Zum Inhalt springen

Syllabus errorum

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 24. September 2022 um 23:38 Uhr durch CRolker (Diskussion | Beiträge) (Formatierung). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Der Syllabus errorum (griechisch-lateinisch „Verzeichnis der Irrtümer“) ist eine Liste von 80 Thesen, die von Papst Pius IX. als falsch verurteilt wurden. Der Syllabus errorum wurde aus älteren Schreiben des Papstes zusammengestellt und als Anhang zur Enzyklika Quanta Cura vom 8. Dezember 1864 veröffentlicht. Er ist ein wichtiges Dokument für die kirchliche Ablehnung der Religionsfreiheit, der Trennung von Kirche und Staat, der Demokratie, der Wissenschaftsfreiheit und anderer, meist als Folgen der Aufklärung gesehenen Ideen.

Gliederung

Der Syllabus ist in zehn Paragraphen aufgeteilt (in Klammern jeweils die Nummern der dazugehörigen Thesen):

  • § 1: Pantheismus, Naturalismus und absoluter Rationalismus (1–7)
  • § 2: Gemäßigter Rationalismus (8–14)
  • § 3: Indifferentismus, Latitudinarismus (15–18)
  • § 4: Sozialismus, Kommunismus, geheime Gesellschaften, Bibelgesellschaften, liberale Kleriker-Vereine (keine Thesen, stattdessen Verweise auf: Enzyklika Qui pluribus (9. November 1846), apostolische Ansprache Quibus Quantisque (20. April 1849), Enzyklika Nostis et nobiscum (8. Dezember 1849), apostolische Ansprache Singulari quadam (9. Dezember 1854), Enzyklika Quanto conficiamur moerore (10. August 1863))
  • § 5: Irrtümer über die Kirche und ihre Rechte (19–38)
  • § 6: Irrtümer über die bürgerliche Gesellschaft sowohl an sich, als auch in ihren Beziehungen zur Kirche (39–55)
  • § 7: Irrtümer über das natürliche und christliche Sittengesetz (56–64)
  • § 8: Irrtümer über die christliche Ehe (65–74 und Verweis auf die Enzyklika Qui pluribus)
  • § 9: Irrtümer über die staatliche Herrschaft des römischen Papstes (75–76 und Verweise)
  • § 10: Irrtümer, welche sich auf den Liberalismus unserer Tage beziehen (77–80)

Inhalt (Übersicht)

Die Thesen haben sehr unterschiedlichen Gehalt. Nur ein Teil der Thesen sind im engeren Sinne Thesen, wie sie 1864 innerhalb philosophische oder theologischer Debatten vertreten wurden. Eine Reihe von Thesen betreffen politische Maßnahmen, die zur Zeit Pius IX. stattfanden oder gefordert wurden, so die Religionsfreiheit, die Trennung von Kirche und Staat, die Zivilehe (und der Möglichkeit der Scheidung von standesamtlich geschlossenen Ehen), das staatliche Schulwesen, die Einmischung des Staates in Besetzung von Bistümern und Abschaffung des Kirchenstaates. Andere Thesen sind eher auf Ideen bezogen, die im weiteren Sinne der Aufklärung bzw. (wie in der Schlussthese formuliert) dem „Fortschritt, dem Liberalismus und der modernen Civilisation“ zugerechnet werden.[1]

Historischer Kontext

Der Syllabus errorum ist ein Exzerpt aus vorangegangenen Enzykliken, Ansprachen, Briefen und apostolischen Schreiben von Pius IX. Er muss in Zusammenhang mit innerkirchlichen Streitigkeiten um den sogenannten Liberalen Katholizismus, aber auch mit den Auseinandersetzungen zwischen der katholischen Kirche und den liberalen Verfassungsstaaten (Kulturkampf) gesehen werden, die sich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts abzeichneten. Nach einer sehr langen Vorbereitungszeit von etwa 15 Jahren wurde der Syllabus anlässlich einer Zuspitzung der innenpolitischen Lage in Italien veröffentlicht. Denn durch die nationale Einigung Italiens, das Risorgimento, ging der Kirchenstaat des Papstes nach und nach verloren. Wie die Forschungen von Giacomo Martina gezeigt haben, gehörten zu den konkreten Auslösern auch die liberalkatholischen Forderungen von Charles de Montalembert und Ignaz von Döllinger.[2]

Die polarisierende Wirkung der päpstlichen Defensivstrategie führte in Frankreich und vielen anderen Ländern zu Konflikten. Daraufhin billigte der Papst ausdrücklich die abmildernde Interpretation, die der Bischof von Orléans Félix Dupanloup dem Syllabus gab. Dupanloup unterschied zwischen der These und der Hypothese[3]: Die Verurteilungen des Syllabus formulieren jeweils nur das generelle Prinzip (die These). Dies schließt aber nicht aus, dass die Katholiken auch konkrete Kompromisse in der jeweiligen besonderen Situation eingehen können (die Hypothese). So werden sie nach dieser Deutung beispielsweise dort, wo sie selbst in der kleinen Minderheit sind, nicht die Privilegierung des Katholizismus als Staatsreligion verlangen, sondern sich mit bloßer Tolerierung zufriedengeben. Wo sie eine größere Gruppe neben anderen Konfessionen und Religionen bilden, werden sie nur die Parität der Rechte fordern. Das Ideal des Katholizismus als einziger öffentlich und frei ausübbarer Religion (die These im Sinne von Satz 77 des Syllabus) wird so auf katholische Staaten begrenzt. Die Unterscheidung von These und Hypothese wurde für die katholische Staatslehre bis hin zum Zweiten Vaticanum grundlegend.[4]

Beispiele von im Syllabus errorum verurteilten Thesen

„3. Die menschliche Vernunft ist ohne irgend welche Rücksicht auf Gott der einzige Schiedsrichter zwischen Wahr und Falsch, Gut und Böse: sie ist sich selbst Gesetz und reicht hin, durch ihre natürlichen Kräfte das Wohl des Menschen und der Völker zu begründen.“ [5]

„14. Die Philolosophie muss ohne Rücksicht auf die übernatürliche Offenbarung betrieben werden.“ [6]

„15. Es steht jedem Menschen frei, jene Religion anzunehmen und zu bekennen, welche er, durch das Licht seiner Vernunft geführt, für wahr hält.“[7]

„16. Die Menschen können bei der Uebung jeder Religion den Weg des ewigen Heils finden und die ewige Seligekeit erlangen.“[8]

„18. Der Protestantismus ist nichts anderes, als eine verschiedene Form derselben christlichen Religion, in welcher es eben so gut möglich ist, Gott zu gefallen, wie in der katholischen Kirche.“[9]

„24. Die Kirche hat nicht die Macht, Gewaltmittel anzuwenden, noch irgend eine directe oder indirecte zeitliche Gewalt.“[10]

„26. Die Kirche hat kein angeborenes und legitimes Recht auf Erwerb und Besitz.“[11]

„45. Die ganze Leitung der öffentlichen Schulen, in denen die Jugend eines christlichen Staates erzogen wird, nur die bischöflichen Seminarien in einiger Beziehung ausgenommen, kann und muß der Staatsgewalt zugewiesen werden, und zwar so, daß keines andern Autorität irgend ein Recht, sich in die Schulzucht, in die Anordnung der Studien, in die Verleihung der Grade und die Wahl oder Approbation der Lehrer zu mischen, zuerkannt werden kann.“ [12]

„55. Die Kirche ist vom Staate, der Staat von der Kirche zu trennen.“ [13]

„66. Das Sacrament der Ehe ist etwas bloß zu dem Vertrage Hinzukommendes und von ihm Trennbares, und das Sacrament selbst liegt einzig und allein in der ehelichen Einsegnung.

67. Nach dem Naturrecht ist das Eheband nicht unauflöslich und in verschiedenen Fällen kann die Ehescheidung im eigentlichen Sinne durch die weltlichen Behörden festgesetzt werden.“ [14]

„76. Die Abschaffung der weltlichen Herrschaft, die der apostolische Stuhl besitzt, würde zur Freiheit und zum Glücke der Kirche sehr viel beitragen.“ [15]

„77. In unserer Zeit ist es nicht mehr nützlich, daß die katholische Religion unter Ausschluß aller andern Culte als einzige Staatsreligion gelte.

78. Es ist daher zu loben, daß in gewissen katholischen Ländern gesetzlich verordnet ist, daß den Einwanderern die öffentliche Ausübung ihres Cultes, welcher er auch sei, gestattet sein solle.“ [16]

„80. Der Römische Papst kann und muß sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der modernen Civilisation versöhnen und vergleichen.“ [17]

Interpretation und Bedeutung

Der Syllabus errorum ist Gegenstand kontroverser Diskussionen, auch der heutige Richtungsstreit in der katholischen Kirche greift gelegentlich auf ihn zurück. Pius’ Nachfolger Leo XIII. schwächte in der Praxis einige Aussagen des Syllabus ab, etwa im Verhältnis zur Dritten Französischen Republik.[18] Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurden einige der Kernaussagen des Syllabus de facto verworfen, vor allem mit der Erklärung Dignitatis humanae über das Menschenrecht auf Religionsfreiheit aus dem Jahr 1965. Die traditionalistische Pius-Bruderschaft lehnt diese Entwicklung der Lehre ab und erkennt im Sinne des Integralismus insbesondere in den Sätzen 15–18 und 77–80 des Syllabus einen Grundriss antimoderner katholischer Weltanschauung. Diese Verurteilungen werden von den Traditionalisten als unabänderlicher Bestandteil katholischer Tradition aufgefasst.[19]

Durch die Verwerfung beispielsweise des Satzes 39 oder auch des Satzes 60, die sich damals gegen Eingriffe der Nationalstaaten in das kirchliche Selbstbestimmungsrecht richtete, stand seit seinem Auftreten nach dem Ersten Weltkrieg auch der politische Totalitarismus außerhalb der Grenzen der katholischen Lehre. Später wurden daher der Kommunismus, der Nationalsozialismus, der italienische Faschismus und die Action française verurteilt. Aus heutiger Sicht gilt die Abgrenzung gegen den Totalitarismus als bleibender Wert. Von dieser Abgrenzung nicht betroffen war der autoritäre Korporatismus sowie die diktatorische Staatsform an sich (Ständestaat in Österreich, Franquismus in Spanien, Estado Novo in Portugal usw.), der die katholische Kirche erst seit dem Zweiten Weltkrieg (Weihnachtsansprache des Papstes Pius XII.), der Enzyklika Pacem in terris von 1963 und der Konzilskonstitution Gaudium et spes von 1965 ablehnend gegenübersteht.

Hinsichtlich der Interpretation ist zu beachten, dass kirchliche Lehrverurteilungen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorzugsweise das Schema der Verwerfung bestimmter Sätze befolgten. Diese juristische Methode provoziert jedoch Missverständnisse, wenn die an Fachtheologen adressierten Urteile von breiteren Kreisen interpretiert werden. Denn diese kontradiktorischen Urteile enthalten nach dem Selbstverständnis der Kirche keine Aussage über die Richtigkeit des Gegenteils. Die „konträren“ Sätze werden also nicht „positiv“ gelehrt. Beispielsweise untersagt Satz 80 nicht den Dialog mit der modernen Welt und verbietet nicht jedwede Anpassung an jeden erdenklichen Fortschritt. Satz 80 formulierte eine Abwehr gegen Fortschritt und Liberalismus der Jahre um 1864. Das Papsttum war nicht bereit, sich dem Vorrang der Politik zu unterwerfen. Das ist der bleibende Inhalt des päpstlichen Selbstverständnisses, das sich im 19. Jahrhundert unversöhnlich äußerte, sich ab der Enzyklika Rerum Novarum von 1891 aber der Not der Zeit zuwandte.

Insgesamt wehrte sich Papst Pius IX., damals noch Monarch im Kirchenstaat, gegen Eingriffe des modernen Staates in einen Bereich, der aus seiner Sicht ausschließlich kirchlicher Autorität untersteht.

Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil akzeptiert die Kirche, dass ein staatliches Gemeinwesen z. B. auf den Sätzen 15, 77, 78 aufbaut, während die Glaubensüberzeugung des Katholizismus die allgemeingültige Wahrheit des Satzes 16 weiterhin zurückweist. Die Sätze 77–80 setzten das Konzept des katholischen Staates voraus. Ist dieses nicht mehr tragfähig, so fordern sie nicht dessen Wiedereinrichtung. Denn insgesamt widmete sich der Syllabus den Zeitirrtümern der damaligen Zeit, insbesondere ihren Auswirkungen auf das Verhältnis von Staat und Kirche. Er verwirft aber keine „ewigen Irrtümer“. Aus heutiger Sicht kann dem Syllabus kein Grundriss des katholischen Weltbildes insgesamt entnommen werden, vielmehr markiert diese Äußerung zum Verhältnis von Kirche und Staat, Religion und Gesellschaft den Anfangspunkt, der zur Ausarbeitung einer katholischen Soziallehre geführt hat.

Offiziöse Übersetzung von 1865

  • Die Encyclica seiner Heiligkeit des Papstes Pius IX. vom 8. Dezember 1864, der Syllabus (die Zusammenstellung der 80 hauptsächlichsten Irrthümer unserer Zeit) und die wichtigsten darin angeführten Aktenstücke. Bachem, Köln 1865. (archive.org)

Literatur

Einzelnachweise

  1. Übersetzung von 1865, S. 48
  2. Giacomo Martina: Verso il sillabo. Il parere del barnabita Bilio sul discorso di Montalembert a Malines nell’Agosto 1863. In: Archivum Historiae Pontificiae 36 (1998), S. 137–181
  3. Giacomo Martina: Pio IX: 1851-1866. Rom 1986, S. 352–356.
  4. Rudolf Uertz: Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789-1965). Schöningh, Paderborn 2005, S. 110–118.
  5. Die Encyclica seiner Heiligkeit des Papstes Pius IX. vom 8. Dezember 1864, der Syllabus (die Zusammenstellung der 80 hauptsächlichsten Irrthümer unserer Zeit) und die wichtigsten darin angeführten Aktenstücke. Bachem, Köln 1865, S. 24
  6. Übersetzung von 1865, S. 28
  7. Übersetzung von 1865, S. 24
  8. Übersetzung von 1865, S. 28
  9. Übersetzung von 1865, S. 29
  10. Übersetzung von 1865, S. 31
  11. Übersetzung von 1865, S. 33
  12. Übersetzung von 1865, S. 36-37
  13. Übersetzung von 1865, S. 40
  14. Übersetzung von 1865, S. 43
  15. Übersetzung von 1865, S. 76
  16. Übersetzung von 1865, S. 47
  17. Übersetzung von 1865, S. 48
  18. Owen Chadwick: A History of the Popes, 1830–1914. Oxford University Press, Oxford 1973, S. 293–296.
  19. Christian Dahlke: Die Pius-Bruderschaft und das Zweite Vatikanische Konzil. universaar, Saarbrücken 2012.