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'''Muckensturm''' ''Ein Jahr im Leben einer kleinen Stadt.'' ist ein [[Schlüsselroman]] von Paula Buber, geb. Winkler, der Frau von [[Martin Buber]], über die Verhältnisse in [[Heppenheim]] an der [[Bergstraße]].
Georg Munk (Pseudonym für Paula Buber): Muckensturm. Ein Jahr im Leben einer kleinen Stadt, Heidelberg 1953, Roman, 643 Seiten


Mitte März 1933 schreibt Paul Geheeb, der Leiter der Odenwaldschule Ober Hambach, an den hessischen Landtagspräsidenten und beklagt Übergriffe:
Sie veröffentlichte ihn unter dem [[Pseudonym]] Georg Munk. Er erschien 1953 in Heidelberg bei Lambert Schneider. Er löste große Empörung über die vermeintlich tendenziöse und verfälschende Darstellung in der Kleinstadt aus.
„In einer der Zellulose-Fabriken meines Schwiegervaters, des Stadtrats a. D. Max Cassirer in Berlin, war vor Jahren ein gewisser Herr G. tätig; Differenzen mit der Fabrikleitung veranlassten ihn auszuscheiden; und nach seinem Tode nahmen seine Witwe und seine Kinder eine sehr unfreundliche Haltung gegen meinen Schwiegervater ein. Die Familie lebt seit längerer Zeit in unserm Nachbarstädtchen Heppenheim, und der jugendliche Sohn hat schon vor Jahr und Tag geäußert, sobald seine Partei, die nationalsozialistische, die Macht in den Händen habe, werde man sofort gegen die Odenwaldschule vorgehen. Am 5. d. M. waren die Wahlen, bereits am Nachmittag des 7. erschien der junge G. tatsächlich an der Spitze von etwa einem Dutzend Polizisten in meiner Schule, die vorgaben, nach kommunistischem Material suchen zu müssen, und unsere Kinder mit Revolvern bedrohten.“
Dabei zeichnet er ein sehr lebendiges und differenziertes Bild der Reaktionen der Kleinstadtgesellschaft auf den Nationalsozialismus. Etwa im Bild des Reaktionärs, der im Nationalsozialismus die Verwirklichung seiner Ideale gekommen glaubt und sich als Obernazi empfindet, dann aber bald mit der NS-Obrigkeit in Konflikt gerät, weil er nicht zur absoluten Unterordnung unter die aufgestiegenen Opportunisten bereit ist.
Stundenlang zieht sich die Aktion hin, ein Lehrer, der „ein ganz unpolitischer, sehr still und zurückgezogen lebender Mensch“ ist, wird unter Anführung von fadenscheinigen Gründen verhaftet, „wobei freilich der Umstand, dass er Jude ist, von dem Führer G. stark betont wurde“. Dies schwingt auch mit, als der Trupp sich zum Haus von Geheebs Schwager Dr. Kurt Cassirer begibt:
„Er rief dort meinen Schwager in ein leeres Zimmer und ließ ihn durch den Sturmführer M. in der rohesten Weise körperlich misshandeln; und der junge M. erteilte zudem noch Befehl, mein Schwager habe binnen 24 Stunden seinen Wohnsitz zu verlassen.“
Geheeb ist mit dem Schriftsteller-Ehepaar Martin und Paula Buber befreundet, die Autorin nimmt offensichtlich den Faden auf, aus dem „jungen G.“ wird der Ortsgruppenleiter Walter Thiemen, der Stadtrat heißt nun Ullmann und hat Thiemens Vater einen Konstruktionsfehler nachweisen lassen.
Von seiner Freundin hatte seine Mutter insgeheim immer erhofft, sie würde ihn vom braunen Kurs abbringen, und Dorle Rosemann versteht jetzt auch nicht, „was an dem jüdischen Stadtrat zu hassen ist – wenn er mit seinem Beweis“, wie ihr scheint „im Recht war – , um so mehr als er die unschuldig bezichtigten zu entlasten hatte.“ Aber Thiemen starrt sie nur aus bleichem Gesicht an: „Dorle, eines sollst du wissen, der Schuft ist lange tot, leider tot, aber sein Sohn, der lebt auf seinem Landsitz zwei Stunden von hier am Rhein unten – Dorle, das allererste, was geschieht, wenn wir an der Macht sind – an ihm vergreif ich mich, ihm zahl ich heim – den toten Vater, die verlorene Jugend, alles, alles muss er mir büßen.“ (S. 105)
„Der Tag, auf den er ein Jahrzehnt gewartet hatte“, kommt, Thiemen erschlägt Ullmann, bricht dabei jedoch selbst zusammen. Er sitzt eine Weile da und überlegte, „welchen Inhalt sein weiteres Leben haben würde. Es war ihm, als habe er schon alles ausgeschöpft. Er bemerkte, dass ihn die Juden im allgemeinen gar nichts mehr angingen. Er bezweifelte auch, ob sie gar so schädlich waren. Dorle hatte recht, es gab unter den Volksgenossen viele »Überjuden«, auch unter den Muckensturmern. Zurück konnte er jetzt freilich nicht mehr.“ (S. 257)
„Muckensturm“ ist der Titel von Paula Bubers Schlüsselroman. „Ein Jahr im Leben einer kleinen Stadt“, „irgendeine deutsche Kleinstadt“, wie sie vorab bemerkt, im Jahr der Machtergreifung. Entstanden in den Jahren 1938-40 habe der Text bis zu seiner Veröffentlichung 1953 keine Veränderung erfahren.
Die Handlung setzt ein Ende Februar 1933, Meldungen über den Reichstagsbrand fesseln die Bürger an ihre Radiogeräte. Ein Paar mit KP-Hintergrund ist mit Fahrer und Mercedes auf der Flucht, von ihm bliebe „kein nasser Fleck“, wenn die Braunen ihn schnappen würden. Kaltschnäuzig erpresst sie von einer ihr bekannten Einwohnerin mit Berlin-Erfahrung Hilfe und wird zu dem Historiker Professor Georg Wismar geführt, der Rat weiß und bei der Flucht hilft. Dass das Wismarsche Haus fortan Dreh- und Angelpunkt der Handlung ist, ergibt sich aus seiner Lage: „Der Neue Markt ist eine sehr breite, von schönen Platanen bestandene Straße, wenn man will sogar ein lang gestreckter Platz, an dem außer einem barocken Schloss mit modernen Anbauten, das jetzt als Kreisamt dient und stattlich aus einem terrassenförmig abgestuften Garten ragt, eine Reihe gediegener altmodische Bürgerhäuser liegen.“ (S. 17) Die Topographie von Muckensturm am Höhenweg ist fast deckungsgleich mit jener von Heppenheim an der Bergstraße, und was die Akteure anbelangt, erwies sich für jene Paula Bubers Werk sicherlich als eine Art Gauck-Archiv zwischen zwei Buchdeckeln, mit dem Effekt, dass es zu deren Lebzeiten in Heppenheim eisern totgeschwiegen wurde.
Freilich waren die Akteure, die nun Wismars Haus beschmieren, überall im Land anzutreffen. Man ist besonders aktiv, die Reichstagswahl am 5. März steht noch bevor, Thiemens Trabanten – in den Augen seiner Freundin der Auswurf des Ortes – , Watzlaff, Erhard und Himmelpfort werden mit Aufträgen eingedeckt. Letzterer ist Gärtner bei der Stadt, über die Arbeit mit dem allseits verhassten Wachtmeister Schnipperling in Kontakt gekommen und von jenem für die Braunen angeworben worden. Seine Verwandtschaft, noch stramm rot und voll informiert, erheitert sich darüber und kommt auf den Gedanken, „er solle sich bei den Braunen in der Partei aufnehmen lassen. Dann hätte man doch zuverlässige Berichte. Es gelang. Schnipperling trat für ihn ein. Er lieferte rechts und lieferte links Berichte. Man war da und dort mit ihm zufrieden. Er fühlte sich bei beiden wohl.“ (S. 49)
Nun, nach einem Jahr, droht die Sache erstmals kritisch zu werden, als er in jenem Keller, in dem schon der rote Sprengstoff lagert, nach Thiemens Wille auch das braune Zeug untergebracht werden soll. Zudem muss er für Blumenschmuck für eine Werberede sorgen, die von einem Adligen gehalten speziell jene den Familien pensionierter preußischer Offiziere angehörige Leute ansprechen soll, die jetzt noch die Nase rümpfen. „Der Prinz aber, dieser Spross der Krone“ (S. 120), weist zumindest Dr. Mader den Weg in die Partei, wobei jener allerdings schon die Leitung des örtlichen Krankenhauses im Hinterkopf hat.
Die Veranstaltung führt aus der Landeshauptstadt einen Uniformierten nach Muckensturm, Felix German, älterer Bruder des Assessors Justus German, dem im Kreisamt die für ihn unangenehme Aufgabe zufällt, die Entscheidungen für diejenigen zu treffen, die von den Braunen angewidert „in ein chronisches Leiden entschlüpfen“ (S. 97) konnten – eine Generation allerdings, die ihre Arbeit getan hat und nun mit den Kräften am Ende ist. Justus und Felix hatten sich ob ihrer politischen Differenzen über die Jahre auseinandergelebt, nun kommt es zum offenen Meinungsaustausch. Von den 70 Kapiteln des Buches hebt sich dieser Disput durch seine Länge ab und durch den Sprachstil. Nicht ganz so umfangreich passiert es wieder bei Justus’ Gesprächen mit einem zur Auswanderung entschlossenen Schulkameraden und mit dem Kreisleiter der Braunen. Der Dialog ist dann mitunter sehr pathetisch, im Gegensatz zu der sonst überwiegenden Form einer Art Gesellschaftssatire.
Justus merkt schnell, dass sein Bruder eine höhere Charge der Partei ist: „Ich betrachte euch also als eine Partei in oder besser wohl über der Vulgärpartei, von ihr durch höhere Schranken geschieden als einst ein frühes Priestertum von der Gemeinde der Gläubigen.“ (S. 132) Felix hatte ihm erwidert, für seine Partei bestimme sich „Gut und Böse“ nach dem, wohin sie unterwegs seien, als Justus darauf pochte, es komme auf den Weg, und nur darauf an: „Und war dein Weg Sumpf und Blut, glaub doch nicht, dass dein Ziel rein sein kann!“ (S. 130) Justus hat die Jugendlektüre, wo nach Dostojewskij der christliche Sozialist viel gefährlicher sei als der atheistische, nicht vergessen und prophezeit seinem spottenden Bruder, es werde nach deren großem Einsturz ihrer Licht sein, das sie aus dem Abgrund heraufführt. Sein Feuer des Glaubens sei „aus der Gewissheit aufgeflammt, dass der Mensch den göttlichen Anhauch empfangen hat und nicht Masse sein kann“, um ihrer und andrer Projekten „die knetbare und lenkbare Materie zu liefern.“ (S. 137) Beider Männer Überzeugungen schwanken nicht, und Felix verlässt seinen Bruder am nächsten Morgen ohne Adieu.
Die Werbeveranstaltung mit Prinz führt zu noch einem Treffen, dem von Thiemen mit dem „sogenannten Naturmenschen, Klaus Hansen, der sich selbst einen Wolgadeutschen nannte“ (S. 118). Er hat am Stadtrand eine kleine Siedlung von Lebensreform-Anhängern initiiert, sich mit seinen Anhängern aber überworfen. „Immerhin, Thiemen hatte sich in der letzten Zeit etwas mit ihm befreundet. Vielleicht war die Partei an Hansens Vorträgen interessiert. Er sprach, vielfach herumreisend, an verschiedenen Orten über das Leben und Leiden der Wolgadeutschen im heutigen Russland.“ (S. 118) Thiemens Bedürfnis, sich einmal mit jemand auszusprechen, scheint ihm dort gut aufgehoben, wo der Samowar den ganzen Tag glimmt. Hansen bietet ihm Zigaretten an: „Sie hatten ein feines fremdartiges Aroma; es war dem Tabak ein Duftstoff beigemischt. »Von einem Freund aus Kairo«, sagte der Hausherr. Solche Sachen gab es bei ihm immer.“ (S. 155) Die späten Abendgespräche am knisternden Feuer ziehen Thiemen an, eine „ursprüngliche Brutalität, die er durch das Humanitätsgehudel vorblitzen“ (S. 155-6) sieht, stößt ihn ab. Die Erinnerung an ein Kindermärchen kommt ihm, „da gab es einen Mann, der wurde nächtens zum Wolf, lief gegen den Wald hinaus, fiel unterwegs in den Schafpferch ein und zerriss dem Nachbarn jeweils ein Dutzend Schafe.“ (S. 156) Hansen erklärt sich Thiemen als der Partei „angeschlossen, wenn auch nicht auf die übliche Weise“ (S. 332). Der junge Ortsgruppenleiter ist benommen, als er einmal einen wirklich maskenlosen Hansen erlebt, der erzählt, die Macht, die er liebe und anbete sei das dunkle Feuer, die geheime Macht, der gnostische Gott, in dessen Ebenbild geschaffen er den Terroristen Ewno Asew wähnt. Thiemen glaubt, was Hansen alles schildert sei „vielleicht in Russland möglich oder möglich gewesen, nicht hier, nicht bei uns“ (S. 326). Die Figur des Klaus Hansen ist eine der Meisterleistungen der Autorin, ziemlich undurchschaubar und doch klar in der Aussage bis zum Schluss, als Hansen in Berlin aus der Tür eines Hotels am Potsdamer Bahnhof tritt: „Er hatte seine treuherzige Siedlertracht abgelegt, glich durchaus einem Großstädter von verhaltener Eleganz und wäre mit seiner veränderten Haartracht von einem Muckensturmer kaum auf den ersten Blick erkannt worden. Sein Reiseziel hatte er selbst noch nicht erfahren.“ (S. 594)
Ein Gespräch bei einem Glas Wein, der Raum von hellblauen Wölkchen durchzogen, ein matt glimmendes Feuer: noch ein Muckensturmer Haushalt – oder genauer deren zwei – halten das parat. Richter Amthor und Ex-Hauptmann Brandt sind Freunde seit der Gymnasialzeit, standen zusammen im Feld und haben gemeinsam in den Ferien Deutschland durchwandert. „Jeder von ihnen wusste ungefähr, was den andern trieb. Sie konnten einander stundenlang anschweigen; wenn dann einer von ihnen redete, zeigte sich, dass sie mitten in einem Gespräch standen.“ (S. 102) Brand ist ein „Büchernarr“, beide stimmen sich bei Anschaffungen für ihre Bibliotheken ab, pflegen über Gelesenes einen Meinungsaustausch und sind Gegner der Braunen. Ihre benachbarten Anwesen sind die Katakomben, über die die erste Welle der Ereignisse hinwegrollt. Amthor ist „ein guter Rechtskenner von der lebendigen Seite her“ (S. 98) und kann Brandt erklären, was es mit einer „üblen Fratze“ im SS-Schwarz auf sich hat, der man seit einem Jahr begegnet. Er sei vermutlich von der Bewegung hierher beordert: „Der Watzlaff sieht nämlich brutaler aus als er wohl ist. Er ist nur zum Vorletzten zu brauchen. In offener Rauferei nimmt er unbedenklich der Doppeltgeschliffenen. Der Bursche da aber, Allgeyer heißt er, taugt auch zum Letzten, zum Stoß in Genick. Vollzugsorgan sozusagen!“ (S. 112)
Die Reichstagswahl besiegelt das Schicksal der Deutschen. Obgleich es in Muckensturm schlecht für die Braunen läuft, findet ihr Hass am Folgetag im jüdischen Geschwisterpaar Elsässer sein erstes Opfer, das auf den Markt geleitet wird: „Tilly auf ihren hochhackigen Schuhen, das rote Hütchen auf dem hochblonden Wuschelkopf, trug Spüleimer und Lappen, der Bruder Kurt war mit einem Besen ausgestattet. Man zwang die beiden, die Reste eines zerrissenen alten Plakats der Kommunisten von einem Scheunentor gegenüber dem Wismarschen Haus abzuwaschen und den Weg davor zu kehren.“ (S. 208) Mit einigen Blessuren kommen sie zu Hause an und der alte Elsässer entscheidet schnell, die Jungen nach Amsterdam in Sicherheit zu bringen. Er findet Worte für die Situation: „Wir waren blind, wir waren taub. Jetzt reißen sie uns die Augen auf, jetzt öffnen sie uns die Ohren – aber der Wanderstecken lehnt nicht mehr hinter der Tür, und wir haben versäumt, selber die Zeichen an sie zu machen.“ (S. 229)
Auch die christlichen Gemeinden bekommen das Beben ab. In der Auslage der Buchhandlung Vogt taucht ein Auferstehungsbild „Deutsche Ostern“ auf, mit Hitler als Heiland, das den evangelischen Pfarrer Gottlieb Schäuflin auf den Plan ruft, „zwar kein gewaltiger Gottesstreiter, aber ein anständiger charakterfester Mann, der in dem neuen Treiben eine Gefahr für sein Evangelium sieht“ (S. 144). Das alte Pfarrersehepaar war von „schweren Erlebnissen gebeugt, beide etwas weltfremd, unbewehrt und von hilfloser Güte.“ (S. 243) Die sich abzeichnenden neuen Pfarrer haben beizeiten den Schwenk in Richtung „Deutsche Christen“ gemacht, begeistern sich „für Wotan und Thor“ (S. 144) und bekommen den Fuß in immer mehr Türen. Merkwürdig nun, dass der kleine verhärmte Pfarrer sich aufreckt und erklärt, „endlich scheine sein Beruf ihm halten zu wollen, was er die Jahrzehnte vergeblich in ihm gesucht habe“ (S. 249). Er wird den Vogt aufsuchen.
Nicht geringer sind die Probleme in der größeren katholischen Gemeinde, ohnehin schwelt ein Konflikt zwischen Pfarrer Almeroder und der Sanitätsrätin Ruland – als Leiterin des Frauenbundes informationsdienstlich bestens vernetzt – , die nach der Eröffnung eines Schwimmbades „Sodom und Gomorra“ (S. 188) anbrechen sieht und ihn für fehl am Platz hält, schon wegen seiner Kritik an dem monumentalen Kirchenneubau. Er und Kaplan Baumgarten sind eher auf der Suche nach wahrer Lebensfrömmigkeit. Sie predigen, es genüge nicht, dass der Mensch um sein persönliches Heil besorgt sei, es gehe auch nicht um die Seele allein. Eine Abordnung von Handwerksgesellen hat Vertrauen und erinnert sie: „Wenn wir Sie recht verstanden haben, meinen Sie, es geht um den ganzen Menschen, also auch um den irdischen Menschen. Und um sein und Gottes Reich auf Erden. Sie haben gesagt, das Kommen dieses Reiches wird von uns mitbewirkt.“ (S. 432) Ihre Meinung zu Kirche: „Sie schweigt zu lange.“ (S. 433) Immerhin wird ihrer Bitte um ein Wort Genüge getan, jene Stelle, „die zu hören und zu entscheiden berufen ist“ (S. 584), sendet Mitte Juli einen höheren Geistlichen, leider mit Frau Ruland näher verwandt, auch geistig geistlich. Gegenüber „Kritik der Gläubigen“ fällt jenem nur „eine eingreifende Veränderung in der Seelsorge“ (S. 585) ein. Der milde und menschliche Pfarrer wird versetzt, ebenso der an Zeitfragen interessierte Kaplan. Bald tritt aus dem Bahnhof ein neuer „junger Priester mit farblosem Gesicht und undurchdringlichen Mienen“ ( S. 596), „ein unbehaglicher Herr“ (S. 597).
Die Honoratiorendame ist im Übrigen eine der Hauptfiguren des Romans, steht sie doch auch für die Gier, die sich zeigt, wenn es gilt, Immobilien und Posten von jüdischen Bürgern, deren Flucht abzusehen ist, für die eigene Familie zu sichern.
Ihre neue Machtfülle nutzen die Braunen zur Einsammlung von roten Devotionalien und Büchern, die auf dem Rathausplatz verbrannt werden sollen. Aber: „Das aufgehäufte Zeug brannte nicht. Thiemen ließ etliche Liter Petroleum darauf gießen. Es qualmte und rauchte. Ein kleines Mädchen zündete sein Röckchen an; es war das einzige was richtig brannte. Ein Brauner riss ein Federbett aus einem Kinderwagen und löschte das Röckchen. Die Besitzerin des Federbetts begann zu keifen und verlangte Schadenersatz von der Partei. Ihr Säugling erkälte sich. Das angesengte Kind brüllte. Die Leute lachten. Auch aus den Fenstern ringsum scholl Gelächter. Es war nicht die richtige Stimmung. Mehr Petroleum. Jetzt rauchte es tüchtig. Der wind trieb Thiemen den Rauch gerade ins Gesicht. Seine Augen tränten. Es beizte ihm die Kehle. Er bekam einen Hustenanfall. Aus den Fenstern wurde gemurrt. Der Rauch zog in die Wohnungen. Man schloss die Fenster. (...) Marx und Lassalle, Lenin und Stalin grinsten Thiemen hinter Glas und Rahmen unversehrt von ihren Scheiterhaufen herunter an.“ (S. 288-9)
Eine Geschichte zum Lachen, aber darf die Autorin so schreiben, wenn sie an anderen Stellen gewahr ist, dass es den neuen Machthabern darum geht, „das Volk auf einen neuen Krieg zu Rüsten“ (S. 457), es zu einem Glied einer „ungeheuren Vernichtungsmaschinerie“ zu machen? Die Antwort wird gegeben bei einer der nun ablaufenden Haussuchungen – die erste war eingangs beschrieben – , bei denen vorgeblich nach einer kommunistischen Geheimdruckerei gesucht wird, die aber auf ein beschleunigtes hinausekeln abzielen. Der jüdische Arzt Dr. Markus – die Kleinstadt bietet nur vier umkämpfte Stellen – war „Kriegsteilnehmer vom ersten bis zum letzten Tag. Im Sommer achtzehn Kriegsgefangener mit dem Lazarett in England. Zwei Auszeichnungen.“ (S. 292-3) Die Haussuchung mochte nach dem Geschmack des Gelegenheitsdiebs Erhard sein, dass die russische Ehefrau des Arztes trotzdem darüber lacht, lässt bei Thiemen Ärger aufkommen: „Sie schiene sich des Ernstes ihrer Lage nicht bewusst zu sein. Sie sei sich völlig bewusst. Wer wie sie die Kindheit und Jugend im zaristischen Russland verlebt habe, dem sei dieses Bewusstsein der Lage in Fleisch und Blut übergegangen. Man habe eben damit zu leben und vielleicht auch mit Anstand zu sterben. Sie sah Thiemen voll ins Gesicht. Von dem ihren wich das Lächeln nicht.“ (S. 293)
Die Haussuchungen bringen eine weitere Person ins Geschehen ein: Dr. Guldenschuh, der neue Kreisleiter der Braunen, zum Verdruss des Fußvolks ein „Moralfex“ (S. 444), „er ist fürs Gute, Schöne und Wahre“, selbst in den Augen von Justus German „nicht ohne Maßstab“ (S. 317). „Er war für Zucht und Gerechtigkeit, strenger gegen die eigenen Leute als gegen Juden und Kommunisten. Ein Teil des Anhangs war ihm verdächtig, er traute hier und dort nicht. Das beschlagnahmte Zeug ließ er registrieren. Es kam ihm, Thiemen, vor als hätte Guldenschuh Angst, man könnte den Linken belastendes Material unterschieben. Es gab da freilich unter seinen, Thiemens, Anhängern solche, denen er dergleichen gern zutraute. Er seufzte.“ (S. 392) Thiemen ist zu diesem Zeitpunkt freilich schon auf dem absteigenden Ast, seine Freundin hat – obwohl von ihm schwanger – ihm den Rücken gekehrt, die um jene „Nacht der langen Messer, von der sie nun seit Jahren sangen und sprachen“ (S. 262) gebrachten, sehen in ihm einen Versager, ein Rückenleiden zwingt ihn in eine Heidelberger Klinik. Guldenschuh rät, einen bedeutenden Neurologen zur Behandlung hinzuzuziehen, von dessen wohltätigem Einfluss auf den Verlauf der Krankheit er überzeugt ist. Mutig diagnostiziert jener ein soziales Phänomen als einen Grund des Übels, wo er „wohl einen allzu ausgedehnten Kreis“ (S. 522) zu verarzten hätte. Den Kreisleiter trifft der Bescheid, „ohne seine Empfindlichkeit zu verletzen, recht eigentlich ins Zentrum. Er mindert seine Sympathie für den Arzt nicht, der seiner bisherigen Einstellung und Haltung nach als entschiedener Gegner des Systems galt.“ (S. 522-2)
Die beiden nächsten Haussuchungen bringen die rote Geheimdruckerei ebenfalls nicht zum Vorschein, aber beim jüdischen Weinhändler Speyrer will die Partei sich um dessen Auto bereichern. Allgeyer fährt angesichts einer ihm peinlichen Begegnung Hals über Kopf davon und überfährt zwei „Kernbürger“, Parteigenossen obendrein. Zwar wird er vor Gericht entlastet, aber die Muckensturmer kochen vor Zorn. Noch gibt es für die braune Partei Grenzen: „Eine Verschärfung dieser Stimmung konnte sie sich nicht leisten.“ (S. 554)
Auch der vorletzte Versuch bei Professor Wismar – in ihm spiegelt sich Martin Buber wider – endet wie üblich: „Das Lastauto, das die beschlagnahmten Güter hatte abtransportieren sollen – die Mannschaft hatte hier mit einem Großen Erfolg gerechnet – , fuhr leer ab.“ (S. 307) Ein letzter Rechtfertigungsversuch des Ortsgruppenleiters erstaunt Guldenschuh: „So, Sie glauben an die Weisen von Zion?“ (S. 308), was seiner Ansicht nach „einfache Sterbliche“ mit gesundem Menschenverstand nicht tun, „wohl aber mittlere Leute“.
Aus der Hauptstadt angeordnet und offenbar auf eine Anzeige durch Hansen zurückgehend, wird schließlich die Haussuchung beim Arbeiter Zinkgraf organisiert, einem Sozialdemokraten, der Ansehen genießt, nicht um der Parteizugehörigkeit Willen, sondern „durchaus als Persönlichkeit“ (S. 377). Dass Himmelpfort in der Sache als erster einen Auftrag erhält, rettet Zinkgraf, die Presse verschwindet beizeiten. Allgeyer fühlt sich hinters Licht geführt und droht noch eine persönliche Abrechnung an. Hingegen scheinen die meisten der Braunen nicht unzufrieden zu sein: „Dieselbe Stimmung stellte Guldenschuh bei sich fest, obwohl das nun wahrhaftig und unleugbar wieder einmal eine Blamage war.“ (S. 386)
Vermessenheit keimt allerdings bei Erhard, der einen schmutzigen kleine Handel mit der Presse für möglich hält, weil seine Wahrnehmung der Partei diese ist: „Die haben wir jetzt in der Hand.“ (S. 443) „Allesamt sind wir arme Teufel, betrügen und werden betrogen wie je, von links und von rechts und von allen möglichen Richtungen. Das ist unser Los, das war so von jeher, das bleibt so, daran ändert sich nichts, wies auch kommt“, (S. 445) macht ihm im Gegenzug Himmelpforts Schwiegersohn klar, dass er am Zinkgraf kein Geschäft machen wird: „Wir haben sie in der Hand, meinst du? Gib acht, dass sie dich nicht als unbequemen Zeugen in einem Wasserloch unten im Ried krepieren lassen. Die machen keine Flausen.“
Die Haussuchungen lösen bei Professor Wismar ein Defilee von Interessenten für sein Anwesen aus, das von dessen Stieftochter Agnes abgenommen wird, die im Roman die Stelle inne hat, die real jene von Paula Buber war. Unter ihnen ist Karla Berg, sie hatte Trude Grau, die Freundin des flüchtigen „Kommunistenhäuptlings“, zu Wismar geführt, weil sie wegen einer Abtreibungsgeschichte erpressbar ist. Sie sieht sich als „gespaltener Mensch“ (S. 215), seit sie vor Jahren bei Wismar als Sekretärin arbeitete und dabei einerseits „einen anderen Maßstab“ gewann, andererseits über die Graus die Berliner Bohème kennenlernte.
Manchmal angewidert von den Braunen, unterstützt Karla Berg allerdings die Vertreibung des Dr. Markus, war ihr Bruder – ebenfalls ein Arzt – doch bei der Vergabe der örtlichen Arztpraxen zu kurz gekommen, und sie wird schließlich Opfer eines Kunstfehlers jenes braunen Dr. Mader, der neuer Chef des örtlichen Krankenhauses geworden ist.
Das Vorbild des Kreises der gegen den Strom Schwimmenden ist Richter Amthor. „Er redete nicht, er aß kaum, er verzehrte sich in Zorn und Scham.“ Er stirbt. Marie, die Frau des Justus German, empfindet „diesen Tod wie ein stellvertretendes freiwilliges Opfer, das für eine Frist das Unheil über den Häuptern der Gefährten wohl bannen konnte“ (S. 454). Als Justus sich mit seinem Freund Gideon Elsässer unterhält und über Amthor meint, das grausame Leben nach dem Zusammenbruch des Reichs habe ihn wie andere Männer guten Willens aufgezehrt, ist Gideon schon im Aufbruch nach Palästina begriffen. Justus übersieht nicht, was es an guten Gründen gibt, das Land zu verlassen, trotzdem fragt er: „Aber warst du nicht auch du eingeboren, eingewachsen in dies Land, sprichst seine Sprache als Muttersprache hast seine Landschaften durchwandert? Gideon, denk an die Fahrten unserer Studienzeit, den Neckar lang, im Schwarzwald, an der Donau.“ (S. 459)
Sein Freund hält dagegen, dass beider Völker „schicksalsverwandt seien, krank und angstumschnürt beide, Geistträger und Kreuzträger beide, seit langem beide der Volkwerdung unfähig, meines seit Jahrtausenden – und dennoch müssen wir es wagen – beide schuldig mehr an sich selbst als an anderen, beide der Erlösung zu ihrer Menschheitsmission harrend.“ (S. 460) Aus Berichten und Gesprächen weiß Gideon, was auf ihn zukommt: „ Auch von dem Schwersten, der noch unerfüllten Gemeinschaft mit dem anderen Volk, das, lange dort behaust und von Misstrauen und frevelhaftem störenden Einfluss oft beirrt, ein häufig gefährlicher Nachbar sei.“ (S. 461)
Justus German leidet in den kommenden Wochen sehr unter den Pflichten seines Amtes, die sich immer schwerer mit seinem Gewissen vereinbaren lassen. Zudem wird Guldenschuh von der Obrigkeit aufgefordert, ihm den Parteieintritt nahezulegen. Er war ein Studienkollege seines Bruders, man kennt sich seit längerem, was es Justus erleichtert, rückhaltlos zu antworten. Er sagt, eine Bewegung, die in der Allmacht eines Staates gipfele, mit dem sie sich wesensgleich erklärt, könne die seine nicht sein, und schildert seinen Eindruck von der Schändlichkeit des Wirkens der Braunen, wobei eines nicht das letzte und unwesentlichste sein soll: „Was mich mehr als alles an euch abstößt, ist euer Rassenhass, die Art, wie ihr ihn in die Tat oder vielmehr ins Verbrechen umsetzt, die Art, wie ihr die Massen mit ihm verblendet und ablenkt.“ (S. 505)
Guldenschuh bedauert die Antwort, lässt sie gelten, verlässt Justus und sieht sich mit einem neuen Problem konfrontiert: Allgeyer hatte seine junge Geliebte nach einer aufgeflogenen Abtreibung gezwungen, einen Lehrer als treibende Kraft bei der Tarnung eines Seitensprungs zu bezichtigen. Die Verleumdungsaktion wird bekannt, Allgeyer ist für die Partei nicht mehr tragbar und wird angehalten, sich selbst zu richten. Jener geht darauf ein und erschießt, seiner Waffe wieder habhaft, auch Zinkgraf und Justus German. Die Tat geht an Guldenschuh nicht spurlos vorüber, er sucht zwar nach Fehlern in seinem Tun, lässt aber auch die Zügel gegenüber den zwielichtigen Parteigenossen vermehrt kampflos locker. Er war nie von der Unerbittlichkeit in Gedankengängen wie Felix German gewesen und will schließlich von ihm wissen, ob es für sie wohl einen Weg gebe und bekommt doch nur eine Antwort von verständnisloser Leere.


Der Roman „Muckensturm“ korrespondiert erheblich mit Martin Bubers Arbeit „Die Frage an den Einzelnen“. Es heißt darin: „Not tut, damit der Mensch nicht verloren gehe, die Wahrheitsverantwortung der Person in ihrer geschichtlichen Lage.“ „Guldenschuh“ ist in Paula Bubers Werk diejenige Gestalt, an der dieses Verlorengehen am nachdrücklichsten demonstriert wird.
Kategorie:Literarisches Werk
Seit 1953 gab es Veröffentlichungen, die den Charakter des Schlüsselromans untermauern. Die Beschreibung der eingangs geschilderten Razzia findet sich in:
Walter Schäfer (Hg.): Paul Geheeb – Briefe. Mensch und Idee in Selbstzeugnissen, Stuttgart 1970, Seiten 144-6
Jener Brief an den Landtagspräsidenten ist auch abgedruckt in einem Buch, das zudem Fotodokumente über das im Roman „Elsässer“ genannte Geschwisterpaar enthält:
Wilhelm Metzendorf: Geschichte und Geschicke der Heppenheimer Juden, Lorsch 1982
Das in der Geschichte von Schweden voller Sehnsucht nach der Großstadt Berlin reisende junge Mädchen „Else Grau“ hat viele Gemeinsamkeiten mit der Schwiegertochter der Autorin. Der Bohème-Haushalt jener Familie Grau (S. 216) taucht auf – allerdings nicht als derjenige ihrer Eltern – in:
Margarete Bueber-Neumann: Von Potsdam nach Berlin. Stationen eines Irrwegs, Stuttgart 1958, Seite 113
Sie und ihre Schwester waren „Gefährtinnen der beiden begabtesten KPD-Führer: Babette lebte mit Willi, Grete – quecksilbrig, energisch und keß – mit Heinz Neumann“, wie Arthur Koestler es beschrieb. Bubers Hilfe bei der Flucht des Lebensgefährten der Schwester ihrer Schwiegertochter ist nachzulesen in:
Babette Gross: Willi Münzenberg. Eine politische Biographie, Stuttgart 1967, Seite 247
Aus der Erinnerung des damaligen Sekretärs Martin Bubers an ein Ereignis am 1. Mai 1933 lässt sich der Zusammenhang zwischen der Romanfigur „Justus German“ und dem langjährigen Darmstädter Oberbürgermeister Ludwig Metzger erkennen. In:
Haim Gordon: The other Martin Buber. Recollections of his contemporaries, Ohio 1988, Seite 149

Version vom 15. September 2008, 19:06 Uhr

Georg Munk (Pseudonym für Paula Buber): Muckensturm. Ein Jahr im Leben einer kleinen Stadt, Heidelberg 1953, Roman, 643 Seiten

Mitte März 1933 schreibt Paul Geheeb, der Leiter der Odenwaldschule Ober Hambach, an den hessischen Landtagspräsidenten und beklagt Übergriffe: „In einer der Zellulose-Fabriken meines Schwiegervaters, des Stadtrats a. D. Max Cassirer in Berlin, war vor Jahren ein gewisser Herr G. tätig; Differenzen mit der Fabrikleitung veranlassten ihn auszuscheiden; und nach seinem Tode nahmen seine Witwe und seine Kinder eine sehr unfreundliche Haltung gegen meinen Schwiegervater ein. Die Familie lebt seit längerer Zeit in unserm Nachbarstädtchen Heppenheim, und der jugendliche Sohn hat schon vor Jahr und Tag geäußert, sobald seine Partei, die nationalsozialistische, die Macht in den Händen habe, werde man sofort gegen die Odenwaldschule vorgehen. Am 5. d. M. waren die Wahlen, bereits am Nachmittag des 7. erschien der junge G. tatsächlich an der Spitze von etwa einem Dutzend Polizisten in meiner Schule, die vorgaben, nach kommunistischem Material suchen zu müssen, und unsere Kinder mit Revolvern bedrohten.“ Stundenlang zieht sich die Aktion hin, ein Lehrer, der „ein ganz unpolitischer, sehr still und zurückgezogen lebender Mensch“ ist, wird unter Anführung von fadenscheinigen Gründen verhaftet, „wobei freilich der Umstand, dass er Jude ist, von dem Führer G. stark betont wurde“. Dies schwingt auch mit, als der Trupp sich zum Haus von Geheebs Schwager Dr. Kurt Cassirer begibt: „Er rief dort meinen Schwager in ein leeres Zimmer und ließ ihn durch den Sturmführer M. in der rohesten Weise körperlich misshandeln; und der junge M. erteilte zudem noch Befehl, mein Schwager habe binnen 24 Stunden seinen Wohnsitz zu verlassen.“ Geheeb ist mit dem Schriftsteller-Ehepaar Martin und Paula Buber befreundet, die Autorin nimmt offensichtlich den Faden auf, aus dem „jungen G.“ wird der Ortsgruppenleiter Walter Thiemen, der Stadtrat heißt nun Ullmann und hat Thiemens Vater einen Konstruktionsfehler nachweisen lassen. Von seiner Freundin hatte seine Mutter insgeheim immer erhofft, sie würde ihn vom braunen Kurs abbringen, und Dorle Rosemann versteht jetzt auch nicht, „was an dem jüdischen Stadtrat zu hassen ist – wenn er mit seinem Beweis“, wie ihr scheint „im Recht war – , um so mehr als er die unschuldig bezichtigten zu entlasten hatte.“ Aber Thiemen starrt sie nur aus bleichem Gesicht an: „Dorle, eines sollst du wissen, der Schuft ist lange tot, leider tot, aber sein Sohn, der lebt auf seinem Landsitz zwei Stunden von hier am Rhein unten – Dorle, das allererste, was geschieht, wenn wir an der Macht sind – an ihm vergreif ich mich, ihm zahl ich heim – den toten Vater, die verlorene Jugend, alles, alles muss er mir büßen.“ (S. 105) „Der Tag, auf den er ein Jahrzehnt gewartet hatte“, kommt, Thiemen erschlägt Ullmann, bricht dabei jedoch selbst zusammen. Er sitzt eine Weile da und überlegte, „welchen Inhalt sein weiteres Leben haben würde. Es war ihm, als habe er schon alles ausgeschöpft. Er bemerkte, dass ihn die Juden im allgemeinen gar nichts mehr angingen. Er bezweifelte auch, ob sie gar so schädlich waren. Dorle hatte recht, es gab unter den Volksgenossen viele »Überjuden«, auch unter den Muckensturmern. Zurück konnte er jetzt freilich nicht mehr.“ (S. 257) „Muckensturm“ ist der Titel von Paula Bubers Schlüsselroman. „Ein Jahr im Leben einer kleinen Stadt“, „irgendeine deutsche Kleinstadt“, wie sie vorab bemerkt, im Jahr der Machtergreifung. Entstanden in den Jahren 1938-40 habe der Text bis zu seiner Veröffentlichung 1953 keine Veränderung erfahren. Die Handlung setzt ein Ende Februar 1933, Meldungen über den Reichstagsbrand fesseln die Bürger an ihre Radiogeräte. Ein Paar mit KP-Hintergrund ist mit Fahrer und Mercedes auf der Flucht, von ihm bliebe „kein nasser Fleck“, wenn die Braunen ihn schnappen würden. Kaltschnäuzig erpresst sie von einer ihr bekannten Einwohnerin mit Berlin-Erfahrung Hilfe und wird zu dem Historiker Professor Georg Wismar geführt, der Rat weiß und bei der Flucht hilft. Dass das Wismarsche Haus fortan Dreh- und Angelpunkt der Handlung ist, ergibt sich aus seiner Lage: „Der Neue Markt ist eine sehr breite, von schönen Platanen bestandene Straße, wenn man will sogar ein lang gestreckter Platz, an dem außer einem barocken Schloss mit modernen Anbauten, das jetzt als Kreisamt dient und stattlich aus einem terrassenförmig abgestuften Garten ragt, eine Reihe gediegener altmodische Bürgerhäuser liegen.“ (S. 17) Die Topographie von Muckensturm am Höhenweg ist fast deckungsgleich mit jener von Heppenheim an der Bergstraße, und was die Akteure anbelangt, erwies sich für jene Paula Bubers Werk sicherlich als eine Art Gauck-Archiv zwischen zwei Buchdeckeln, mit dem Effekt, dass es zu deren Lebzeiten in Heppenheim eisern totgeschwiegen wurde. Freilich waren die Akteure, die nun Wismars Haus beschmieren, überall im Land anzutreffen. Man ist besonders aktiv, die Reichstagswahl am 5. März steht noch bevor, Thiemens Trabanten – in den Augen seiner Freundin der Auswurf des Ortes – , Watzlaff, Erhard und Himmelpfort werden mit Aufträgen eingedeckt. Letzterer ist Gärtner bei der Stadt, über die Arbeit mit dem allseits verhassten Wachtmeister Schnipperling in Kontakt gekommen und von jenem für die Braunen angeworben worden. Seine Verwandtschaft, noch stramm rot und voll informiert, erheitert sich darüber und kommt auf den Gedanken, „er solle sich bei den Braunen in der Partei aufnehmen lassen. Dann hätte man doch zuverlässige Berichte. Es gelang. Schnipperling trat für ihn ein. Er lieferte rechts und lieferte links Berichte. Man war da und dort mit ihm zufrieden. Er fühlte sich bei beiden wohl.“ (S. 49) Nun, nach einem Jahr, droht die Sache erstmals kritisch zu werden, als er in jenem Keller, in dem schon der rote Sprengstoff lagert, nach Thiemens Wille auch das braune Zeug untergebracht werden soll. Zudem muss er für Blumenschmuck für eine Werberede sorgen, die von einem Adligen gehalten speziell jene den Familien pensionierter preußischer Offiziere angehörige Leute ansprechen soll, die jetzt noch die Nase rümpfen. „Der Prinz aber, dieser Spross der Krone“ (S. 120), weist zumindest Dr. Mader den Weg in die Partei, wobei jener allerdings schon die Leitung des örtlichen Krankenhauses im Hinterkopf hat. Die Veranstaltung führt aus der Landeshauptstadt einen Uniformierten nach Muckensturm, Felix German, älterer Bruder des Assessors Justus German, dem im Kreisamt die für ihn unangenehme Aufgabe zufällt, die Entscheidungen für diejenigen zu treffen, die von den Braunen angewidert „in ein chronisches Leiden entschlüpfen“ (S. 97) konnten – eine Generation allerdings, die ihre Arbeit getan hat und nun mit den Kräften am Ende ist. Justus und Felix hatten sich ob ihrer politischen Differenzen über die Jahre auseinandergelebt, nun kommt es zum offenen Meinungsaustausch. Von den 70 Kapiteln des Buches hebt sich dieser Disput durch seine Länge ab und durch den Sprachstil. Nicht ganz so umfangreich passiert es wieder bei Justus’ Gesprächen mit einem zur Auswanderung entschlossenen Schulkameraden und mit dem Kreisleiter der Braunen. Der Dialog ist dann mitunter sehr pathetisch, im Gegensatz zu der sonst überwiegenden Form einer Art Gesellschaftssatire. Justus merkt schnell, dass sein Bruder eine höhere Charge der Partei ist: „Ich betrachte euch also als eine Partei in oder besser wohl über der Vulgärpartei, von ihr durch höhere Schranken geschieden als einst ein frühes Priestertum von der Gemeinde der Gläubigen.“ (S. 132) Felix hatte ihm erwidert, für seine Partei bestimme sich „Gut und Böse“ nach dem, wohin sie unterwegs seien, als Justus darauf pochte, es komme auf den Weg, und nur darauf an: „Und war dein Weg Sumpf und Blut, glaub doch nicht, dass dein Ziel rein sein kann!“ (S. 130) Justus hat die Jugendlektüre, wo nach Dostojewskij der christliche Sozialist viel gefährlicher sei als der atheistische, nicht vergessen und prophezeit seinem spottenden Bruder, es werde nach deren großem Einsturz ihrer Licht sein, das sie aus dem Abgrund heraufführt. Sein Feuer des Glaubens sei „aus der Gewissheit aufgeflammt, dass der Mensch den göttlichen Anhauch empfangen hat und nicht Masse sein kann“, um ihrer und andrer Projekten „die knetbare und lenkbare Materie zu liefern.“ (S. 137) Beider Männer Überzeugungen schwanken nicht, und Felix verlässt seinen Bruder am nächsten Morgen ohne Adieu. Die Werbeveranstaltung mit Prinz führt zu noch einem Treffen, dem von Thiemen mit dem „sogenannten Naturmenschen, Klaus Hansen, der sich selbst einen Wolgadeutschen nannte“ (S. 118). Er hat am Stadtrand eine kleine Siedlung von Lebensreform-Anhängern initiiert, sich mit seinen Anhängern aber überworfen. „Immerhin, Thiemen hatte sich in der letzten Zeit etwas mit ihm befreundet. Vielleicht war die Partei an Hansens Vorträgen interessiert. Er sprach, vielfach herumreisend, an verschiedenen Orten über das Leben und Leiden der Wolgadeutschen im heutigen Russland.“ (S. 118) Thiemens Bedürfnis, sich einmal mit jemand auszusprechen, scheint ihm dort gut aufgehoben, wo der Samowar den ganzen Tag glimmt. Hansen bietet ihm Zigaretten an: „Sie hatten ein feines fremdartiges Aroma; es war dem Tabak ein Duftstoff beigemischt. »Von einem Freund aus Kairo«, sagte der Hausherr. Solche Sachen gab es bei ihm immer.“ (S. 155) Die späten Abendgespräche am knisternden Feuer ziehen Thiemen an, eine „ursprüngliche Brutalität, die er durch das Humanitätsgehudel vorblitzen“ (S. 155-6) sieht, stößt ihn ab. Die Erinnerung an ein Kindermärchen kommt ihm, „da gab es einen Mann, der wurde nächtens zum Wolf, lief gegen den Wald hinaus, fiel unterwegs in den Schafpferch ein und zerriss dem Nachbarn jeweils ein Dutzend Schafe.“ (S. 156) Hansen erklärt sich Thiemen als der Partei „angeschlossen, wenn auch nicht auf die übliche Weise“ (S. 332). Der junge Ortsgruppenleiter ist benommen, als er einmal einen wirklich maskenlosen Hansen erlebt, der erzählt, die Macht, die er liebe und anbete sei das dunkle Feuer, die geheime Macht, der gnostische Gott, in dessen Ebenbild geschaffen er den Terroristen Ewno Asew wähnt. Thiemen glaubt, was Hansen alles schildert sei „vielleicht in Russland möglich oder möglich gewesen, nicht hier, nicht bei uns“ (S. 326). Die Figur des Klaus Hansen ist eine der Meisterleistungen der Autorin, ziemlich undurchschaubar und doch klar in der Aussage bis zum Schluss, als Hansen in Berlin aus der Tür eines Hotels am Potsdamer Bahnhof tritt: „Er hatte seine treuherzige Siedlertracht abgelegt, glich durchaus einem Großstädter von verhaltener Eleganz und wäre mit seiner veränderten Haartracht von einem Muckensturmer kaum auf den ersten Blick erkannt worden. Sein Reiseziel hatte er selbst noch nicht erfahren.“ (S. 594) Ein Gespräch bei einem Glas Wein, der Raum von hellblauen Wölkchen durchzogen, ein matt glimmendes Feuer: noch ein Muckensturmer Haushalt – oder genauer deren zwei – halten das parat. Richter Amthor und Ex-Hauptmann Brandt sind Freunde seit der Gymnasialzeit, standen zusammen im Feld und haben gemeinsam in den Ferien Deutschland durchwandert. „Jeder von ihnen wusste ungefähr, was den andern trieb. Sie konnten einander stundenlang anschweigen; wenn dann einer von ihnen redete, zeigte sich, dass sie mitten in einem Gespräch standen.“ (S. 102) Brand ist ein „Büchernarr“, beide stimmen sich bei Anschaffungen für ihre Bibliotheken ab, pflegen über Gelesenes einen Meinungsaustausch und sind Gegner der Braunen. Ihre benachbarten Anwesen sind die Katakomben, über die die erste Welle der Ereignisse hinwegrollt. Amthor ist „ein guter Rechtskenner von der lebendigen Seite her“ (S. 98) und kann Brandt erklären, was es mit einer „üblen Fratze“ im SS-Schwarz auf sich hat, der man seit einem Jahr begegnet. Er sei vermutlich von der Bewegung hierher beordert: „Der Watzlaff sieht nämlich brutaler aus als er wohl ist. Er ist nur zum Vorletzten zu brauchen. In offener Rauferei nimmt er unbedenklich der Doppeltgeschliffenen. Der Bursche da aber, Allgeyer heißt er, taugt auch zum Letzten, zum Stoß in Genick. Vollzugsorgan sozusagen!“ (S. 112) Die Reichstagswahl besiegelt das Schicksal der Deutschen. Obgleich es in Muckensturm schlecht für die Braunen läuft, findet ihr Hass am Folgetag im jüdischen Geschwisterpaar Elsässer sein erstes Opfer, das auf den Markt geleitet wird: „Tilly auf ihren hochhackigen Schuhen, das rote Hütchen auf dem hochblonden Wuschelkopf, trug Spüleimer und Lappen, der Bruder Kurt war mit einem Besen ausgestattet. Man zwang die beiden, die Reste eines zerrissenen alten Plakats der Kommunisten von einem Scheunentor gegenüber dem Wismarschen Haus abzuwaschen und den Weg davor zu kehren.“ (S. 208) Mit einigen Blessuren kommen sie zu Hause an und der alte Elsässer entscheidet schnell, die Jungen nach Amsterdam in Sicherheit zu bringen. Er findet Worte für die Situation: „Wir waren blind, wir waren taub. Jetzt reißen sie uns die Augen auf, jetzt öffnen sie uns die Ohren – aber der Wanderstecken lehnt nicht mehr hinter der Tür, und wir haben versäumt, selber die Zeichen an sie zu machen.“ (S. 229) Auch die christlichen Gemeinden bekommen das Beben ab. In der Auslage der Buchhandlung Vogt taucht ein Auferstehungsbild „Deutsche Ostern“ auf, mit Hitler als Heiland, das den evangelischen Pfarrer Gottlieb Schäuflin auf den Plan ruft, „zwar kein gewaltiger Gottesstreiter, aber ein anständiger charakterfester Mann, der in dem neuen Treiben eine Gefahr für sein Evangelium sieht“ (S. 144). Das alte Pfarrersehepaar war von „schweren Erlebnissen gebeugt, beide etwas weltfremd, unbewehrt und von hilfloser Güte.“ (S. 243) Die sich abzeichnenden neuen Pfarrer haben beizeiten den Schwenk in Richtung „Deutsche Christen“ gemacht, begeistern sich „für Wotan und Thor“ (S. 144) und bekommen den Fuß in immer mehr Türen. Merkwürdig nun, dass der kleine verhärmte Pfarrer sich aufreckt und erklärt, „endlich scheine sein Beruf ihm halten zu wollen, was er die Jahrzehnte vergeblich in ihm gesucht habe“ (S. 249). Er wird den Vogt aufsuchen. Nicht geringer sind die Probleme in der größeren katholischen Gemeinde, ohnehin schwelt ein Konflikt zwischen Pfarrer Almeroder und der Sanitätsrätin Ruland – als Leiterin des Frauenbundes informationsdienstlich bestens vernetzt – , die nach der Eröffnung eines Schwimmbades „Sodom und Gomorra“ (S. 188) anbrechen sieht und ihn für fehl am Platz hält, schon wegen seiner Kritik an dem monumentalen Kirchenneubau. Er und Kaplan Baumgarten sind eher auf der Suche nach wahrer Lebensfrömmigkeit. Sie predigen, es genüge nicht, dass der Mensch um sein persönliches Heil besorgt sei, es gehe auch nicht um die Seele allein. Eine Abordnung von Handwerksgesellen hat Vertrauen und erinnert sie: „Wenn wir Sie recht verstanden haben, meinen Sie, es geht um den ganzen Menschen, also auch um den irdischen Menschen. Und um sein und Gottes Reich auf Erden. Sie haben gesagt, das Kommen dieses Reiches wird von uns mitbewirkt.“ (S. 432) Ihre Meinung zu Kirche: „Sie schweigt zu lange.“ (S. 433) Immerhin wird ihrer Bitte um ein Wort Genüge getan, jene Stelle, „die zu hören und zu entscheiden berufen ist“ (S. 584), sendet Mitte Juli einen höheren Geistlichen, leider mit Frau Ruland näher verwandt, auch geistig geistlich. Gegenüber „Kritik der Gläubigen“ fällt jenem nur „eine eingreifende Veränderung in der Seelsorge“ (S. 585) ein. Der milde und menschliche Pfarrer wird versetzt, ebenso der an Zeitfragen interessierte Kaplan. Bald tritt aus dem Bahnhof ein neuer „junger Priester mit farblosem Gesicht und undurchdringlichen Mienen“ ( S. 596), „ein unbehaglicher Herr“ (S. 597). Die Honoratiorendame ist im Übrigen eine der Hauptfiguren des Romans, steht sie doch auch für die Gier, die sich zeigt, wenn es gilt, Immobilien und Posten von jüdischen Bürgern, deren Flucht abzusehen ist, für die eigene Familie zu sichern. Ihre neue Machtfülle nutzen die Braunen zur Einsammlung von roten Devotionalien und Büchern, die auf dem Rathausplatz verbrannt werden sollen. Aber: „Das aufgehäufte Zeug brannte nicht. Thiemen ließ etliche Liter Petroleum darauf gießen. Es qualmte und rauchte. Ein kleines Mädchen zündete sein Röckchen an; es war das einzige was richtig brannte. Ein Brauner riss ein Federbett aus einem Kinderwagen und löschte das Röckchen. Die Besitzerin des Federbetts begann zu keifen und verlangte Schadenersatz von der Partei. Ihr Säugling erkälte sich. Das angesengte Kind brüllte. Die Leute lachten. Auch aus den Fenstern ringsum scholl Gelächter. Es war nicht die richtige Stimmung. Mehr Petroleum. Jetzt rauchte es tüchtig. Der wind trieb Thiemen den Rauch gerade ins Gesicht. Seine Augen tränten. Es beizte ihm die Kehle. Er bekam einen Hustenanfall. Aus den Fenstern wurde gemurrt. Der Rauch zog in die Wohnungen. Man schloss die Fenster. (...) Marx und Lassalle, Lenin und Stalin grinsten Thiemen hinter Glas und Rahmen unversehrt von ihren Scheiterhaufen herunter an.“ (S. 288-9) Eine Geschichte zum Lachen, aber darf die Autorin so schreiben, wenn sie an anderen Stellen gewahr ist, dass es den neuen Machthabern darum geht, „das Volk auf einen neuen Krieg zu Rüsten“ (S. 457), es zu einem Glied einer „ungeheuren Vernichtungsmaschinerie“ zu machen? Die Antwort wird gegeben bei einer der nun ablaufenden Haussuchungen – die erste war eingangs beschrieben – , bei denen vorgeblich nach einer kommunistischen Geheimdruckerei gesucht wird, die aber auf ein beschleunigtes hinausekeln abzielen. Der jüdische Arzt Dr. Markus – die Kleinstadt bietet nur vier umkämpfte Stellen – war „Kriegsteilnehmer vom ersten bis zum letzten Tag. Im Sommer achtzehn Kriegsgefangener mit dem Lazarett in England. Zwei Auszeichnungen.“ (S. 292-3) Die Haussuchung mochte nach dem Geschmack des Gelegenheitsdiebs Erhard sein, dass die russische Ehefrau des Arztes trotzdem darüber lacht, lässt bei Thiemen Ärger aufkommen: „Sie schiene sich des Ernstes ihrer Lage nicht bewusst zu sein. Sie sei sich völlig bewusst. Wer wie sie die Kindheit und Jugend im zaristischen Russland verlebt habe, dem sei dieses Bewusstsein der Lage in Fleisch und Blut übergegangen. Man habe eben damit zu leben und vielleicht auch mit Anstand zu sterben. Sie sah Thiemen voll ins Gesicht. Von dem ihren wich das Lächeln nicht.“ (S. 293) Die Haussuchungen bringen eine weitere Person ins Geschehen ein: Dr. Guldenschuh, der neue Kreisleiter der Braunen, zum Verdruss des Fußvolks ein „Moralfex“ (S. 444), „er ist fürs Gute, Schöne und Wahre“, selbst in den Augen von Justus German „nicht ohne Maßstab“ (S. 317). „Er war für Zucht und Gerechtigkeit, strenger gegen die eigenen Leute als gegen Juden und Kommunisten. Ein Teil des Anhangs war ihm verdächtig, er traute hier und dort nicht. Das beschlagnahmte Zeug ließ er registrieren. Es kam ihm, Thiemen, vor als hätte Guldenschuh Angst, man könnte den Linken belastendes Material unterschieben. Es gab da freilich unter seinen, Thiemens, Anhängern solche, denen er dergleichen gern zutraute. Er seufzte.“ (S. 392) Thiemen ist zu diesem Zeitpunkt freilich schon auf dem absteigenden Ast, seine Freundin hat – obwohl von ihm schwanger – ihm den Rücken gekehrt, die um jene „Nacht der langen Messer, von der sie nun seit Jahren sangen und sprachen“ (S. 262) gebrachten, sehen in ihm einen Versager, ein Rückenleiden zwingt ihn in eine Heidelberger Klinik. Guldenschuh rät, einen bedeutenden Neurologen zur Behandlung hinzuzuziehen, von dessen wohltätigem Einfluss auf den Verlauf der Krankheit er überzeugt ist. Mutig diagnostiziert jener ein soziales Phänomen als einen Grund des Übels, wo er „wohl einen allzu ausgedehnten Kreis“ (S. 522) zu verarzten hätte. Den Kreisleiter trifft der Bescheid, „ohne seine Empfindlichkeit zu verletzen, recht eigentlich ins Zentrum. Er mindert seine Sympathie für den Arzt nicht, der seiner bisherigen Einstellung und Haltung nach als entschiedener Gegner des Systems galt.“ (S. 522-2) Die beiden nächsten Haussuchungen bringen die rote Geheimdruckerei ebenfalls nicht zum Vorschein, aber beim jüdischen Weinhändler Speyrer will die Partei sich um dessen Auto bereichern. Allgeyer fährt angesichts einer ihm peinlichen Begegnung Hals über Kopf davon und überfährt zwei „Kernbürger“, Parteigenossen obendrein. Zwar wird er vor Gericht entlastet, aber die Muckensturmer kochen vor Zorn. Noch gibt es für die braune Partei Grenzen: „Eine Verschärfung dieser Stimmung konnte sie sich nicht leisten.“ (S. 554) Auch der vorletzte Versuch bei Professor Wismar – in ihm spiegelt sich Martin Buber wider – endet wie üblich: „Das Lastauto, das die beschlagnahmten Güter hatte abtransportieren sollen – die Mannschaft hatte hier mit einem Großen Erfolg gerechnet – , fuhr leer ab.“ (S. 307) Ein letzter Rechtfertigungsversuch des Ortsgruppenleiters erstaunt Guldenschuh: „So, Sie glauben an die Weisen von Zion?“ (S. 308), was seiner Ansicht nach „einfache Sterbliche“ mit gesundem Menschenverstand nicht tun, „wohl aber mittlere Leute“. Aus der Hauptstadt angeordnet und offenbar auf eine Anzeige durch Hansen zurückgehend, wird schließlich die Haussuchung beim Arbeiter Zinkgraf organisiert, einem Sozialdemokraten, der Ansehen genießt, nicht um der Parteizugehörigkeit Willen, sondern „durchaus als Persönlichkeit“ (S. 377). Dass Himmelpfort in der Sache als erster einen Auftrag erhält, rettet Zinkgraf, die Presse verschwindet beizeiten. Allgeyer fühlt sich hinters Licht geführt und droht noch eine persönliche Abrechnung an. Hingegen scheinen die meisten der Braunen nicht unzufrieden zu sein: „Dieselbe Stimmung stellte Guldenschuh bei sich fest, obwohl das nun wahrhaftig und unleugbar wieder einmal eine Blamage war.“ (S. 386) Vermessenheit keimt allerdings bei Erhard, der einen schmutzigen kleine Handel mit der Presse für möglich hält, weil seine Wahrnehmung der Partei diese ist: „Die haben wir jetzt in der Hand.“ (S. 443) „Allesamt sind wir arme Teufel, betrügen und werden betrogen wie je, von links und von rechts und von allen möglichen Richtungen. Das ist unser Los, das war so von jeher, das bleibt so, daran ändert sich nichts, wies auch kommt“, (S. 445) macht ihm im Gegenzug Himmelpforts Schwiegersohn klar, dass er am Zinkgraf kein Geschäft machen wird: „Wir haben sie in der Hand, meinst du? Gib acht, dass sie dich nicht als unbequemen Zeugen in einem Wasserloch unten im Ried krepieren lassen. Die machen keine Flausen.“ Die Haussuchungen lösen bei Professor Wismar ein Defilee von Interessenten für sein Anwesen aus, das von dessen Stieftochter Agnes abgenommen wird, die im Roman die Stelle inne hat, die real jene von Paula Buber war. Unter ihnen ist Karla Berg, sie hatte Trude Grau, die Freundin des flüchtigen „Kommunistenhäuptlings“, zu Wismar geführt, weil sie wegen einer Abtreibungsgeschichte erpressbar ist. Sie sieht sich als „gespaltener Mensch“ (S. 215), seit sie vor Jahren bei Wismar als Sekretärin arbeitete und dabei einerseits „einen anderen Maßstab“ gewann, andererseits über die Graus die Berliner Bohème kennenlernte. Manchmal angewidert von den Braunen, unterstützt Karla Berg allerdings die Vertreibung des Dr. Markus, war ihr Bruder – ebenfalls ein Arzt – doch bei der Vergabe der örtlichen Arztpraxen zu kurz gekommen, und sie wird schließlich Opfer eines Kunstfehlers jenes braunen Dr. Mader, der neuer Chef des örtlichen Krankenhauses geworden ist. Das Vorbild des Kreises der gegen den Strom Schwimmenden ist Richter Amthor. „Er redete nicht, er aß kaum, er verzehrte sich in Zorn und Scham.“ Er stirbt. Marie, die Frau des Justus German, empfindet „diesen Tod wie ein stellvertretendes freiwilliges Opfer, das für eine Frist das Unheil über den Häuptern der Gefährten wohl bannen konnte“ (S. 454). Als Justus sich mit seinem Freund Gideon Elsässer unterhält und über Amthor meint, das grausame Leben nach dem Zusammenbruch des Reichs habe ihn wie andere Männer guten Willens aufgezehrt, ist Gideon schon im Aufbruch nach Palästina begriffen. Justus übersieht nicht, was es an guten Gründen gibt, das Land zu verlassen, trotzdem fragt er: „Aber warst du nicht auch du eingeboren, eingewachsen in dies Land, sprichst seine Sprache als Muttersprache hast seine Landschaften durchwandert? Gideon, denk an die Fahrten unserer Studienzeit, den Neckar lang, im Schwarzwald, an der Donau.“ (S. 459) Sein Freund hält dagegen, dass beider Völker „schicksalsverwandt seien, krank und angstumschnürt beide, Geistträger und Kreuzträger beide, seit langem beide der Volkwerdung unfähig, meines seit Jahrtausenden – und dennoch müssen wir es wagen – beide schuldig mehr an sich selbst als an anderen, beide der Erlösung zu ihrer Menschheitsmission harrend.“ (S. 460) Aus Berichten und Gesprächen weiß Gideon, was auf ihn zukommt: „ Auch von dem Schwersten, der noch unerfüllten Gemeinschaft mit dem anderen Volk, das, lange dort behaust und von Misstrauen und frevelhaftem störenden Einfluss oft beirrt, ein häufig gefährlicher Nachbar sei.“ (S. 461) Justus German leidet in den kommenden Wochen sehr unter den Pflichten seines Amtes, die sich immer schwerer mit seinem Gewissen vereinbaren lassen. Zudem wird Guldenschuh von der Obrigkeit aufgefordert, ihm den Parteieintritt nahezulegen. Er war ein Studienkollege seines Bruders, man kennt sich seit längerem, was es Justus erleichtert, rückhaltlos zu antworten. Er sagt, eine Bewegung, die in der Allmacht eines Staates gipfele, mit dem sie sich wesensgleich erklärt, könne die seine nicht sein, und schildert seinen Eindruck von der Schändlichkeit des Wirkens der Braunen, wobei eines nicht das letzte und unwesentlichste sein soll: „Was mich mehr als alles an euch abstößt, ist euer Rassenhass, die Art, wie ihr ihn in die Tat oder vielmehr ins Verbrechen umsetzt, die Art, wie ihr die Massen mit ihm verblendet und ablenkt.“ (S. 505) Guldenschuh bedauert die Antwort, lässt sie gelten, verlässt Justus und sieht sich mit einem neuen Problem konfrontiert: Allgeyer hatte seine junge Geliebte nach einer aufgeflogenen Abtreibung gezwungen, einen Lehrer als treibende Kraft bei der Tarnung eines Seitensprungs zu bezichtigen. Die Verleumdungsaktion wird bekannt, Allgeyer ist für die Partei nicht mehr tragbar und wird angehalten, sich selbst zu richten. Jener geht darauf ein und erschießt, seiner Waffe wieder habhaft, auch Zinkgraf und Justus German. Die Tat geht an Guldenschuh nicht spurlos vorüber, er sucht zwar nach Fehlern in seinem Tun, lässt aber auch die Zügel gegenüber den zwielichtigen Parteigenossen vermehrt kampflos locker. Er war nie von der Unerbittlichkeit in Gedankengängen wie Felix German gewesen und will schließlich von ihm wissen, ob es für sie wohl einen Weg gebe und bekommt doch nur eine Antwort von verständnisloser Leere.

Der Roman „Muckensturm“ korrespondiert erheblich mit Martin Bubers Arbeit „Die Frage an den Einzelnen“. Es heißt darin: „Not tut, damit der Mensch nicht verloren gehe, die Wahrheitsverantwortung der Person in ihrer geschichtlichen Lage.“ „Guldenschuh“ ist in Paula Bubers Werk diejenige Gestalt, an der dieses Verlorengehen am nachdrücklichsten demonstriert wird. Seit 1953 gab es Veröffentlichungen, die den Charakter des Schlüsselromans untermauern. Die Beschreibung der eingangs geschilderten Razzia findet sich in: Walter Schäfer (Hg.): Paul Geheeb – Briefe. Mensch und Idee in Selbstzeugnissen, Stuttgart 1970, Seiten 144-6 Jener Brief an den Landtagspräsidenten ist auch abgedruckt in einem Buch, das zudem Fotodokumente über das im Roman „Elsässer“ genannte Geschwisterpaar enthält: Wilhelm Metzendorf: Geschichte und Geschicke der Heppenheimer Juden, Lorsch 1982 Das in der Geschichte von Schweden voller Sehnsucht nach der Großstadt Berlin reisende junge Mädchen „Else Grau“ hat viele Gemeinsamkeiten mit der Schwiegertochter der Autorin. Der Bohème-Haushalt jener Familie Grau (S. 216) taucht auf – allerdings nicht als derjenige ihrer Eltern – in: Margarete Bueber-Neumann: Von Potsdam nach Berlin. Stationen eines Irrwegs, Stuttgart 1958, Seite 113 Sie und ihre Schwester waren „Gefährtinnen der beiden begabtesten KPD-Führer: Babette lebte mit Willi, Grete – quecksilbrig, energisch und keß – mit Heinz Neumann“, wie Arthur Koestler es beschrieb. Bubers Hilfe bei der Flucht des Lebensgefährten der Schwester ihrer Schwiegertochter ist nachzulesen in: Babette Gross: Willi Münzenberg. Eine politische Biographie, Stuttgart 1967, Seite 247 Aus der Erinnerung des damaligen Sekretärs Martin Bubers an ein Ereignis am 1. Mai 1933 lässt sich der Zusammenhang zwischen der Romanfigur „Justus German“ und dem langjährigen Darmstädter Oberbürgermeister Ludwig Metzger erkennen. In: Haim Gordon: The other Martin Buber. Recollections of his contemporaries, Ohio 1988, Seite 149