Programm 863
Das Nationale Programm zur Entwicklung von Hochtechnologie (chinesisch 國家高技術研究發展計劃 / 国家高技术研究发展计划, Pinyin Guójiā Gāojìshù Yánjiū Fāzhăn Jìhuà) ist ein im März 1986 aufgelegtes, daher meist „863计划“ bzw. „Programm 863“ genanntes Förderprogramm für Hochtechnologie. Die vom Finanzministerium der Volksrepublik China bereitgestellten Gelder werden nach Prüfung durch Expertenkommissionen im Falle von zivilen Projekten vom Ministerium für Wissenschaft und Technologie vergeben, bei militärischen Projekten, wozu auch die Kernenergie und die Raumfahrt der Volksrepublik China zählen, von der Nationalen Behörde für Wissenschaft, Technik und Industrie in der Landesverteidigung beim Ministerium für Industrie und Informationstechnik.
Geschichte
Am 23. März 1983 kündigte US-Präsident Ronald Reagan eine Strategic Defense Initiative an, die unter anderem vorsah, mit weltraum- oder erdbasierten Lasern anfliegende Interkontinentalraketen abzuschießen. Dies erregte das Interesse des chinesischen Laser-Pioniers Wang Daheng (王大珩, 1915–2011), Gründer und Leiter des Changchuner Instituts für optische und feinmechanische Instrumente (长春光学精密机械仪器研究所) der Chinesischen Akademie der Wissenschaften, nicht nur aus beruflichen Gründen, sondern weil die USA zu jenem Zeitpunkt noch gar nicht über die Technologie für ein derartiges System verfügten. Es war noch nicht einmal klar, welche Arten von Lasern verwendet werden sollten, von der Ortung der Raketen und der Nachführung der Laser ganz zu schweigen. Reagans Initiative war zunächst ein gigantisches Förderprogramm für technische Grundlagenforschung. Woanders sah man das ebenso. Um den USA gegenüber nicht ins Hintertreffen zu geraten, wurde in Westeuropa am 17. Juli 1985 die Europäische Forschungskoordinierungsagentur EUREKA gegründet, und im Dezember 1985 beim Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe das „Komplexprogramm zur Förderung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts der Mitgliedsstaaten des RGW bis zum Jahr 2000“ verabschiedet.[1]
Unter dem Eindruck dieser Ereignisse berief die Kommission für Wissenschaft, Technik und Industrie für Landesverteidigung ein Symposium ein, auf dem Experten verschiedener Fachgebiete die militärische Bedeutung der Strategischen Verteidigungsinitiative und ihre Auswirkung auf die Weltlage analysierten, dazu noch die technischen Fragen die es bei der Initiative gab und inwieweit Reagans Projekt überhaupt realistisch war. Die Experten kamen zu dem Schluss, dass China angesichts seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten nicht dazu in der Lage war, bei der militärischen Technologie oder beim Umfang der Rüstung mit den USA und der Sowjetunion zu konkurrieren. Nichtsdestotrotz besaß China Atomwaffen, Raketen und Satelliten. Unter Abschreckungsgesichtspunkten war das Wichtige nicht die Anzahl der Sprengköpfe, sondern die Tatsache, dass China überhaupt über diese Dinge verfügte. Der Konsensus, der sich auf dem Symposium herausbildete, war, dass man sich auf einige wenige Gebiete beschränken sollte, bei denen man technologiemäßig mit den Großmächten aufholen konnte. So könnte man mit zwei oder drei Prozent des Geldes, das die USA aufwendeten, die Stellung Chinas in der Welt bewahren und das Gleichgewicht der beiden Supermächte beeinflussen.[2]
Neben geostrategischen Erwägungen trieb die Experten aber auch die Sorge um das chinesische Humankapital um. Bei den großen Rüstungsprojekten der vergangenen Jahre, von den Atom-U-Booten bis zur Raumfahrt, hatte sich eine Truppe von erfahrenen Wissenschaftlern und Technikern herausgebildet, die eine kostbare Ressource des Landes darstellten. Wenn diese Männer und Frauen mangels Beschäftigung ins Ausland gingen und sich in alle Winde zerstreuten, würde das einen schwerwiegenden Verlust bedeuten, ganz abgesehen von der Rolle, die sie bei der Ausbildung der nächsten Generation von Fachleuten spielten, also bei der Sicherstellung des weiteren Fortschritts im kommenden Jahrhundert. Was die Kosten betraf, so würde, wie es der stellvertretende Leiter des Optoelektronischen Instituts Chengdu ausdrückte, ein „SDI chinesischer Prägung“ jeden Bürger den Gegenwert von einem oder zwei Hühnereiern kosten.[3]
An genau diesen zwei Hühnereiern mangelte es. Daraufhin brachte Chen Fangyun, der Vater der chinesischen TT&C-Systeme, die Möglichkeit einer Petition an die oberste Führung des Landes ins Gespräch und bat Wang Daheng, eine solche aufzusetzen. Der stimmte im Prinzip zu bat aber seinerseits Pan Houren (潘厚任) von der Abteilung für Technische Wissenschaften der Akademie (中国科学院技术科学部),[4] den ersten Teil der Petition zu verfassen, mit einer Analyse der Strategic Defense Initiative und der entsprechenden Entwicklungen in den anderen Ländern. Wang Daheng selbst schrieb den Haupttext der Petition, in dem er, die auf dem Symposium geäußerten Ansichten zusammenfassend, darauf einging, welche Maßnahmen China in dieser Situation ergreifen sollte. Außerdem bat Wang Daheng noch Yang Jiachi (杨嘉墀, 1919–2006) von der Chinesischen Akademie für Weltraumtechnologie und den Kernphysiker Wang Ganchang hinzu, um ihm bei der Abfassung der Petition zu helfen.
Am Ende unterschrieben Wang Daheng, Chen Fangyun, Wang Ganchang und Yang Jiachi im Namen der Akademie der Wissenschaften die Petition, der sie den Titel „Vorschläge betreffs Forschung zum Aufholen der Entwicklung bei der strategischen Hochtechnologie im Ausland“ (关于跟踪研究外国战略性高技术发展的建议) gaben. Am 3. März 1986 wurde die Petition zunächst Deng Xiaoping überreicht, damals Vorsitzender der Zentralen Militärkommission.[5] Bei Deng, der als Vizepremier für die Vier Modernisierungen seit 1978 ein großer Förderer der Wissenschaft war,[6] trafen Wang Daheng und seine Kollegen auf ein offenes Ohr. Nach einer Woche Bedenkzeit vermerkte Deng auf dem Deckblatt der Petition, dass es sich hier um eine sehr wichtige Angelegenheit handelte, die keinen Aufschub duldete, und reichte sie an Premierminister Zhao Ziyang weiter, mit der Bitte, die nötigen Schritte in die Wege zu leiten.
Zhao Ziyang hatte 1937 nach dem Ausbruch des Antijapanischen Krieges kurz vor dem Abitur die Schule abbrechen müssen und war ein reiner Berufspolitiker. Daher reichte er den Vorgang an Zhang Jingfu weiter, den Direktor der Staatlichen Planungskommission beim Staatsrat. Zhang Jingfu, der die vier Wissenschaftler noch aus seiner Zeit als Generalsekretär der Chinesischen Akademie der Wissenschaften (1956–1975) kannte, hatte 1956 maßgeblich an der Ausarbeitung des „Zwölfjahresplans für Wissenschaft und Technik“ mitgewirkt und war aus seiner Zeit als Finanzminister der Volksrepublik China (1975–1979) auch mit den finanziellen Aspekten derartiger Programme vertraut. Bei den nun folgenden Besprechungen im Staatsrat fanden Wang Daheng und seine Kollegen in Zhang einen tatkräftigen Unterstützer. Die Zahl der ursprünglich von den Wissenschaftlern für eine Förderung vorgesehenen Fachgebiete wurde erweitert, das Finanzministerium erklärte sich bereit, die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Als es um die Frage militärischer (wie in den USA) oder ziviler Projekte (wie in Europa) ging, schaltete sich Deng Xiaoping wieder in die Diskussion ein und forderte, dass möglichst Projekte, die beiden Sektoren nützten, gefördert werden sollten, dass aber der zivile Sektor Vorrang hatte (军民结合、以民为主).
Für jeden Fachbereich (damals Biotechnologie, Raumfahrt, Informationstechnik, moderne Waffensysteme, Automatisierung, Energie und Materialkunde) wurden Expertenkommissionen eingerichtet, die nicht nur die Förderanträge zu prüfen und über die Verteilung der Mittel zu entscheiden, sondern auch darauf zu achten hatten, dass es nicht zu parallelen Forschungen kam, dass also nicht zwei oder mehr Institute an ähnlichen Projekten arbeiteten. Die letztendliche Verantwortung hatte bei den militärischen Projekten die damalige Kommission für Wissenschaft, Technik und Industrie für Landesverteidigung, bei den zivilen Projekten die Staatskommission für Wissenschaft und Technologie.[7] Nachdem alle Details geklärt waren, wurde der „Grundriss eines Programms zur Entwicklung von Hochtechnologie (Programm 863)“ (《高技術研究發展計劃(863計劃)綱要》) vom Staatsrat sowie vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas gebilligt und im Kabinett verabschiedet.[8]
Weblinks
- Offizielle Webseite des „Programms 863“ (chinesisch)
Einzelnachweise
- ↑ Klaus Krakat: Probleme der DDR-Industrie im letzten Fünfjahrplanzeitraum (1986–1989/1990). In: Eberhard Kuhr et al. (Hrsg.): Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den 80er Jahren. Leske und Budrich, Opladen 1996, S. 153.
- ↑ 王大珩: 从导弹轨道跟踪与测量到“863计划”. In: cas.cn. 17. September 2009, abgerufen am 9. September 2019 (chinesisch).
- ↑ Anfang 1986 hatte China gut eine Milliarde Einwohner.
- ↑ 潘厚任. In: cas.cn. 17. Juni 2005, abgerufen am 10. September 2019 (chinesisch).
- ↑ 趙竹青: 國家863計劃項目:簡介和出台背景. In: scitech.people.com.cn. 23. Juli 2010, abgerufen am 10. September 2019 (chinesisch).
- ↑ Stephen Uhalley Jr.: A History of the Chinese Communist Party. Hoover Institution Press, Stanford 1988, S. 190.
- ↑ 王大珩: 从导弹轨道跟踪与测量到“863计划”. In: cas.cn. 17. September 2009, abgerufen am 9. September 2019 (chinesisch).
- ↑ 趙竹青: 國家863計劃項目:簡介和出台背景. In: scitech.people.com.cn. 23. Juli 2010, abgerufen am 11. September 2019 (chinesisch).