Scheinproblem
Das Wort Scheinproblem wird im alltäglichen Sprachgebrauch in der Regel in kritischer Absicht verwendet, um die Aufmerksamkeit in Frage zu stellen, die jemand auf die Lösung eines bestimmten Problems verwendet. Die Kritik hinter dem Wort ist, daß sich dieses Problem nicht wirklich stellt. Der es zu lösen versucht, hat entweder nicht erkannt, wie leicht dieses Problem lösbar wäre, oder er investiert hier Mühen auf ein kaum lösbares Problem, um sich nicht mit Problemen auseinanderzusetzen, dessen Lösung für ihn viel wichtiger wäre.
Im Bereich der Philosophie wurde der Begriff zum Schlagwort der positivistischen Richtungen, um sich gegenüber den Debatten zu positionieren, die innerhalb der positivistischen Philosophie keine Fortführung finden.
Die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, kann etwa einen Streit zwischen Anhängern der Religionen und Materialisten erzeugen, die sich darauf zurückziehen, daß der Mensch keine Seele habe und allein aus Materie bestehe, mithin nach dem Tode sich wieder in bewußtlose Materie auflöse. Aus positivistischer Sicht sind in diesem Streit bereits Prämissen gesetzt, die kaum zu fundieren sind. Alles, worüber wir verfügen, sind Sinnesdaten, die wir ordnen und interpretieren. Ob es eine Seele gibt, die dieses leistet oder eine Materie, von der Sinnesempfindungen ausgehen, ist bereits Teil der jeweiligen Interpretation. Mit Sinnesdaten werden wir jedoch absehbar nie an die Stelle gelangen, an der das mit der Frage gestellte Problem überhaupt auftaucht.
In der mit Wittgenstein vollzogenen Wendung eines Nachdenkens über Aussagen kehrt dieselbe Option, Probleme auszuschließen wieder: Man kann darüber nachdenken, ob es möglich ist, die Welt, wie wir sie wahrnehmen, vollständig mit Aussagen zu beschreiben – und dies begründbar bejahen. Man wird jedoch im selben Beweisverfahren zu dem Schluß kommen, daß Aussagen über Gut und Böse und Kausalität nicht mit vergleichbaren Untersuchungen getan werden können. Die Sätze zu Kausalität und zu Gut und Böse erlauben nicht im selben Maße eine Vereinbarung darüber, was der Fall sein soll, wenn sie wahr oder falsch sind. Bei Kausalitätsaussagen läßt so etwa nicht sagen, welchen zusätzlichen Aussagewert sie haben sollen, verglichen mit Feststellungen, daß bestimmte Dinge immer dann geschehen, wenn andere Dinge geschehen. Bei moralischen Aussagen gelangen wir immer allenfalls zu Aussagen im Blick auf Ziele, die wir uns setzen: Etwas mag gut sein, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, jedoch bleibt es eine Frage der Entscheidung (und nicht der Erkenntnis), ob es gut ist, das übergeordnete Ziel zu erreichen.
Es wird aus positivistischer Sicht damit nicht uninteressant, sich Fragen der Moral zu stellen, doch verlagert sich das Problem: Von den Wissenschaften wird man eine Antwort nicht erwarten dürfen, falls man sie darauf verpflichtet, die Welt möglichst einfach zu beschreiben. Von der Frage, ob wahr oder unwahr und damit von der Frage der Welterkenntnis beginnen sich damit Fragen zu entkoppeln, von denen man bislang hoffte, sie auf diesem Gebiet mit größerer Sicherheit beantworten zu können. Man kann hier eine Verweigerungshaltung kritisieren, die Nichtbereitschaft von Scheinprobleme witternden Philosophien, sich mit bestehenden Problemen zu beschäftigen – oder aber eine Intensivierung der Debatte, denn mit ganz anderer Verantwortung muß entschieden werden, falls die Wissenschaften, die Philosophie oder die Religion nachweisbar nicht privilegiert bestimmte Fragen beantworten können.