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„Syllabus errorum“ – Versionsunterschied

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Der '''Syllabus errorum''' ([[Lateinische Sprache|griechisch-lateinisch]] „Verzeichnis der Irrtümer“) ist eine Liste von 80 [[These]]n, die von [[Papst]] [[Pius IX.]] als falsch verurteilt wurden. Der ''Syllabus errorum'', oft auch kurz als ''[[Syllabus]]'' bezeichnet, wurde zugleich mit der im Rang höhere Verbindlichkeit beanspruchenden [[Enzyklika]] ''[[Quanta Cura (Pius IX.)|Quanta Cura]]'' am 8. Dezember 1864 veröffentlicht.
Der '''''Syllabus errorum''''' ([[Lateinische Sprache|griechisch-lateinisch]] „Verzeichnis der Irrtümer“) ist eine Liste von 80 [[These]]n, die von [[Papst]] [[Pius IX.]] als falsch verurteilt wurden. Der ''Syllabus errorum'' wurde aus älteren Schreiben des Papstes zusammengestellt und als Anhang zur [[Enzyklika]] ''[[Quanta Cura (Pius IX.)|Quanta cura]]'' vom 8. Dezember 1864 veröffentlicht. Er ist ein wichtiges Dokument für die kirchliche Ablehnung der [[Religionsfreiheit]], der [[Trennung von Kirche und Staat]], der Demokratie, der [[Akademische Freiheit|Wissenschaftsfreiheit]] und anderer, meist als Folgen der [[Aufklärung]] gesehenen Ideen.


== Inhalt ==
== Gliederung ==
Die angeführten Irrtümer verurteilenden Sätze wiederholen lehramtliche Äußerungen Papst Pius' aus anderen Dokumenten. Der Syllabus ist in zehn Paragraphen aufgeteilt (in Klammern jeweils die Nummern der dazugehörigen Thesen):
Der ''Syllabus '' ist in zehn Paragraphen aufgeteilt (in Klammern jeweils die Nummern der dazugehörigen Thesen):


* §1: [[Pantheismus]], [[Naturalismus (Philosophie)|Naturalismus]] und absoluter [[Rationalismus]] (1–7)
* § 1: [[Pantheismus]], [[Naturalismus (Philosophie)|Naturalismus]] und absoluter [[Rationalismus]] (1–7)
* §2: Gemäßigter Rationalismus (8–14)
* § 2: Gemäßigter Rationalismus (8–14)
* §3: [[Indifferentismus]], [[Latitudinarismus]] (15–18)
* § 3: [[Indifferentismus]], [[Latitudinarismus]] (15–18)
* §4: [[Sozialismus]], [[Kommunismus]], geheime Gesellschaften, Bibelgesellschaften, liberale Kleriker-Vereine (keine Thesen, stattdessen Verweise auf: Enzyklika [[Qui pluribus]] (9. November 1846), apostolische Ansprache [[Quibus quantisque malis|Quibus Quantisque]] (20. April 1849), Enzyklika [[Nostis et nobiscum]] (8. Dezember 1849), apostolische Ansprache [[Singulari quadam (Pius IX.)|Singulari quadam]] (9. Dezember 1854), Enzyklika [[Quanto conficiamur]] moerore (10. August 1863))
* § 4: [[Sozialismus]], [[Kommunismus]], geheime Gesellschaften, Bibelgesellschaften, liberale Kleriker-Vereine (keine Thesen, stattdessen Verweise auf: Enzyklika ''[[Qui pluribus]]'' (9. November 1846), apostolische Ansprache [[Quibus quantisque malis|''Quibus quantisque'']] (20. April 1849), Enzyklika [[Nostis et nobiscum]] (8. Dezember 1849), apostolische Ansprache [[Singulari quadam (Pius IX.)|''Singulari quadam'']] (9. Dezember 1854), Enzyklika ''[[Quanto conficiamur]] moerore'' (10. August 1863))
* §5: Irrtümer über die Kirche und ihre Rechte (19–38)
* § 5: Irrtümer über die Kirche und ihre Rechte (19–38)
* §6: Irrtümer über die bürgerliche Gesellschaft sowohl an sich, als auch in ihren Beziehungen zur Kirche (39–55)
* § 6: Irrtümer über die bürgerliche Gesellschaft sowohl an sich, als auch in ihren Beziehungen zur Kirche (39–55)
* §7: Irrtümer über das natürliche und christliche [[Sittengesetz]] (56–64)
* § 7: Irrtümer über das natürliche und christliche [[Sittengesetz]] (56–64)
* §8: Irrtümer über die christliche Ehe (65–74 und Verweis auf die Enzyklika [[Qui pluribus]])
* § 8: Irrtümer über die christliche Ehe (65–74 und Verweis auf die Enzyklika ''[[Qui pluribus]]'')
* §9: Irrtümer über die staatliche Herrschaft des römischen Papstes (75–76 und Verweise)
* § 9: Irrtümer über die staatliche Herrschaft des römischen Papstes (75–76 und Verweise)
* §10: Irrtümer, welche sich auf den [[Liberalismus]] unserer Tage beziehen (77–80)
* § 10: Irrtümer, welche sich auf den [[Liberalismus]] unserer Tage beziehen (77–80)


== Inhalt (Übersicht) ==
Der ''Syllabus errorum'' ist ein Exzerpt aus vorangegangenen [[Enzyklika|Enzykliken]], Ansprachen, Briefen und [[Apostolisches Schreiben|apostolischen Schreiben]] von Pius IX. Er muss in Zusammenhang mit innerkirchlichen Streitigkeiten um den sogenannten Liberalen Katholizismus, aber auch mit den Auseinandersetzungen zwischen der katholischen Kirche und den liberalen Verfassungsstaaten ([[Kulturkampf]]) gesehen werden, die sich bereits Mitte des [[19. Jahrhundert]]s abzeichneten. Nach einer sehr langen Vorbereitungszeit von etwa 15 Jahren wurde der ''Syllabus'' anlässlich einer Zuspitzung der innenpolitischen Lage in Italien veröffentlicht. Denn durch die nationale Einigung Italiens, das [[Risorgimento]], ging der [[Kirchenstaat]] des Papstes nach und nach verloren. Wie die Forschungen von Giacomo Martina gezeigt haben, gehörten zu den konkreten Auslösern auch die liberalkatholischen Forderungen von [[Charles de Montalembert]] und [[Ignaz von Döllinger]]. <ref>Giacomo Martina: ''Verso il sillabo. Il parere del barnabita Bilio sul discorso di Montalembert a Malines nell’Agosto 1863''. In: Archivum Historiae Pontificiae 36 (1998), S. 137–181</ref> Die polarisierende Wirkung der päpstlichen Defensivstrategie führte beispielsweise in Frankreich zu schweren Missverständnissen. Daraufhin billigte der Papst ausdrücklich die abmildernde Interpretation, die der Bischof von [[Orléans]] [[Félix Dupanloup]] dem ''Syllabus'' gab. Dupanloup unterschied zwischen der ''These'' und der ''Hypothese''<ref>Giacomo Martina: ''Pio IX: 1851-1866.'' Rom 1986, S. 352–356 </ref>: Die Verurteilungen des Syllabus formulieren jeweils nur das generelle Prinzip (die These). Dies bedeutet aber nicht, dass die Katholiken konkrete Kompromisse in der jeweiligen besonderen Situation eingehen können (die Hypothese). So werden sie beispielsweise dort, wo sie selbst in der kleinen Minderheit sind, nicht die Privilegierung des Katholizismus als Staatsreligion verlangen, sondern sich mit bloßer Tolerierung zufrieden geben. Wo sie eine größere Gruppe neben anderen Konfessionen und Religionen bilden, werden sie nur die Parität der Rechte fordern. Das Ideal des Katholizismus als einziger öffentlich und frei ausübbarer Religion (die These im Sinne von Satz 77 des Syllabus) wird so auf die quasi rein katholischen Staaten begrenzt. Die deutsche Übersetzung des ''Syllabus'' wurde im Jahr 1865 kirchlich approbiert.
Der ''Syllabus errorum'' ist ein Exzerpt aus vorangegangenen [[Enzyklika|Enzykliken]], Ansprachen, Briefen und [[Apostolisches Schreiben|apostolischen Schreiben]] von Pius IX. Die hier zusammengestellten Thesen haben sehr unterschiedlichen Gehalt. Nur ein Teil der verurteilten Aussagen sind im engeren Sinne Thesen, wie sie 1864 innerhalb philosophischer oder theologischer Debatten vertreten wurden. Eine Reihe von Thesen betreffen politische Maßnahmen, die zur Zeit Pius IX. stattfanden oder gefordert wurden, so die Religionsfreiheit, die Trennung von Kirche und Staat, die [[Zivilehe]] (und der Möglichkeit der [[Scheidung]] von standesamtlich geschlossenen Ehen), das staatliche Schulwesen, die Einmischung des Staates in Besetzung von Bistümern und Abschaffung des [[Kirchenstaat]]es. Andere Thesen sind eher auf Ideen bezogen, die im weiteren Sinne der Aufklärung bzw. (wie in der Schlussthese formuliert) dem „Fortschritt, dem Liberalismus und der modernen Civilisation“ zugerechnet werden.<ref>Übersetzung von 1865, S. 48</ref>


== Historischer Kontext ==
== Beispiele von im Syllabus errorum verurteilten Thesen ==
Der ''Syllabus'' ist ein Dokument des gespaltenen Verhältnisses zwischen Katholizismus und Moderne, das seit der Französischen Revolution für innerkirchliche Kontroversen und für Konflikte zwischen Kirche und ihrer Umwelt (unter anderem im [[Kulturkampf]]) gesorgt hatte. Pius IX. bezog in diesen Kontroversen Stellung zugunsten einer die Moderne ablehnenden kirchlichen Partei.<ref>Hubert Wolf: ''Der „Syllabus errorum“ (1864) oder: Sind katholische Kirche und Moderne vereinbar?'' In: Manfred Weitlauff (Hrsg.): ''Kirche im 19. Jahrhundert''. Pustet, Regensburg 1998, S. 115–139, hier v.&nbsp;a. S. 134.</ref>


Der Veröffentlichung des ''Syllabus'' ging eine lange Vorbereitungszeit voraus. Konkreter Anlass waren aktuelle kirchliche und politische Entwicklungen. Durch die nationale Einigung Italiens, das [[Risorgimento]], ging der [[Kirchenstaat]] nach und nach verloren. Weitere Faktoren, auf die Pius reagierte, waren die Publikationen von [[Ernest Renan]] ([[Das Leben Jesu (Renan)|''Das Leben Jesu'']]), [[Charles de Montalembert]] und [[Ignaz von Döllinger]] im Jahr 1863.<ref>Giacomo Martina: ''Verso il sillabo. Il parere del barnabita Bilio sul discorso di Montalembert a Malines nell’Agosto 1863''. In: Archivum Historiae Pontificiae 36 (1998), S. 137–181</ref><ref>Hubert Wolf: ''Der „Syllabus errorum“ (1864) oder: Sind katholische Kirche und Moderne vereinbar?'' In: Manfred Weitlauff (Hrsg.): ''Kirche im 19. Jahrhundert''. Pustet, Regensburg 1998, S. 115–139, hier S. 127.</ref>
1. Es gibt kein höchstes, weisestes und über alles vorhersehendes göttliches Wesen, das von der Gesamtheit dieser Welt unterschieden wäre. Gott ist zugleich wie das Wesen der Dinge und daher Veränderungen unterworfen. In der Wirklichkeit ist Gott ein Werdender im Menschen und in der Welt. Alles ist Gott und besitzt seine eigene Wesenheit. Gott und die Welt sind ein und dieselbe Macht und Sache. Deshalb sind ebenfalls Geist und Materie, Notwendigkeit und Freiheit, Wahrheit und Falsches, Gutes und Böses, Recht und Unrecht ein und dasselbe.


== Beispiele von im Syllabus errorum verurteilten Thesen ==
2. Jede Einwirkung von Gott auf die Menschen und auf die Welt ist zu leugnen.
„3. Die menschliche Vernunft ist ohne irgend welche Rücksicht auf Gott der einzige Schiedsrichter zwischen Wahr und Falsch, Gut und Böse: sie ist sich selbst Gesetz und reicht hin, durch ihre natürlichen Kräfte das Wohl des Menschen und der Völker zu begründen.“<ref>''Die Encyclica seiner Heiligkeit des Papstes Pius IX. vom 8. Dezember 1864, der Syllabus (die Zusammenstellung der 80 hauptsächlichsten Irrthümer unserer Zeit) und die wichtigsten darin angeführten Aktenstücke.'' Bachem, Köln 1865, S. 24</ref>


„14. Die Philosophie muss ohne Rücksicht auf die übernatürliche Offenbarung betrieben werden.“<ref>Übersetzung von 1865, S. 28</ref>
3. Die menschliche Vernunft ist, ohne dass wir sie irgendwie auf Gott beziehen müssten, der einzige Richter über Wahrheit und Falsches, über Gut und Böse. Sie ist sich selbst Gesetz und mit ihrer natürlichen Kraft ausreichend, um das Wohl der Menschen und Völker zu sichern.


15. Es steht jedem Menschen frei, jene Religion anzunehmen und zu bekennen, welche er, durch das Licht der Vernunft geführt, für wahr hält.
„15. Es steht jedem Menschen frei, jene Religion anzunehmen und zu bekennen, welche er, durch das Licht seiner Vernunft geführt, für wahr hält.“<ref>Übersetzung von 1865, S. 24</ref>


16. Die Menschen können bei Übung jeder Religion den Weg des ewigen Heiles finden und die ewige Seligkeit erlangen.
„16. Die Menschen können bei der Uebung jeder Religion den Weg des ewigen Heils finden und die ewige Seligekeit erlangen.“<ref>Übersetzung von 1865, S. 28</ref>


„18. Der Protestantismus ist nichts anderes, als eine verschiedene Form derselben christlichen Religion, in welcher es eben so gut möglich ist, Gott zu gefallen, wie in der katholischen Kirche.“<ref>Übersetzung von 1865, S. 29</ref>
17. Wenigstens darf man gute Hoffnung hegen über die ewige Seligkeit aller, welche nicht in der wahren Kirche Christi leben.


„24. Die Kirche hat nicht die Macht, Gewaltmittel anzuwenden, noch irgend eine directe oder indirecte zeitliche Gewalt.“<ref>Übersetzung von 1865, S. 31</ref>
18. Der Protestantismus ist nichts anderes, als eine verschiedene Form derselben christlichen Religion, in welcher es ebenso gut möglich ist, Gott zu gefallen, wie in der katholischen Kirche.


„26. Die Kirche hat kein angeborenes und legitimes Recht auf Erwerb und Besitz.“<ref>Übersetzung von 1865, S. 33</ref>
20. Die kirchliche Gewalt darf ihre Autorität ohne Erlaubnis und Zustimmung der staatlichen Gewalt nicht ausüben (Verweis auf die Allokution ''[[Meminit unusquisque]]'').


„45. Die ganze Leitung der öffentlichen Schulen, in denen die Jugend eines christlichen Staates erzogen wird, nur die bischöflichen Seminarien in einiger Beziehung ausgenommen, kann und muß der Staatsgewalt zugewiesen werden, und zwar so, daß keines andern Autorität irgend ein Recht, sich in die Schulzucht, in die Anordnung der Studien, in die Verleihung der Grade und die Wahl oder Approbation der Lehrer zu mischen, zuerkannt werden kann.“<ref>Übersetzung von 1865, S. 36–37</ref>
39. Der Staat besitzt die Quelle und den Ursprung aller Rechte und von daher ein uneingeschränktes Recht.


„55. Die Kirche ist vom Staate, der Staat von der Kirche zu trennen.“<ref>Übersetzung von 1865, S. 40</ref>
60. Autorität bedeutet nichts anderes als der Inbegriff der Zahlenmenge und der Gesamtheit der materiellen Kräfte.


{{" |66. Das Sacrament der Ehe ist etwas bloß zu dem Vertrage Hinzukommendes und von ihm Trennbares, und das Sacrament selbst liegt einzig und allein in der ehelichen Einsegnung.
61. Eine erfolgreiche Ungerechtigkeit bringt der Heiligkeit des Rechts keinerlei Nachteile (Verweis auf die Allokution [[Iamdudum cernimus]]).


67. Nach dem Naturrecht ist das Eheband nicht unauflöslich und in verschiedenen Fällen kann die Ehescheidung im eigentlichen Sinne durch die weltlichen Behörden festgesetzt werden.}}<ref>Übersetzung von 1865, S. 43</ref>
62. Der sogenannte Grundsatz der Nichteinmischung muss verkündet und beachtet werden (Verweis auf die Allokution [[Novos et ante]]).


„76. Die Abschaffung der weltlichen Herrschaft, die der apostolische Stuhl besitzt, würde zur Freiheit und zum Glücke der Kirche sehr viel beitragen.“<ref>Übersetzung von 1865, S. 76</ref>
77. In unserer Zeit ist es nicht mehr nützlich, dass die katholische Religion unter Ausschluss aller anderen Kulte als einzige Staatsreligion gelte.


{{" |77. In unserer Zeit ist es nicht mehr nützlich, daß die katholische Religion unter Ausschluß aller andern Culte als einzige Staatsreligion gelte.
78. Es ist daher zu loben, dass in gewissen katholischen Ländern gesetzlich verordnet ist, dass den Einwanderern die öffentliche Ausübung ihres Kultes, welcher er auch sei, gestattet sein solle.


78. Es ist daher zu loben, daß in gewissen katholischen Ländern gesetzlich verordnet ist, daß den Einwanderern die öffentliche Ausübung ihres Cultes, welcher er auch sei, gestattet sein solle.}}<ref>Übersetzung von 1865, S. 47</ref>
79. Denn es ist falsch, dass die staatliche Freiheit für jeden Kult und die allen gewährte Befugnis, frei und öffentlich ihre Meinungen und Gedanken kundzugeben, dazu führt, Geist und Sitte der Völker zu verderben und zur Verbreitung der Seuche des Indifferentismus führen.


80. Der Römische Papst kann und muss sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der heutigen Zivilisation versöhnen und vereinigen (als Grundlage für diesen Punkt diente die vom 18. März 1861 stammende [[Allokution]] ''[[Iamdudum cernimus]]'', die sich ausführlich damit befasst).
„80. Der Römische Papst kann und muß sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der modernen Civilisation versöhnen und vergleichen.“<ref>Übersetzung von 1865, S. 48</ref>


== Rezeption ==
== Interpretation und Bedeutung ==
Der ''Syllabus errorum'' erregte eine ungewöhnlich große öffentliche Aufmerksamkeit.<ref>Hubert Wolf: ''Der „Syllabus errorum“ (1864) oder: Sind katholische Kirche und Moderne vereinbar?'' In: Manfred Weitlauff (Hrsg.): ''Kirche im 19. Jahrhundert''. Pustet, Regensburg 1998, S. 115–139, hier S. 128–133.</ref>
Der ''Syllabus errorum'' ist Gegenstand kontroverser Diskussionen, auch der heutige Richtungsstreit in der katholischen Kirche greift gelegentlich auf ihn zurück. Pius’ Nachfolger [[Leo XIII.]] schwächte in der Praxis einige Aussagen des Syllabus ab, etwa im Verhältnis zur [[Dritte Französische Republik|Dritten Französischen Republik]].<ref>Owen Chadwick: ''A History of the Popes, 1830–1914.'' Oxford University Press, Oxford 1973, S. 293–296.</ref> Mit dem [[Zweites Vatikanisches Konzil|Zweiten Vatikanischen Konzil]] wurden einige der Kernaussagen des ''Syllabus'' de facto verworfen, vor allem mit der Erklärung [[Dignitatis humanae]] über das Menschenrecht auf [[Religionsfreiheit]] aus dem Jahr 1965. Die traditionalistische [[Pius-Bruderschaft]] lehnt diese Entwicklung der Lehre ab und erkennt im Sinne des [[Integralismus]] insbesondere in den Sätzen 15–18 und 77–80 des Syllabus einen Grundriss antimoderner katholischer Weltanschauung. Diese Verurteilungen werden von den Traditionalisten als unabänderlicher Bestandteil katholischer Tradition aufgefasst.<ref>[http://universaar.uni-saarland.de/journals/index.php/tg_beihefte/article/viewFile/293/317 Christian Dahlke: ''Die Pius-Bruderschaft und das Zweite Vatikanische Konzil.'' universaar, Saarbrücken 2012].</ref>
Seine Inhalte wurden von großen Teilen der Öffentlichkeit abgelehnt, insbesondere auch in Frankreich und Deutschland. Aufgrund der negativen Reaktionen bemühten sich Anhänger von Pius IX. darum, die Aussagen durch Interpretation abzuschwächen.<ref>Tamara Bloch: ''Die Stellungnahmen der römisch-katholischen Amtskirche zur Frage der Menschenrechte seit 1215: eine historische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Gewährleistungen im CIC/1983'' (= ''Schriften zum Staatskirchenrecht'' Band 41) P. Lang, Frankfurt 2008, ISBN 978-3-631-56494-3, S. 96 [https://books.google.de/books?id=dre2g166838C Google Books]</ref> Dazu gehörte die Behauptung, der Papst habe nicht den Liberalismus, sondern nur dessen Exzesse verurteilen wollen. Weit verbreitet und vom Papst selbst geduldet wurde die Auslegung, die der Bischof von [[Orléans]], [[Félix Dupanloup]], dem ''Syllabus'' gab. Dupanloup unterschied zwischen der ''These'' und der ''Hypothese''<ref>Giacomo Martina: ''Pio IX: 1851–1866.'' Rom 1986, S. 352–356.</ref>: Wenn der ''Syllabus'' eine bestimmte These verurteilte, so folge daraus nicht, dass Katholiken keine Kompromisse eingehen durften (die Hypothese). Wenn der Syllabus zum Beispiel die These verurteilte, die Privilegierung des Katholizismus als Staatsreligion sei „nicht mehr nützlich“ (''Syllabus'', Nr. 77), dann müsse daraus nicht folgen, dass Katholiken die (Wieder-)Einführung des Katholizismus als Staatsreligion forderten; in Staaten, in denen sie eine größere Gruppe neben anderen Konfessionen und Religionen bilden, könnten sie sich demnach damit begnügen, gleiche Rechte für alle Religionen zu fordern. Das Ideal des Katholizismus als einziger öffentlich und frei ausübbarer Religion (die These im Sinne von Satz 77 des ''Syllabus'') wird so auf katholische Staaten begrenzt. Diese Unterscheidung von These und Hypothese wurde für die katholische Staatslehre bis hin zum [[Zweites Vatikanisches Konzil|Zweiten Vaticanum]] grundlegend.<ref>Rudolf Uertz: ''Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789–1965).'' Schöningh, Paderborn 2005, S. 110–118.</ref>


Auch Pius’ Nachfolger [[Leo XIII.]] schwächte in der Praxis einige Aussagen des Syllabus ab, etwa im Verhältnis zur [[Dritte Französische Republik|Dritten Französischen Republik]].<ref>Owen Chadwick: ''A History of the Popes, 1830–1914.'' Oxford University Press, Oxford 1973, S. 293–296.</ref> Mit dem [[Zweites Vatikanisches Konzil|Zweiten Vatikanischen Konzil]] wurden einige der Kernaussagen des ''Syllabus'' faktisch verworfen, vor allem mit der Erklärung ''[[Dignitatis humanae]]'' über das Menschenrecht auf [[Religionsfreiheit]] aus dem Jahr 1965. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil akzeptiert die Kirche, dass ein staatliches Gemeinwesen z.&nbsp;B. auf den Sätzen 15, 77, 78 aufbaut, während die Glaubensüberzeugung des [[Katholizismus]] die allgemeingültige Wahrheit des Satzes 16 weiterhin zurückweist. Die traditionalistische [[Pius-Bruderschaft]] lehnt diese Entwicklung der Lehre ab und erkennt im Sinne des [[Integralismus]] insbesondere in den Sätzen 15–18 und 77–80 des ''Syllabus'' einen Grundriss antimoderner katholischer Weltanschauung. Diese Verurteilungen werden von den Traditionalisten als unabänderlicher Bestandteil katholischer Tradition aufgefasst.<ref>[http://universaar.uni-saarland.de/journals/index.php/tg_beihefte/article/viewFile/293/317 Christian Dahlke: ''Die Pius-Bruderschaft und das Zweite Vatikanische Konzil.'' universaar, Saarbrücken 2012].</ref>
Durch die Verwerfung beispielsweise des Satzes 39 oder auch des Satzes 60, die sich damals gegen Eingriffe der Nationalstaaten in das [[Kirchliches Selbstbestimmungsrecht|kirchliche Selbstbestimmungsrecht]] richtete, stand seit seinem Auftreten nach dem [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieg]] auch der politische [[Totalitarismus]] außerhalb der Grenzen der katholischen Lehre. Später wurden daher der [[Kommunismus]], der [[Nationalsozialismus]], der italienische [[Italienischer Faschismus|Faschismus]] und die [[Action française]] verurteilt. Aus heutiger Sicht gilt die Abgrenzung gegen den Totalitarismus als bleibender Wert. Von dieser Abgrenzung nicht betroffen war der autoritäre [[Korporatismus]] sowie die diktatorische Staatsform an sich ([[Austrofaschismus|Ständestaat in Österreich]], [[Franquismus|Franquismus in Spanien]], [[Estado Novo (Portugal)|Estado Novo in Portugal]] usw.), der die katholische Kirche erst seit dem Zweiten Weltkrieg (Weihnachtsansprache des Papstes Pius XII.), der Enzyklika [[Pacem in terris (Enzyklika)|Pacem in terris]] von 1963 und der Konzilskonstitution [[Gaudium et spes]] von 1965 ablehnend gegenübersteht.
== Offiziöse Übersetzung von 1865 ==

* ''Die Encyclica seiner Heiligkeit des Papstes Pius IX. vom 8. Dezember 1864, der Syllabus (die Zusammenstellung der 80 hauptsächlichsten Irrthümer unserer Zeit) und die wichtigsten darin angeführten Aktenstücke.'' Bachem, Köln 1865. ([https://archive.org/details/dieencyclicasei00ixgoog/page/n79/mode/1up archive.org])
Hinsichtlich der Interpretation ist zu beachten, dass kirchliche Lehrverurteilungen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorzugsweise das Schema der Verwerfung bestimmter Sätze befolgten. Diese juristische Methode provoziert jedoch Missverständnisse, wenn die an Fachtheologen adressierten Urteile von breiteren Kreisen interpretiert werden. Denn diese kontradiktorischen Urteile enthalten nach dem Selbstverständnis der Kirche keine Aussage über die Richtigkeit des Gegenteils. Die „konträren“ Sätze werden also nicht „positiv“ gelehrt. Beispielsweise untersagt Satz 80 nicht den Dialog mit der modernen Welt und verbietet nicht jedwede Anpassung an jeden erdenklichen Fortschritt. Satz 80 formulierte eine Abwehr gegen Fortschritt und Liberalismus der Jahre um 1864. Das [[Papsttum]] war nicht bereit, sich dem Vorrang der Politik zu unterwerfen. Das ist der bleibende Inhalt des päpstlichen Selbstverständnisses, das sich im 19. Jahrhundert unversöhnlich äußerte, sich ab der Enzyklika [[Rerum Novarum]] von 1891 aber der Not der Zeit zuwandte.

Insgesamt wehrte sich Papst Pius IX., damals noch Monarch im Kirchenstaat, gegen Eingriffe des modernen Staates in einen Bereich, der aus seiner Sicht ausschließlich kirchlicher Autorität untersteht.

Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil akzeptiert die Kirche, dass ein staatliches Gemeinwesen z.&nbsp;B. auf den Sätzen 15, 77, 78 aufbaut, während die Glaubensüberzeugung des [[Katholizismus]] die allgemeingültige Wahrheit des Satzes 16 weiterhin zurückweist. Die Sätze 77–80 setzten das Konzept des katholischen Staates voraus. Ist dieses nicht mehr tragfähig, so fordern sie nicht dessen Wiedereinrichtung. Denn insgesamt widmete sich der ''Syllabus'' den Zeitirrtümern der damaligen Zeit, insbesondere ihren Auswirkungen auf das Verhältnis von Staat und Kirche. Er verwirft aber keine „ewigen Irrtümer“. Aus heutiger Sicht kann dem ''Syllabus'' kein Grundriss des katholischen Weltbildes insgesamt entnommen werden, vielmehr markiert diese Äußerung zum Verhältnis von Kirche und Staat, Religion und Gesellschaft den Anfangspunkt, der zur Ausarbeitung einer katholischen [[Soziallehre]] geführt hat.


== Literatur ==
== Literatur ==
* {{Literatur
* [[Hubert Wolf (Theologe)|Hubert Wolf]]: ''Der „Syllabus errorum“ (1864) oder: Sind katholische Kirche und Moderne vereinbar?'' In: [[Manfred Weitlauff]] (Hg.): ''Kirche im 19. Jahrhundert''. Pustet, Regensburg 1998, ISBN 3-7917-1620-4, S. 115–139.
|Autor=[[Hubert Wolf (Theologe)|Hubert Wolf]]

|Hrsg=[[Manfred Weitlauff]]
== Weblinks ==
|Titel=Der „Syllabus errorum“ (1864) oder: Sind katholische Kirche und Moderne vereinbar?
* [http://www.domus-ecclesiae.de/magisterium/syllabus-errorum.teutonice.html Syllabus errorum]
|Sammelwerk=Kirche im 19. Jahrhundert
|Verlag=Pustet
|Ort=Regensburg
|Datum=1998
|ISBN=3-7917-1620-4
|Seiten=115–139}}


== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==
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[[Kategorie:Geschichte der römisch-katholischen Kirche]]
[[Kategorie:Geschichte der römisch-katholischen Kirche]]
[[Kategorie:Politischer Katholizismus]]
[[Kategorie:Politischer Katholizismus]]
[[Kategorie:Verzeichnis]]
[[Kategorie:Verzeichnis (Religion)]]
[[Kategorie:Pius IX.]]
[[Kategorie:Pius IX.]]
[[Kategorie:Religion 1864]]
[[Kategorie:Religion 1864]]

Aktuelle Version vom 15. Februar 2024, 13:36 Uhr

Der Syllabus errorum (griechisch-lateinisch „Verzeichnis der Irrtümer“) ist eine Liste von 80 Thesen, die von Papst Pius IX. als falsch verurteilt wurden. Der Syllabus errorum wurde aus älteren Schreiben des Papstes zusammengestellt und als Anhang zur Enzyklika Quanta cura vom 8. Dezember 1864 veröffentlicht. Er ist ein wichtiges Dokument für die kirchliche Ablehnung der Religionsfreiheit, der Trennung von Kirche und Staat, der Demokratie, der Wissenschaftsfreiheit und anderer, meist als Folgen der Aufklärung gesehenen Ideen.

Der Syllabus ist in zehn Paragraphen aufgeteilt (in Klammern jeweils die Nummern der dazugehörigen Thesen):

  • § 1: Pantheismus, Naturalismus und absoluter Rationalismus (1–7)
  • § 2: Gemäßigter Rationalismus (8–14)
  • § 3: Indifferentismus, Latitudinarismus (15–18)
  • § 4: Sozialismus, Kommunismus, geheime Gesellschaften, Bibelgesellschaften, liberale Kleriker-Vereine (keine Thesen, stattdessen Verweise auf: Enzyklika Qui pluribus (9. November 1846), apostolische Ansprache Quibus quantisque (20. April 1849), Enzyklika Nostis et nobiscum (8. Dezember 1849), apostolische Ansprache Singulari quadam (9. Dezember 1854), Enzyklika Quanto conficiamur moerore (10. August 1863))
  • § 5: Irrtümer über die Kirche und ihre Rechte (19–38)
  • § 6: Irrtümer über die bürgerliche Gesellschaft sowohl an sich, als auch in ihren Beziehungen zur Kirche (39–55)
  • § 7: Irrtümer über das natürliche und christliche Sittengesetz (56–64)
  • § 8: Irrtümer über die christliche Ehe (65–74 und Verweis auf die Enzyklika Qui pluribus)
  • § 9: Irrtümer über die staatliche Herrschaft des römischen Papstes (75–76 und Verweise)
  • § 10: Irrtümer, welche sich auf den Liberalismus unserer Tage beziehen (77–80)

Inhalt (Übersicht)

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Der Syllabus errorum ist ein Exzerpt aus vorangegangenen Enzykliken, Ansprachen, Briefen und apostolischen Schreiben von Pius IX. Die hier zusammengestellten Thesen haben sehr unterschiedlichen Gehalt. Nur ein Teil der verurteilten Aussagen sind im engeren Sinne Thesen, wie sie 1864 innerhalb philosophischer oder theologischer Debatten vertreten wurden. Eine Reihe von Thesen betreffen politische Maßnahmen, die zur Zeit Pius IX. stattfanden oder gefordert wurden, so die Religionsfreiheit, die Trennung von Kirche und Staat, die Zivilehe (und der Möglichkeit der Scheidung von standesamtlich geschlossenen Ehen), das staatliche Schulwesen, die Einmischung des Staates in Besetzung von Bistümern und Abschaffung des Kirchenstaates. Andere Thesen sind eher auf Ideen bezogen, die im weiteren Sinne der Aufklärung bzw. (wie in der Schlussthese formuliert) dem „Fortschritt, dem Liberalismus und der modernen Civilisation“ zugerechnet werden.[1]

Historischer Kontext

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Der Syllabus ist ein Dokument des gespaltenen Verhältnisses zwischen Katholizismus und Moderne, das seit der Französischen Revolution für innerkirchliche Kontroversen und für Konflikte zwischen Kirche und ihrer Umwelt (unter anderem im Kulturkampf) gesorgt hatte. Pius IX. bezog in diesen Kontroversen Stellung zugunsten einer die Moderne ablehnenden kirchlichen Partei.[2]

Der Veröffentlichung des Syllabus ging eine lange Vorbereitungszeit voraus. Konkreter Anlass waren aktuelle kirchliche und politische Entwicklungen. Durch die nationale Einigung Italiens, das Risorgimento, ging der Kirchenstaat nach und nach verloren. Weitere Faktoren, auf die Pius reagierte, waren die Publikationen von Ernest Renan (Das Leben Jesu), Charles de Montalembert und Ignaz von Döllinger im Jahr 1863.[3][4]

Beispiele von im Syllabus errorum verurteilten Thesen

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„3. Die menschliche Vernunft ist ohne irgend welche Rücksicht auf Gott der einzige Schiedsrichter zwischen Wahr und Falsch, Gut und Böse: sie ist sich selbst Gesetz und reicht hin, durch ihre natürlichen Kräfte das Wohl des Menschen und der Völker zu begründen.“[5]

„14. Die Philosophie muss ohne Rücksicht auf die übernatürliche Offenbarung betrieben werden.“[6]

„15. Es steht jedem Menschen frei, jene Religion anzunehmen und zu bekennen, welche er, durch das Licht seiner Vernunft geführt, für wahr hält.“[7]

„16. Die Menschen können bei der Uebung jeder Religion den Weg des ewigen Heils finden und die ewige Seligekeit erlangen.“[8]

„18. Der Protestantismus ist nichts anderes, als eine verschiedene Form derselben christlichen Religion, in welcher es eben so gut möglich ist, Gott zu gefallen, wie in der katholischen Kirche.“[9]

„24. Die Kirche hat nicht die Macht, Gewaltmittel anzuwenden, noch irgend eine directe oder indirecte zeitliche Gewalt.“[10]

„26. Die Kirche hat kein angeborenes und legitimes Recht auf Erwerb und Besitz.“[11]

„45. Die ganze Leitung der öffentlichen Schulen, in denen die Jugend eines christlichen Staates erzogen wird, nur die bischöflichen Seminarien in einiger Beziehung ausgenommen, kann und muß der Staatsgewalt zugewiesen werden, und zwar so, daß keines andern Autorität irgend ein Recht, sich in die Schulzucht, in die Anordnung der Studien, in die Verleihung der Grade und die Wahl oder Approbation der Lehrer zu mischen, zuerkannt werden kann.“[12]

„55. Die Kirche ist vom Staate, der Staat von der Kirche zu trennen.“[13]

„66. Das Sacrament der Ehe ist etwas bloß zu dem Vertrage Hinzukommendes und von ihm Trennbares, und das Sacrament selbst liegt einzig und allein in der ehelichen Einsegnung.

67. Nach dem Naturrecht ist das Eheband nicht unauflöslich und in verschiedenen Fällen kann die Ehescheidung im eigentlichen Sinne durch die weltlichen Behörden festgesetzt werden.“[14]

„76. Die Abschaffung der weltlichen Herrschaft, die der apostolische Stuhl besitzt, würde zur Freiheit und zum Glücke der Kirche sehr viel beitragen.“[15]

„77. In unserer Zeit ist es nicht mehr nützlich, daß die katholische Religion unter Ausschluß aller andern Culte als einzige Staatsreligion gelte.

78. Es ist daher zu loben, daß in gewissen katholischen Ländern gesetzlich verordnet ist, daß den Einwanderern die öffentliche Ausübung ihres Cultes, welcher er auch sei, gestattet sein solle.“[16]

„80. Der Römische Papst kann und muß sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der modernen Civilisation versöhnen und vergleichen.“[17]

Der Syllabus errorum erregte eine ungewöhnlich große öffentliche Aufmerksamkeit.[18] Seine Inhalte wurden von großen Teilen der Öffentlichkeit abgelehnt, insbesondere auch in Frankreich und Deutschland. Aufgrund der negativen Reaktionen bemühten sich Anhänger von Pius IX. darum, die Aussagen durch Interpretation abzuschwächen.[19] Dazu gehörte die Behauptung, der Papst habe nicht den Liberalismus, sondern nur dessen Exzesse verurteilen wollen. Weit verbreitet und vom Papst selbst geduldet wurde die Auslegung, die der Bischof von Orléans, Félix Dupanloup, dem Syllabus gab. Dupanloup unterschied zwischen der These und der Hypothese[20]: Wenn der Syllabus eine bestimmte These verurteilte, so folge daraus nicht, dass Katholiken keine Kompromisse eingehen durften (die Hypothese). Wenn der Syllabus zum Beispiel die These verurteilte, die Privilegierung des Katholizismus als Staatsreligion sei „nicht mehr nützlich“ (Syllabus, Nr. 77), dann müsse daraus nicht folgen, dass Katholiken die (Wieder-)Einführung des Katholizismus als Staatsreligion forderten; in Staaten, in denen sie eine größere Gruppe neben anderen Konfessionen und Religionen bilden, könnten sie sich demnach damit begnügen, gleiche Rechte für alle Religionen zu fordern. Das Ideal des Katholizismus als einziger öffentlich und frei ausübbarer Religion (die These im Sinne von Satz 77 des Syllabus) wird so auf katholische Staaten begrenzt. Diese Unterscheidung von These und Hypothese wurde für die katholische Staatslehre bis hin zum Zweiten Vaticanum grundlegend.[21]

Auch Pius’ Nachfolger Leo XIII. schwächte in der Praxis einige Aussagen des Syllabus ab, etwa im Verhältnis zur Dritten Französischen Republik.[22] Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurden einige der Kernaussagen des Syllabus faktisch verworfen, vor allem mit der Erklärung Dignitatis humanae über das Menschenrecht auf Religionsfreiheit aus dem Jahr 1965. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil akzeptiert die Kirche, dass ein staatliches Gemeinwesen z. B. auf den Sätzen 15, 77, 78 aufbaut, während die Glaubensüberzeugung des Katholizismus die allgemeingültige Wahrheit des Satzes 16 weiterhin zurückweist. Die traditionalistische Pius-Bruderschaft lehnt diese Entwicklung der Lehre ab und erkennt im Sinne des Integralismus insbesondere in den Sätzen 15–18 und 77–80 des Syllabus einen Grundriss antimoderner katholischer Weltanschauung. Diese Verurteilungen werden von den Traditionalisten als unabänderlicher Bestandteil katholischer Tradition aufgefasst.[23]

Offiziöse Übersetzung von 1865

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  • Die Encyclica seiner Heiligkeit des Papstes Pius IX. vom 8. Dezember 1864, der Syllabus (die Zusammenstellung der 80 hauptsächlichsten Irrthümer unserer Zeit) und die wichtigsten darin angeführten Aktenstücke. Bachem, Köln 1865. (archive.org)

Einzelnachweise

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  1. Übersetzung von 1865, S. 48
  2. Hubert Wolf: Der „Syllabus errorum“ (1864) oder: Sind katholische Kirche und Moderne vereinbar? In: Manfred Weitlauff (Hrsg.): Kirche im 19. Jahrhundert. Pustet, Regensburg 1998, S. 115–139, hier v. a. S. 134.
  3. Giacomo Martina: Verso il sillabo. Il parere del barnabita Bilio sul discorso di Montalembert a Malines nell’Agosto 1863. In: Archivum Historiae Pontificiae 36 (1998), S. 137–181
  4. Hubert Wolf: Der „Syllabus errorum“ (1864) oder: Sind katholische Kirche und Moderne vereinbar? In: Manfred Weitlauff (Hrsg.): Kirche im 19. Jahrhundert. Pustet, Regensburg 1998, S. 115–139, hier S. 127.
  5. Die Encyclica seiner Heiligkeit des Papstes Pius IX. vom 8. Dezember 1864, der Syllabus (die Zusammenstellung der 80 hauptsächlichsten Irrthümer unserer Zeit) und die wichtigsten darin angeführten Aktenstücke. Bachem, Köln 1865, S. 24
  6. Übersetzung von 1865, S. 28
  7. Übersetzung von 1865, S. 24
  8. Übersetzung von 1865, S. 28
  9. Übersetzung von 1865, S. 29
  10. Übersetzung von 1865, S. 31
  11. Übersetzung von 1865, S. 33
  12. Übersetzung von 1865, S. 36–37
  13. Übersetzung von 1865, S. 40
  14. Übersetzung von 1865, S. 43
  15. Übersetzung von 1865, S. 76
  16. Übersetzung von 1865, S. 47
  17. Übersetzung von 1865, S. 48
  18. Hubert Wolf: Der „Syllabus errorum“ (1864) oder: Sind katholische Kirche und Moderne vereinbar? In: Manfred Weitlauff (Hrsg.): Kirche im 19. Jahrhundert. Pustet, Regensburg 1998, S. 115–139, hier S. 128–133.
  19. Tamara Bloch: Die Stellungnahmen der römisch-katholischen Amtskirche zur Frage der Menschenrechte seit 1215: eine historische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Gewährleistungen im CIC/1983 (= Schriften zum Staatskirchenrecht Band 41) P. Lang, Frankfurt 2008, ISBN 978-3-631-56494-3, S. 96 Google Books
  20. Giacomo Martina: Pio IX: 1851–1866. Rom 1986, S. 352–356.
  21. Rudolf Uertz: Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789–1965). Schöningh, Paderborn 2005, S. 110–118.
  22. Owen Chadwick: A History of the Popes, 1830–1914. Oxford University Press, Oxford 1973, S. 293–296.
  23. Christian Dahlke: Die Pius-Bruderschaft und das Zweite Vatikanische Konzil. universaar, Saarbrücken 2012.