Zeile aus der Nachdichtung von Paul Zech "Vor vollen Tischen muss ich Hungers sterben..." allerdings eher auf unfreiwillige Folgen sozialer Ungleichheit zurückgeht, aber durchaus Jagger/Richards "I can't get no satisfaction" evoziert. Eine sehr genaue Schilderung familiärer Bulimie-Wahrnehmungen enthält der Erzählband "Lange Tage" von Maike Wetzel. Ulrike Draesner hat 2002 einen umfangreichen Roman ("Mitgift") zum gleichen Thema vorgelegt. Ein ganzes autobiographisches Buch, wie jemand ihre lebensbedrohlich ausgeuferte Bulimie tatsächlich überwinden konnte, lieferte 2003 die weltweit bekannte klassische Violonistin Midori Goto, 2004 in deutscher Übersetzung erschienen.
Literatur
- Corinna Jacobi ; Thomas Paul ; Andreas Thiel: "Essstörungen". Hogrefe, Göttingen 2004. 113 S. ISBN 3-8017-1157-9
- Katrin Raabe: "Mädchenspezifische Prävention von Essstörungen : Handlungsansätze für die Praxis". Baltmannsweiler : Schneider-Verl. Hohengehren, 2004. 140 S. ISBN 3-89676-950-2
- Simone Munsch: " Binge Eating : kognitive Verhaltenstherapie bei Essanfällen". 1. Aufl. Weinheim Beltz, PVU, 2003. 244 S. ISBN 3-621-27531-2
- Ulrich Schweiger ; Achim Peters ; Valerija Sipos: " Essstörungen ; mit 25 Tabellen". Thieme, Stuttgart 2003. 202 S. ISBN 3-13-128221-5
- Anja Hilbert: "Körperbild bei Frauen mit "Binge-Eating"-Störung". Marburg, Univ., FB Psychologie, Dissertation 2000
- Walter Vandereycken; Ron van Deth; Rolf Meermann: "Wundermädchen, Hungerkünstler, Magersucht : eine Kulturgeschichte der Ess-Störungen". Beltz, Weinheim 2003. 353 S. Tb-Ausgabe ISBN 3-407-22147-9
- Peggy Claude-Pierre: "Der Weg zurück ins Leben. Magersucht und Bulimie verstehen und heilen". Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt 1998. 327 S. ISBN 3-8105-0355-X
- Jules R. Bemporad: "Cultural and Historical Aspects of Eating Disorders", Veröffentlicht in Theoretical Medicine and Bioethics, Volume 18 - 4, 1997
- Hilde Bruch: "Eating disorders : obesity, anorexia nervosa, and the person within". Basic Books, New York 1973.
siehe auch: Portal Psychotherapie, Portal Medizin
Weblinks
- Gesellschaft für Ernährungsmedizin und Diätetik
- http://www.psychiatriegespraech.de/sb/essstoerungen/es_ueberblick.htm Informationen zu Symptomatologie, Diagnostik, Therapie und Verlauf von Essstörungen
- Binge-Eating-Disorder: in Deutschland die häufigste Essstörung
- Hilfe und Beratung bei Essstörungen
- Prävention von Essstörungen
- Hungrig-Online: Kommunikation und Hilfe bei Essstörungen
- Ärztewoche über Orthorexie