Kreuzung (Bahn) und Linguistische Wende: Unterschied zwischen den Seiten
Änderung 76082794 von 213.238.41.87 wurde rückgängig gemacht. |
Ca$e (Diskussion | Beiträge) |
||
Zeile 1: | Zeile 1: | ||
Die '''linguistische Wende''' (engl.: '''linguistic turn''') wird auch als '''sprachkritische Wende''', als '''sprachanalytische Wende''' oder als '''Wende zur Sprache''' bezeichnet. Sie steht dafür, dass die Verständigung über sprachliche Vermittlungsformen ins Zentrum der Forschungsbemühungen gestellt wurde. Diesen Fokus vertraten insb. seit Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Fachvertreter in [[Philosophie]], [[Literaturwissenschaft]] und [[Linguistik]], wobei die Auswirkungen die meisten anderen [[Geisteswissenschaft|Geistes-]] und [[Sozialwissenschaft]]en einschlossen. Der Ausdruck ‚linguistic turn’ wurde geprägt durch [[Gustav Bergmann]] und bekannt durch eine [[1967]] von [[Richard Rorty]] herausgegebene gleichnamige Anthologie.<ref>Rorty 1967, S. 9 der Verweis auf Bergmann.</ref> |
|||
[[Bild:Mannheim-Friedrichsfeld-1900.jpg|thumb|Höhenfreie Kreuzung [[Mannheim-Friedrichsfeld]]]] |
|||
Unter '''Kreuzung''' versteht man bei der [[Eisenbahn]]: |
|||
* die ''höhenfreie Kreuzung zweier [[Eisenbahnstrecke]]n oder [[Gleis]]e'' auf unterschiedlichem Niveau mit Hilfe eines ''[[Überwerfungsbauwerk|Kreuzungsbauwerkes]]'' |
|||
* die ''höhengleiche Gleiskreuzung zweier Eisenbahngleise'' mit Hilfe besonderer Gleiskonstruktionen |
|||
* die ''Zugkreuzung'' auf eingleisiger Eisenbahnstrecke. |
|||
== |
== Philosophische Grundlagen == |
||
Als „sprachbezogene Wende“ bezeichnet man in der [[Philosophie]] eine Entwicklung hauptsächlich des [[20. Jahrhundert]]s, die mit einer verstärkten Hinwendung zur [[Sprache]], d.h. der Verwendung und Bedeutung sprachlicher Äußerungen, einhergeht. Viele Vertreter des linguistic turn hatten das Forschungsprogram, nicht mehr „[[Ding an sich|Dinge an sich]]“ zu untersuchen, sondern die sprachlichen Bedingungen zu analysieren, wie von Dingen gesprochen wird. (Man kann für diese Wende eine Parallele zu derjenigen Kants behaupten: Kants "[[Kopernikanische Wende]]" untersichte nicht mehr Dinge an sich selbst, sondern Bedingungen, sie zu erkennen, die in der Struktur der Vernunft liegen. An die Stelle der [[Metaphysik]] als erster Philosophie treten Strukturen des Geistes (lat. mens), weshalb einige Autoren<ref>Das Schema wird u.a. bei [[Herbert Schnädelbach]] gebraucht; für Stellennachweise und Kritik daran vgl. z.B. Claus Zittel: ''Theatrum philosophicum'': Descartes und die Rolle ästhetischer Formen in der Wissenschaft, Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 22, Akademie Verlag, Berlin 2009, ISBN 3050040505, S. 29ff et passim.</ref> von einem "mentalistischen [[Paradigma]]" sprechen, bei Vertretern des ''linguistic turn'' von einem "linguistischen Paradigma": Erfahrung ist zunächst einmal je sprachlich vermittelt.) |
|||
[[Bild:Gleiskreuzung01.jpg|thumb|right|Gleiskreuzung]] |
|||
[[Bild:Tolono Xing 1.jpg|thumb|Gleiskreuzung in Illinois / USA]] |
|||
[[Bild:Flachkreuzung.jpg|thumb|right|Flachkreuzung mit beweglichen Doppelherzstückspitzen]] |
|||
Als ''Kreuzungsbauwerk'' bezeichnet man eine Eisenbahnbrücke, die eine andere Eisenbahnstrecke oder ein Gleis überquert. Kreuzt die Brücke eine Straße, einen Weg oder einen Platz, spricht man von einer [[Eisenbahnüberführung]]. Der Vorteil der höhenfreien Kreuzung mit Hilfe eines Kreuzungsbauwerkes liegt darin, dass sich die Schienenfahrzeuge auf beiden Eisenbahnstrecken oder -gleisen nicht gegenseitig behindern oder gefährden können. |
|||
Ein anschauliches Beispiel für die Hinwendung zur Sprache bietet die [[Metaethik]] von [[George Edward Moore]]. Dabei wird nicht das Wsen des [[Das Gute|Guten]] diskutiert, sondern das des sprachlichen Ausdrucks "gut": Zählt dieses Wort zu den Worten, welche Handlungen empfehlen oder vorschreiben (sog. [[präskriptiv]]e Ausdrücke)? Oder ist es beschreibend ("[[deskriptiv]]")? Drückt "Menschen ist Notlagen zu helfen ist gut" eine Pflicht oder eine Handlungsbewertung aus, oder eine Beschreibung: Nothilfe hat nützliche Effekte? Moore unterscheidet beide Redeweisen derart, dass von beschreibenden Aussagen nie ein Schluss auf vorschreibende Aussagen erlaubt sei. („[[George Edward Moore#Der naturalistische Fehlschluss|naturalistischer Fehlschluss]]“) Weil in derartigen Analysen nicht Einzelfragen der [[Normative Ethik|normativen Ethik]] diskutiert werden, sondern die Aussageweisen bei der Diskussion ethischer Fragen selbst analysiert werden, spricht man von "Metaethik". Die Zunahme von Publikationen zur Metaethik ist zeitlich ungefähr parallel zur Zuwendung zur Sprache überhaupt. |
|||
== Gleiskreuzung == |
|||
Besondere [[Gleis]]konstruktionen ermöglichen [[Schienenfahrzeug]]en das niveaugleiche Überqueren eines anderen, quer verlaufenden Gleises ohne Fahrtunterbrechung, jedoch können die beiden [[Fahrweg]]e nicht gleichzeitig befahren werden. Das höhengleiche Kreuzen zweier Gleise ist mit folgenden Einrichtungen möglich: |
|||
* '''Gleiskreuzung''' ohne bewegliche Teile. Sie ist robust und in der Herstellung und Vorhaltung besonders kostengünstig, beeinträchtigt infolge der nicht vermeidbaren Gleislücken im kreuzenden Gleis aber deutlich den Fahrkomfort. Eine Gleiskreuzung ohne bewegliche Teile funktioniert nur, wenn sich die Gleise in nicht allzu spitzem [[Winkel]] kreuzen. |
|||
* '''Kreuzung mit Flachrillen-Herzstücken'''. Sie ist hauptsächlich bei [[Straßenbahn]]en zu finden. Hierbei werden die Fahrzeugräder durch den Einsatz von [[Eisenbahnweiche#Herzstücke mit Flachrille|Flachrillen]] auf ihren [[Spurkranz|Spurkränzen]] über die Gleislücken hinweggeführt. Eine Sonderbauform dieses Kreuzungstyps befindet sich häufig an niveaugleichen Kreuzungen von Straßenbahnen mit Eisenbahnen. Hierbei sind die Schienen der Eisenbahnstrecken lückenlos ausgeführt, während die Straßenbahnzüge auf ihren Spurkränzen über die Eisenbahnschienen hinweggeführt werden. |
|||
* '''Flachkreuzung''' mit beweglichen Doppelherzstückspitzen, sie werden in der Schweiz auch als '''Gleisdurchschneidung''' bezeichnet. Sie wird bei einem besonders flachen Kreuzungswinkel verwendet. Das ist in der Regel an mehrgleisigen [[Abzweigstelle]]n der Fall, wenn das abzweigende Gleis mit hoher Geschwindigkeit befahrbar sein muss. Ohne die beweglichen Doppelherzstückspitzen wird die führungslose Stelle in den Doppelherzstücken für einen sicheren Betrieb zu lang. Flachkreuzungen dieser Art sind teure und unterhaltungsaufwendige Einrichtungen, bieten jedoch einen lückenlosen durchgehenden Fahrweg über das zu kreuzende Gleis hinweg.^ |
|||
* '''[[Eisenbahnweiche|Kreuzungsweiche]]'''. Sie ermöglicht nicht nur das Kreuzen zweier Gleise, sondern je nach Art der Kreuzungsweiche - ''einfache Kreuzungsweiche'' oder ''doppelte Kreuzungsweiche'' - auch unterschiedliche Möglichkeiten zum Gleiswechsel. |
|||
Gelegentlich<ref>Z.B. bei Anton Hügli, Poul Lübcke: Art. ''Sprachphilosophie'', in: Philosophielexikon, Rowohlt, Reinbek (bei Hamburg) 1991.</ref> setzt man das u.a. von Moore verfolgte Forschungsprogramm als "begriffsanalytisch" von zwei weiteren ab, welche ebenfalls methodisch die Sprache ins Zentrum stellen: dem "[[Sprachanalyse|sprachanalytischen]]" oder [[Philosophie der normalen Sprache|normalsprachlichen]], wie es [[Gilbert Ryle|Ryle]] oder [[John Langshaw Austin|Austin]] verfolgen und dem "formalistischen", welches [[Gottlob Frege|Frege]], [[Bertrand Russell|Russell]] und der frühe [[Ludwig Wittgenstein|Wittgenstein]] verfolgten. Alle drei Forschungsprogramme werden üblicherweise als phasenweise wichtige Teilströmungen der sog. [[Analytische Philosophie|Analytischen Philosophie]] beschrieben. |
|||
== Zugkreuzung == |
|||
Unter '''Zugkreuzung''' versteht man das Ausweichen zweier in entgegengesetzter Richtung fahrender Züge auf eingleisiger Strecke in einem Bahnhof, der dazu neben dem durchgehenden Streckengleis noch mindestens ein Ausweichgleis aufweisen |
|||
muss. Die Bezeichnung „Kreuzung“ rührt in diesem Zusammenhang von der grafischen Darstellung im [[Bildfahrplan]], bei der sich nämlich die Zeit-Weg-Linien beider Züge kreuzen. |
|||
Bergmann selbst hatte seine Rede von einem ''linguistic turn'' v.a. auf Moore und Wittgenstein bezogen. Philosophiegeschichtliche Darstellungen vertreten unterschiedliche genealogische Rekonstruktionen. Beispielsweise kommen auch im Bereich französischer Philosophie Strukturalismus und Neostrukturalismus in Frage, und, wenn ein Akzent auf die Methodologie des Verstehens kultureller Äußerungen gelegt wird ([[Hermeneutik]]), auch kontinentale Autoren wie [[Johann Georg Hamann|Hamann]], [[Wilhelm von Humboldt|Humboldt]], [[Johann Gottfried Herder|Herder]], [[Wilhelm Dilthey|Dilthey]], [[Hans-Georg Gadamer|Gadamer]].<ref>So z.B. [[Jürgen Habermas]]: ''Hermeneutische versus analytische Philosophie'', Zwei Spielarten der linguistischen Wende, in: Ders.: ''Wahrheit und Rechtfertigung''. Philosophische Aufsätze, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999 und 2. A. 2004. Mit Bezug darauf z.B. Richard J. Bernstein: ''The Pragmatic Turn'', Polity, Cambridge 2010, ISBN 0745649084, S. 151.</ref> In jedem Fall betonen auch andere Strömungen der modernen Philosophie die Wichtigkeit sprachlicher Vermittlung, darunter beispielsweise die [[Phänomenologie]] von [[Maurice Merleau-Ponty]], die [[Philosophische Anthropologie|philosophische Anthropologie]] von [[Ernst Cassirer]] oder die Philosophie [[Martin Heidegger]]s. |
|||
⚫ | |||
* [[Eisenbahnknoten]], [[Bahnübergang]], [[Straßenkreuzung]], [[Autobahnkreuz]] |
|||
== Die Auswirkungen auf die Geisteswissenschaften == |
|||
⚫ | |||
⚫ | |||
Die linguistische Wende im engeren Sinne kann als Weiterführung und Anwendung der sprachlichen Wende auf das Gebiet der [[Kultur]] und der [[Geisteswissenschaft]]en allgemein angesehen werden. Im Zentrum steht die Einsicht, dass alle Erkenntnis stets der [[Logik]] der Sprache folgen muss und somit die sprachliche [[Struktur]] sowohl die Voraussetzung als auch die Grenze des Erkennbaren bildet. Sprache wird nicht mehr nur als neutrales [[Medium]] von Mitteilung angesehen, sondern als bestimmten Regeln gehorchender [[Diskurs]], innerhalb dessen Aussagen jeder Art überhaupt erst möglich sind. Letztlich, so die Auffassung der radikalen Vertreter des „linguistic turn“, sind auch die nicht im engeren Sinn sprachlichen Phänomene nach den diskursiven Regeln der Sprache strukturiert und als [[Text]] entzifferbar. |
|||
[[en:level junction]] |
|||
[[hu:Vágányátszelés]] |
|||
Um die Logik der Sprache zu untersuchen, wurden insbesondere die [[Linguistik]] sowie die neu etablierte Disziplin der [[Semiotik]] (Zeichentheorie) herangezogen. Die Ergebnisse dieser Forschungen wurden dann auch auf andere Bereiche wie etwa die [[Literaturwissenschaft]] oder die [[Ethnologie]] übertragen. Maßgeblich verantwortlich für den Durchbruch des Linguistic Turn in den [[Geisteswissenschaften]] waren vor allem die aus dem [[Strukturalismus]] und dem [[Poststrukturalismus]] hervorgegangenen Arbeiten. Bekannte Vertreter sind unter anderem [[Claude Lévi-Strauss]], [[Michel Foucault]], [[Judith Butler]], [[Jacques Lacan]], [[Luce Irigaray]], [[Julia Kristeva]], [[Roland Barthes]], [[Umberto Eco]] und [[Jacques Derrida]]. |
|||
[[ja:平面交差]] |
|||
[[ru:Глухое пересечение]] |
|||
Dabei entspricht die Sichtweise der linguistischen Wende gegenüber dem Phänomen Sprache durchaus nicht dem „gesunden Menschenverstand“ – und auch nicht dem, was die Philosophen lange Zeit über die Sprache zu wissen glaubten. Der herkömmlichen Vorstellung zufolge funktionieren Wörter nämlich wie Etiketten: Es gibt zuerst den wirklichen Stuhl, dann das ''Vorstellungsbild'' 'Stuhl' (das [[Signifikat]]), dann das ''Wort'' „Stuhl“ (den [[Signifikant]]en). |
|||
Schon 1915 konnte demgegenüber der [[Genf]]er Linguist [[Ferdinand de Saussure]] zeigen, dass die Signifikanten nicht „[[Abbild]]er“ der Signifikate sind, sondern dass Bedeutung vielmehr auf einer internen Differenzierung zwischen den Signifikanten selbst beruht. Sprache ist ein tendenziell autonomes [[System]], das mit dem von ihm Bezeichneten nur willkürlich ([[Arbitrarität|arbiträr]]) verknüpft ist. Saussure gilt sowohl als einflussreichster Begründer der modernen Linguistik wie auch als Wegbereiter des Strukturalismus, der Semiotik und damit des Linguistic Turn. |
|||
== Die Auswirkungen auf die Sozialwissenschaften == |
|||
Spätestens in den [[1980er]]-Jahren griff der Paradigmenwechsel der linguistischen Wende auch auf [[Sozialwissenschaften]] wie [[Geschichtswissenschaft]] oder [[Soziologie]] über. Unter dem Einfluss des [[Postmodernismus]] und des [[Poststrukturalismus]] kam es zu einer Abkehr vom Anspruch, historische Wahrheiten und harte „Fakten“ zu entdecken. Man wandte sich stattdessen dem [[Diskurs]] zu, innerhalb dessen Wahrheiten und Fakten erst sozial artikuliert werden. Als Wegbereiter dieses Ansatzes können [[Michel Foucault]] sowie der Geschichtstheoretiker [[Hayden White]] gelten. In ihrer Folge traten viele neue Fragestellungen und Methoden auf, so z.B. die [[Neue Kulturgeschichte]], die [[historische Anthropologie]], die [[Mikrogeschichte]] sowie die Frauen- und Geschlechtergeschichte im Rahmen der [[Gender Studies]]. |
|||
Der Literaturwissenschaftler [[Hayden White]] analysiert das Problem der [[Erzählung]] in der modernen [[Geschichtstheorie]] und beschreibt, wie Erzählstrukturen das Verständnis jeder Rekonstruktion von Geschichte lenken und damit manipulieren. Nach White unterliegt jegliche Darstellung von historischen Zusammenhängen [[Poetologie|poetologischen]] Kategorien. Geschichtsschreibung, sagt er, ist notwendig [[narrativ]], auch wo sie vorgibt, es nicht zu sein. Elfriede Müller und Alexander Ruoff fassen das Ergebnis seiner Analyse so zusammen: „Erzählt man Geschichte, interpretiert man sie notwendig durch die Art und Weise, in der man ihre einzelnen Daten strukturiert.“ |
|||
== Literatur == |
|||
;Allgemein |
|||
* Donald R. Kelley: Art. ''Linguistic Turn'', in: [[New Dictionary of the History of Ideas]], Bd. 3, S. 1290-1292. |
|||
* Richard M. Rorty: ''The Linguistic Turn. Essays in Philosophical Method'', Chicago 1. A. 1967, 2. A. 1992. ([http://books.google.de/books?id=LTOaM0X6e6cC online lesbar bei books.google.de]) |
|||
;Rezeption in Geistes- und Kulturwissenschaften |
|||
* Doris Bachmann-Medick: ''Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften''. 3. neu bearb. Aufl., Hamburg: Rowohlt Verlag 2009. |
|||
* Elfriede Müller und Alexander Ruoff: ''Interpreten des Grauens. Geschichte und Verbrechen im französischen [[roman noir]]'', in: jour fixe initiative berlin (Hg.): ''Geschichte nach Auschwitz'', Münster, 2002, ISBN 3-89771-409-4 |
|||
* Peter Schöttler: ''Wer hat Angst vor dem 'linguistic turn'?'', in: ''Geschichte und Gesellschaft'', 23/1997 (1), S. 134-151 |
|||
* Hayden White: ''Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie'', in: Pietro Rossi (Hg.): ''Theorie der modernen Geschichtsschreibung'', Frankfurt/M. 1987 |
|||
⚫ | |||
* [[Ikonische Wende]] |
|||
== Einzelnachweise == |
|||
<references /> |
|||
== Weblinks == |
|||
* [[Mike Sandbothe]]: [http://www.sandbothe.net/52.0.html Die pragmatische Wende des linguistic turn], in: Ders. (Hg.): ''Die Renaissance des Pragmatismus''. Aktuelle Verflechtungen zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie, Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2000. |
|||
[[Kategorie:Wissenschaftsgeschichte]] |
|||
⚫ | |||
⚫ | |||
[[da:Den sproglige vending]] |
|||
[[en:Linguistic turn]] |
|||
[[fi:Kielellinen käänne]] |
|||
[[fr:Tournant linguistique]] |
|||
[[it:Svolta linguistica]] |
|||
[[ja:言語論的転回]] |
|||
[[nl:Linguïstische wending]] |
|||
[[pt:Virada linguística]] |
|||
[[scn:A votata tunna râ linguistica]] |
|||
[[sv:Språkliga vändningen]] |
|||
[[uk:Лінгвістичний поворот]] |
Version vom 26. Oktober 2010, 15:10 Uhr
Die linguistische Wende (engl.: linguistic turn) wird auch als sprachkritische Wende, als sprachanalytische Wende oder als Wende zur Sprache bezeichnet. Sie steht dafür, dass die Verständigung über sprachliche Vermittlungsformen ins Zentrum der Forschungsbemühungen gestellt wurde. Diesen Fokus vertraten insb. seit Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Fachvertreter in Philosophie, Literaturwissenschaft und Linguistik, wobei die Auswirkungen die meisten anderen Geistes- und Sozialwissenschaften einschlossen. Der Ausdruck ‚linguistic turn’ wurde geprägt durch Gustav Bergmann und bekannt durch eine 1967 von Richard Rorty herausgegebene gleichnamige Anthologie.[1]
Philosophische Grundlagen
Als „sprachbezogene Wende“ bezeichnet man in der Philosophie eine Entwicklung hauptsächlich des 20. Jahrhunderts, die mit einer verstärkten Hinwendung zur Sprache, d.h. der Verwendung und Bedeutung sprachlicher Äußerungen, einhergeht. Viele Vertreter des linguistic turn hatten das Forschungsprogram, nicht mehr „Dinge an sich“ zu untersuchen, sondern die sprachlichen Bedingungen zu analysieren, wie von Dingen gesprochen wird. (Man kann für diese Wende eine Parallele zu derjenigen Kants behaupten: Kants "Kopernikanische Wende" untersichte nicht mehr Dinge an sich selbst, sondern Bedingungen, sie zu erkennen, die in der Struktur der Vernunft liegen. An die Stelle der Metaphysik als erster Philosophie treten Strukturen des Geistes (lat. mens), weshalb einige Autoren[2] von einem "mentalistischen Paradigma" sprechen, bei Vertretern des linguistic turn von einem "linguistischen Paradigma": Erfahrung ist zunächst einmal je sprachlich vermittelt.)
Ein anschauliches Beispiel für die Hinwendung zur Sprache bietet die Metaethik von George Edward Moore. Dabei wird nicht das Wsen des Guten diskutiert, sondern das des sprachlichen Ausdrucks "gut": Zählt dieses Wort zu den Worten, welche Handlungen empfehlen oder vorschreiben (sog. präskriptive Ausdrücke)? Oder ist es beschreibend ("deskriptiv")? Drückt "Menschen ist Notlagen zu helfen ist gut" eine Pflicht oder eine Handlungsbewertung aus, oder eine Beschreibung: Nothilfe hat nützliche Effekte? Moore unterscheidet beide Redeweisen derart, dass von beschreibenden Aussagen nie ein Schluss auf vorschreibende Aussagen erlaubt sei. („naturalistischer Fehlschluss“) Weil in derartigen Analysen nicht Einzelfragen der normativen Ethik diskutiert werden, sondern die Aussageweisen bei der Diskussion ethischer Fragen selbst analysiert werden, spricht man von "Metaethik". Die Zunahme von Publikationen zur Metaethik ist zeitlich ungefähr parallel zur Zuwendung zur Sprache überhaupt.
Gelegentlich[3] setzt man das u.a. von Moore verfolgte Forschungsprogramm als "begriffsanalytisch" von zwei weiteren ab, welche ebenfalls methodisch die Sprache ins Zentrum stellen: dem "sprachanalytischen" oder normalsprachlichen, wie es Ryle oder Austin verfolgen und dem "formalistischen", welches Frege, Russell und der frühe Wittgenstein verfolgten. Alle drei Forschungsprogramme werden üblicherweise als phasenweise wichtige Teilströmungen der sog. Analytischen Philosophie beschrieben.
Bergmann selbst hatte seine Rede von einem linguistic turn v.a. auf Moore und Wittgenstein bezogen. Philosophiegeschichtliche Darstellungen vertreten unterschiedliche genealogische Rekonstruktionen. Beispielsweise kommen auch im Bereich französischer Philosophie Strukturalismus und Neostrukturalismus in Frage, und, wenn ein Akzent auf die Methodologie des Verstehens kultureller Äußerungen gelegt wird (Hermeneutik), auch kontinentale Autoren wie Hamann, Humboldt, Herder, Dilthey, Gadamer.[4] In jedem Fall betonen auch andere Strömungen der modernen Philosophie die Wichtigkeit sprachlicher Vermittlung, darunter beispielsweise die Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty, die philosophische Anthropologie von Ernst Cassirer oder die Philosophie Martin Heideggers.
Die Auswirkungen auf die Geisteswissenschaften
Die linguistische Wende im engeren Sinne kann als Weiterführung und Anwendung der sprachlichen Wende auf das Gebiet der Kultur und der Geisteswissenschaften allgemein angesehen werden. Im Zentrum steht die Einsicht, dass alle Erkenntnis stets der Logik der Sprache folgen muss und somit die sprachliche Struktur sowohl die Voraussetzung als auch die Grenze des Erkennbaren bildet. Sprache wird nicht mehr nur als neutrales Medium von Mitteilung angesehen, sondern als bestimmten Regeln gehorchender Diskurs, innerhalb dessen Aussagen jeder Art überhaupt erst möglich sind. Letztlich, so die Auffassung der radikalen Vertreter des „linguistic turn“, sind auch die nicht im engeren Sinn sprachlichen Phänomene nach den diskursiven Regeln der Sprache strukturiert und als Text entzifferbar.
Um die Logik der Sprache zu untersuchen, wurden insbesondere die Linguistik sowie die neu etablierte Disziplin der Semiotik (Zeichentheorie) herangezogen. Die Ergebnisse dieser Forschungen wurden dann auch auf andere Bereiche wie etwa die Literaturwissenschaft oder die Ethnologie übertragen. Maßgeblich verantwortlich für den Durchbruch des Linguistic Turn in den Geisteswissenschaften waren vor allem die aus dem Strukturalismus und dem Poststrukturalismus hervorgegangenen Arbeiten. Bekannte Vertreter sind unter anderem Claude Lévi-Strauss, Michel Foucault, Judith Butler, Jacques Lacan, Luce Irigaray, Julia Kristeva, Roland Barthes, Umberto Eco und Jacques Derrida.
Dabei entspricht die Sichtweise der linguistischen Wende gegenüber dem Phänomen Sprache durchaus nicht dem „gesunden Menschenverstand“ – und auch nicht dem, was die Philosophen lange Zeit über die Sprache zu wissen glaubten. Der herkömmlichen Vorstellung zufolge funktionieren Wörter nämlich wie Etiketten: Es gibt zuerst den wirklichen Stuhl, dann das Vorstellungsbild 'Stuhl' (das Signifikat), dann das Wort „Stuhl“ (den Signifikanten).
Schon 1915 konnte demgegenüber der Genfer Linguist Ferdinand de Saussure zeigen, dass die Signifikanten nicht „Abbilder“ der Signifikate sind, sondern dass Bedeutung vielmehr auf einer internen Differenzierung zwischen den Signifikanten selbst beruht. Sprache ist ein tendenziell autonomes System, das mit dem von ihm Bezeichneten nur willkürlich (arbiträr) verknüpft ist. Saussure gilt sowohl als einflussreichster Begründer der modernen Linguistik wie auch als Wegbereiter des Strukturalismus, der Semiotik und damit des Linguistic Turn.
Die Auswirkungen auf die Sozialwissenschaften
Spätestens in den 1980er-Jahren griff der Paradigmenwechsel der linguistischen Wende auch auf Sozialwissenschaften wie Geschichtswissenschaft oder Soziologie über. Unter dem Einfluss des Postmodernismus und des Poststrukturalismus kam es zu einer Abkehr vom Anspruch, historische Wahrheiten und harte „Fakten“ zu entdecken. Man wandte sich stattdessen dem Diskurs zu, innerhalb dessen Wahrheiten und Fakten erst sozial artikuliert werden. Als Wegbereiter dieses Ansatzes können Michel Foucault sowie der Geschichtstheoretiker Hayden White gelten. In ihrer Folge traten viele neue Fragestellungen und Methoden auf, so z.B. die Neue Kulturgeschichte, die historische Anthropologie, die Mikrogeschichte sowie die Frauen- und Geschlechtergeschichte im Rahmen der Gender Studies.
Der Literaturwissenschaftler Hayden White analysiert das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie und beschreibt, wie Erzählstrukturen das Verständnis jeder Rekonstruktion von Geschichte lenken und damit manipulieren. Nach White unterliegt jegliche Darstellung von historischen Zusammenhängen poetologischen Kategorien. Geschichtsschreibung, sagt er, ist notwendig narrativ, auch wo sie vorgibt, es nicht zu sein. Elfriede Müller und Alexander Ruoff fassen das Ergebnis seiner Analyse so zusammen: „Erzählt man Geschichte, interpretiert man sie notwendig durch die Art und Weise, in der man ihre einzelnen Daten strukturiert.“
Literatur
- Allgemein
- Donald R. Kelley: Art. Linguistic Turn, in: New Dictionary of the History of Ideas, Bd. 3, S. 1290-1292.
- Richard M. Rorty: The Linguistic Turn. Essays in Philosophical Method, Chicago 1. A. 1967, 2. A. 1992. (online lesbar bei books.google.de)
- Rezeption in Geistes- und Kulturwissenschaften
- Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 3. neu bearb. Aufl., Hamburg: Rowohlt Verlag 2009.
- Elfriede Müller und Alexander Ruoff: Interpreten des Grauens. Geschichte und Verbrechen im französischen roman noir, in: jour fixe initiative berlin (Hg.): Geschichte nach Auschwitz, Münster, 2002, ISBN 3-89771-409-4
- Peter Schöttler: Wer hat Angst vor dem 'linguistic turn'?, in: Geschichte und Gesellschaft, 23/1997 (1), S. 134-151
- Hayden White: Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie, in: Pietro Rossi (Hg.): Theorie der modernen Geschichtsschreibung, Frankfurt/M. 1987
Siehe auch
Einzelnachweise
- ↑ Rorty 1967, S. 9 der Verweis auf Bergmann.
- ↑ Das Schema wird u.a. bei Herbert Schnädelbach gebraucht; für Stellennachweise und Kritik daran vgl. z.B. Claus Zittel: Theatrum philosophicum: Descartes und die Rolle ästhetischer Formen in der Wissenschaft, Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 22, Akademie Verlag, Berlin 2009, ISBN 3050040505, S. 29ff et passim.
- ↑ Z.B. bei Anton Hügli, Poul Lübcke: Art. Sprachphilosophie, in: Philosophielexikon, Rowohlt, Reinbek (bei Hamburg) 1991.
- ↑ So z.B. Jürgen Habermas: Hermeneutische versus analytische Philosophie, Zwei Spielarten der linguistischen Wende, in: Ders.: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999 und 2. A. 2004. Mit Bezug darauf z.B. Richard J. Bernstein: The Pragmatic Turn, Polity, Cambridge 2010, ISBN 0745649084, S. 151.
Weblinks
- Mike Sandbothe: Die pragmatische Wende des linguistic turn, in: Ders. (Hg.): Die Renaissance des Pragmatismus. Aktuelle Verflechtungen zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie, Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2000.