„Psychophysischer Parallelismus“ – Versionsunterschied

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{{Zitat|Die Seelen agieren gemäß der Finalursachen […]. Die Körper agieren gemäß der Effektursachen […]. Die beiden Reiche, dasjenige der Effektursachen und dasjenige der Finalursachen, sind miteinander harmonisch.|Gottfried Wilhelm Leibniz|''Monadologie'' § 79.|ref=<ref>Zitiert und übersetzt nach Carl Immanuel Gerhardt (Hrsg.): ''Die Philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz.'' Bd.&nbsp;6, Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1885, S.&nbsp;620.</ref>}} Mit dem Begriff der Harmonie grenzt sich Leibniz von dem ebenfalls parallelistischen Lösungsvorschlag des später sogenannten [[Okkasionalismus|Okkasionalismus’]] ''(systema causarum occasionalium)'' ab und stellt ihm sein „System der [[Prästabilierte Harmonie|präetablierten Harmonie]]“ gegenüber.<ref>Gottfried Wilhelm Leibniz: ''Essais de Théodicée etc.'' I, §&nbsp;59. Verlag François Daniël Changuion, Amsterdam 1710, zit. n. Carl Immanuel Gerhardt (Hrsg.): ''Die Philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz.'' Bd.&nbsp;6, Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1885, S.&nbsp;135.</ref> Nach Leibniz versuche der Okkasionalismus die cartesische Psychologie durch die Annahme einer gelegentlichen (okkasionellen) Assistenz Gottes ''([[concursus dei]])'' zu retten. Diese Position laufe darauf hinaus, dass die Parallelität der Phänomenbereiche im Falle einer Abweichung voneinander quasi wie durch ein ständiges göttliches Wunder ''([[deus ex machina]])'' wieder hergestellt werde. Diese Annahme eines nachträglichen Eingriffs Gottes in das Weltgeschehen verstoße jedoch gegen die allseits anerkannte Vollkommenheit Gottes und seiner Schöpfung. Denn wenn Gott seine eigene Schöpfung korrigieren müsse, dann könne er nicht mehr als vollkommen gelten, da er seine eigene Schöpfung auch hätte besser machen können.<ref>Gottfried Wilhelm Leibniz: ''Extrait d’une lettre de M. Leibniz sur son Hypothèse de Philosophie etc.'' In: ''Journal des Sçavans.'' Paris 1696, S.&nbsp;451–455.</ref><ref>Vgl. Dirk Evers: ''Gottes Wahl der besten aller möglichen Welten.'' In: Hubertus Busche (Hrsg.): ''Gottfried Wilhelm Leibniz – Monadologie.'' Akademie Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-05-004336-4, S.&nbsp;129–143.</ref>
 
Allerdings steht der Okkasionalist [[Arnold Geulincx]] dem leibnizschen Parallelismus weitaus näher als dies Leibniz selbst sieht. Dessen berühmtes [[Uhrengleichnis]], das Leibniz zur Veranschaulichung seiner eigenen Position wohl aus Unkenntnis ohne Quellenangabe mehrfach anführt, läuft gleichfalls darauf hinaus, dass Gott im Vorhinein die verschiedenen Phänomenbereiche parallelisiert habe.<ref>Rainer Specht: ''Commercium mentis et corporis. Über Kausalvorstellungen im Cartesianismus.'' Friedrich Frommann Verlag (Günther Holzboog), Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, S.&nbsp;172–175.</ref> Leibniz war deswegen bereits früh mit dem Vorwurf des [[Plagiat]]s und der Konstruktion eines [[Strohmann-Argument]]s konfrontiert.<ref>[[Simon Foucher]]: ''Réponse de M.S.F. à M. de L.B.Z. sur son nouveau systême etc.'' In: ''Journal des Sçavans.'' Paris 1696, S.&nbsp;422–426.</ref><ref>Vgl. Eduard Zeller: ''Über die erste Ausgabe von Geulincx’ Ehtic und Leibniz’ Verhältnis zu Geulincx’ Occasionalismus.'' In: ''Sitzungsbericht der [[Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin|Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin]].'' Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1884, S.&nbsp;673–695.</ref> Im Unterschied zum Parallelismus geulincxscher Provenienz lehnt Leibniz jedoch die substantielle Unterscheidung der verschiedenen Phänomenbereiche strikt ab.<ref>Raphael Borchers: ''Zum substanzdualistischen Missverständnis der leibnizschen hypothèse des accords.'' In: ''[[Philosophisches Jahrbuch]].'' Jg.&nbsp;123, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2016, S.&nbsp;38–57.</ref> Während der geulincxsche Parallelismus dem cartesischen Substanzdualismus verpflichtet bleibt, spricht sich Leibniz explizit gegen die cartesische Unterscheidung einer psychischen ''(res cogitans)'' und einer physischen Substanz ''(res extensa)'' aus und plädiert dafür, die psychischen und physischen Phänomene als verschiedene [[Perspektivismus|Perspektiven]] auf bloß einen Seinsbereich zu verstehen.<ref>Stefan Heßbrüggen-Walter, Ansgar Lyssy: ''Maschinen der Kunst, Maschinen der Natur (§&nbsp;63–76).'' In: Hubertus Busche (Hrsg.): ''Gottfried Wilhelm Leibniz – Monadologie.'' Akademie Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-05-004336-4, S.&nbsp;175–195.</ref> Statt zweier Ereignisfolgen, die unabhängig voneinander, substantiell verschieden und parallel nebeneinander ablaufen würden, wie es Geulincx annimmt, geht der leibnizsche Parallelismus von zwei ineinander greifenden Reichen bzw. Perspektiven auf die Welt aus. Hierfür bemüht Leibniz die Metapher eines „[[Staat im Staate|imperium in imperio]]“,<ref>Gottfried Wilhelm Leibniz: ''Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum'' II, § 64. Zitiert nach Carl Immanuel Gerhardt (Hrsg.): ''Die Philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz.'' Bd.&nbsp;4, Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1880, S.&nbsp;391.</ref> die bei ihm den Sinn hat, dass jeder Effektursache eine Finalursache entspricht. Damit gilt Leibniz neben [[Baruch de Spinoza]] als ein maßgeblicher Vorläufer moderner [[Identitätstheorie (Philosophie des Geistes)|Identitätstheorien]].<ref>Pirmin Stekeler-Weithofer: ''Das monadologische Strukturmodell der Welt. Leibniz zwischen Descartes und Kant.'' In: [[Herta Nagl-Docekal]] (Hrsg.): ''Leibniz heute lesen.'' Verlag Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2018, S.&nbsp;25–53.</ref>
 
Im 18. Jahrhundert wurde Leibniz’ These der Parallelität des Psychischen und Physischen besonders im deutschsprachigen Raum durch [[Christian Wolff (Aufklärer)|Christian Wolff]] popularisiert und fand eine weite Verbreitung. Einflussreich wurde die „Leibniz’-Wolffsche-Lehre“ dann von Immanuel Kant einer Kritik unterzogen. Sie drückt sich bereits in seiner Bezeichnung „Prästabilism“<ref>[[Immanuel Kant]]: ''[[Kritik der Urteilskraft]].'' Verlag Lagarde & Friedrich, Berlin & Libau, 1790, §&nbsp;81. Zitiert nach ''Kant’s Gesammelte Schriften'' (Akademie-Ausgabe). Bd.&nbsp;5, herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1913, S.&nbsp;422.</ref> aus, die sich an Leibniz’ lateinische Bezeichnung „[[prästabilierte Harmonie]]“ anlehnt. Kant prägte damit sehr erfolgreich ein Verständnis, wonach Leibniz’ Parallelismus einem strengen Kausaldeterminismus unterliege, der der Willensfreiheit des Menschen entgegenstehe. Obwohl Leibniz sein System durchaus selbst als „deterministisch“ kennzeichnete, vertrat er zeitlebens vehement den Standpunkt, dass der Mensch trotz göttlicher Determination seine Freiheit deswegen keineswegs verliere. Seine hierfür getroffene Unterscheidung zwischen „[[Fatalismus]]“ als Theorie einer absoluten Notwendigkeit aller Weltereignisse und „Determinismus“ als Theorie einer bloß hypothetischen Notwendigkeit aller Weltereignisse ist ein zentrales Thema des von ihm sogenannten [[Theodizee]]-Problems.<ref>Gottfried Wilhelm Leibniz: ''Von der Allmacht und Allwissenheit Gottes und der Freiheit des Menschen.'' Zitiert nach Willy Kabitz (Hrsg.): ''Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe.'' Reihe VI, Bd.&nbsp;1, [[Akademie-Verlag]], Berlin 1930, S.&nbsp;537–546.</ref> Das Leib-Seele-Problem und die These der Parallelität des Psychischen und Physischen wird von Leibniz daher auch lediglich als ein Teilproblem dieses umfassenderen Problems diskutiert. Die Einengung der präetablierten Harmonie auf eine erst gegen Ende des 19.&nbsp;Jahrhunderts sogenannte psychophysische Parallelität blendet daher aus, dass Leibniz’ Parallelismus eine weitaus umfassendere Absicht verfolgt, als bloß ein Lösungsvorschlag für das Leib-Seele-Problem zu sein.<ref>Hans Poser: ''Gottfried Wilhelm Leibniz zur Einführung.'' Junius Verlag, Hamburg 2005, S.&nbsp;26–42.</ref>