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Indischer Aufstand von 1857 und Diskussion:Toulouser Allee: Unterschied zwischen den Seiten

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[[Datei:SepoyMutiny.jpg|thumb|260px|Der große indische Aufstand von 1857]]
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Der '''Indische Aufstand von 1857''', auch '''Sepoy-Aufstand''' genannt, richtete sich gegen die [[Britische Kolonien|britische Kolonialherrschaft]] über den [[Indischer Subkontinent|indischen Subkontinent]]. Der Aufstand war überwiegend auf das obere Gangestal und Zentralindien beschränkt. Zentren des Aufstands waren [[Uttar Pradesh]], [[Bihar]], der Norden von [[Madhya Pradesh]] und die Region um [[Delhi]].


Der Beginn des Indischen Aufstands von 1857 wird meistens auf den 10. Mai 1857 datiert. An diesem Tag kam es in Merath zu einem offenen Aufstand von hinduistischen und muslemischen Soldaten gegen ihre britischen Befehlshaber. Die meuternden Truppen zogen nach Delhi ab, das sich bereits am 11. Mai in der Hand der Aufständischen befand. In Delhi kam es wie zuvor in Merath zu Morden an Briten und Eurasiern sowie an Indern, die zum Christentum übergetreten waren. An diesen Massakern waren nicht nur Sepoys sondern auch Teile der indischen Zivilbevölkerung beteiligt. In den folgenden Wochen und Monaten dehnte sich der Aufstand über Nordindien aus. Einzelne britische Garnisonen wie [[Lakhnau]] und [[Belagerung von Kanpur|Kanpur]] verteidigten sich dabei teils mit Hilfe loyal gebliebener Sepoys über mehrere Wochen gegen eine Übermacht aufständischer Truppen. Die Ermordung britischer Zivilisten wurde von britischen Truppen als Rechtfertigung für eine Kriegsführung genommen, die bereits von Zeitgenossen als unangemessen grausam und ethisch zweifelhaft eingestuft wurde. In der indischen Geschichtsschreibung nimmt [[Lakshmibai]], Rani von Jhansi, eine besondere Rolle ein. Die indische Fürstin schloss sich dem Aufstand nur zögernd an und entschied sich für eine aktive Unterstützung erst, als sie darin die einzige Möglichkeit sah, den Machtanspruch ihrer Familie zu sichern. Sie fiel im März 1858 in einer Schlacht gegen britische Truppen. Der Aufstand war im Laufe des Jahres 1858 bereits weitgehend zu Gunsten der Briten entschieden. Noch in 1859 gab es jedoch einzelne Auseinandersetzungen, so dass der Indische Aufstand nach allgemeinen Verständnis erst in diesem Jahr endete. Nach der Niederschlagung wurde die [[Ostindien-Kompanie]] durch den [[Government of India Act 1858]] aufgelöst und [[Britisch-Indien]] zu einer formellen [[Kronkolonie]].


Laut Ratsbeschluss soll die Entlastungsstraße "Toulouser Allee" heißen.
Als äußerer Auslöser des Aufstands gilt gemeinhin die Einführung des [[Enfield Rifled Musket|Enfield-Gewehres]], deren Patronenhülsen nach einem unter britisch-indischen Streitkräften weitläufig verbreiteten Gerücht mit einer Mischung aus Rindertalg und Schweineschmalz behandelt war. Die Verwendung dieser Patronen stellte sowohl für gläubige Hindus wie Moslem einen Verstoß gegen ihre religiösen Pflichten dar. Als eigentliche Ursachen gelten die von der Britischen Ostindien-Kompanie verfolgte Sozial- und Wirtschaftspolitik, durch die weite Teile der indischen Bevölkerung Landrechte, Beschäftigungsmöglichkeiten und Einfluss verloren, die im 19. Jahrhundert zunehmenden Anstrengungen, Indien zu christianisieren sowie die Annexion indischer [[Fürstenstaat]]en durch Anwendung der [[Doctrine of Lapse]]. Es besteht in der Geschichtsschreibung kein Konsens, welchem dieser Faktoren ein besonderes Gewicht zukommt. Historiker haben auch in Abhängigkeit ihres eigenen kulturellen, religiösen und politischen Standpunktes die Ursachen des Aufstands sehr unterschiedlich gewichtet.<ref> siehe beispielsweise [[Niall Ferguson]]: ''Empire. The Rise and Demise of the British World Order'', 2003, ISBN 0465023282, S. 145 – 153 und [[William Dalrymple]]: ''The Last Mughal - The Fall of a Dynasty, Delhi, 1857'', Bloomsbury Publishing, London 2006, ISBN 9780747587262, S. 58 - 84 sowie Christopher Herbert: ''War of no Pity. The Indian Mutiny and Victorian Trauma'', Princeton University Press, Princeton 2008, ISBN 978-0-691-13332-4 für die Wertung des Aufstands im 19. Jahrhundert</ref>

== Bezeichnung ==
In der englischen Literatur werden die Ereignisse in Nordindien aus dem Jahre 1857 bis 1859 meistens als „''Indian Mutiny''“ oder „''Sepoy Mutiny''“ (Mutiny = Meuterei, Befehlsverweigerung) bezeichnet. Im engeren Sinne bezieht sich der Begriff „''Sepoy''“ (von [[Persische Sprache|pers.]]: ''sipahi'' = Soldat) nur auf indische Infanteristen, die in den Armeen der Britischen Ostindien-Kompanie Dienst taten. Im Kontext des Indischen Aufstand wird die Bezeichnung „''Sepoy''“ auch für die eigentlich als [[Sawar]]en bezeichneten indischen Kavalleristen verwendet.
[[Datei:Two Seapoy Officers; A Private Seapoy.jpg|thumb|right|Sepoys: zwei Offiziere und ein Soldat]]
Bereits Zeitgenossen des Aufstands kritisierten, dass die Bezeichnung „''Mutiny''“ das Ausmaß der Ereignisse nicht ausreichend wiedergibt, da sich schnell weite Teile der indischen Bevölkerung den meuternden Soldaten angeschlossen hatten. Die Mehrzahl der zeitgenössischen britischen Geschichtsschreiber war sich einig, dass es sich bei den Ereignissen in Indien um mehr als eine Meuterei einiger Regimenter aber um weniger als eine nationale Revolte handelte. Der zeitgenössische britische Historiker John William Kaye gab dementsprechend seiner für das 19. Jahrhundert maßgebenden 3-bändigen Historiographie über den Aufstand den Titel „''History of the Sepoy War in India''“. Die Dominanz der Bezeichnung „''Mutiny''“ im kollektiven Geschichtsverständnis der Briten ist auf die damalige vorherrschende politische Deutung des Aufstandes zurückzuführen. Ein durch die Ereignisse in seinem Selbstverständnis erschüttertes Empire konnte den Schein einer unbescholtenen Integrität besser wahren, wenn es von einer Meuterei statt von einer nationalen Revolte sprach.<ref>Chaudhuri, S. 13</ref> In der britischen Historiographie ist die Bezeichnung „''Mutiny''“ nach wie vor weitgehend gebräuchlich.

Die indische Geschichtsschreibung lehnt die britische Bezeichnung „''Mutiny''“ überwiegend als wertend ab und betont, dass die Ereignisse den Charakter eines Volksaufstandes hatten. 1909 verwendete [[Vinayak Damodar Savarkar]] die Bezeichnung „''Ersten indischen Unabhängigkeitskrieg''“ (First war of Indian Independence) als Titel seiner Historiographien und eine Reihe von [[Hindutva|Hindunationalisten]] verwenden diese Bezeichnung noch heute. Sowohl ein Teil der modernen indischen wie auch die britische Historiographie lehnen die Deutung der Ereignisse als einen Unabhängigkeitskrieg als zu weitgehend ab, da sich die Aufstände nur auf die nördlichen Gebiete Indiens beschränkten und die übrigen indischen Territorien der East India Company gegenüber loyal blieben.<ref>Erll, S. 21</ref>

== Geschichtlicher Hintergrund und Ursachen des Aufstands ==
=== Die Vorherrschaft der britischen Ostindien-Kompanien in Indien ===
[[Datei:Mogulreich um 1700.png|thumb|right|Mogulreich um 1700]]
Im 17. Jahrhundert war das [[Mogulreich]] die beherrschende Macht auf dem indischen Subkontinent. Das Mogulreich, das keinen festgefügten Staat, sondern ein Konglomerat aus Reichsprovinzen, untergeordneten [[Fürstenstaat]]en und halbautonomen Städten und Dörfern darstellte, war zu dieser Zeit bereits im Niedergang begriffen. Im Zuge dieser Entwicklung begannen viele europäische Mächte, Handelsstationen in Indien zu errichten, um den in Europa aufgekommenen Bedarf an Produkten wie [[Baumwolle]], [[Chintz]], [[Porzellan]], [[Tee]] und [[Seide]] zu befriedigen. Am erfolgreichsten war dabei die Britische Ostindien-Kompanie, der es gelang, ihre europäischen Konkurrenten bis auf wenige Ausnahmen zu verdrängen.<ref> Ward, S. 6 </ref> 1693 unterhielt sie Handelsstationen in [[Madras]], [[Mumbai|Bombay]] und [[Kolkata]].

Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts war das Mogulreich in mehrere, sich zum Teil bekriegende Staaten zerfallen. Um ihren Handel in diesem politischen Umbruch zu schützen, begann die Kompanie zunehmend, einheimische Soldaten oder "Sepoys" zu rekrutieren. Die Kompanie wandelte sich hierbei zunehmend von einer Handels- in eine politische Macht. In den Jahren 1773 und 1784 erließ das britische Parlament Gesetzte, die der Kompanie direkte Eingriffe in die inneren Angelegenheiten Indiens erlaubten. Bis 1857 hatte die Kompanie weite Teile des Subkontinents militärisch erobert oder auf unblutigem Wege annektiert. Letzteres geschah meist durch die ''[[Doctrine of Lapse]]'', die durch [[James Andrew Broun-Ramsay, 1. Marquess of Dalhousie|Lord Dalhousie]], von 1847 bis 1856 Generalgouverneur von [[Britisch-Indien]], eingeführt wurde. Die ''Doctrine of Lapse'' bestimmte, dass jeder Fürstenstaat, dessen Herrscher sich unfähig zeigte oder ohne Erben starb (''"manifestly incompetent or died without a direct heir" ''), von der Kompanie zu annektieren sei. [[Satara (Staat)|Satara]] (1848), [[Jaitpur]], [[Sambalpur (Staat)|Sambalpur]] (1849), [[Nagpur]], [[Jhansi]] (1854) und [[Oudh]] (1856) fielen so an die Kompanie. Zu Beginn des Aufstandes befanden sich so zwei Drittel des Subkontinents unter direkter britischer Herrschaft, wobei vielerorts allerdings die lokale Macht und die Regelung innerer Angelegenheiten zu großen Teilen in den Händen angestammter Adelsgeschlechter verblieben. Die Annexion von Oudh gilt als einer der Mitauslöser des Aufstands von 1857. Mehr als 60 Prozent der indischen Sepoys stammten aus dieser indischen Provinz.<ref> Spilbury, S. 7 und S. 8 </ref>

=== Die Rolle des Großmoguls ===
Obwohl die [[Mogulreich|Mogulen]] ihren beherrschenden Einfluss auf dem indischen Subkontinent bereits im 18. Jahrhundert verloren hatten, galt der im [[Rotes Fort (Delhi)|Roten Fort]] in Delhi residierende Großmogul sowohl der indischen Bevölkerung als auch den indischen Provinzen und Staaten als nomineller Souverän. Dem entsprechend hatte die Britische Ostindien-Kompanie sich noch zu Beginn des 19. Jahrhundert auf offiziellen Papieren und Münzen als Vasall des Großmoguls bezeichnet und den in Delhi ansässigen Vertretern der Kompanie die strikte Anweisung gegeben, den Mogul mit dem Respekt zu begegnen, der dem obersten Herrscher von [[Hindustan]] zustand.<ref> Dalrymple, S. 38f</ref> Ab den 1830er Jahren begann sich die britische Politik in diesem Punkt zu ändern. Bis 1857 demonstrierten eine Reihe von Maßnahmen und Ereignissen dem Großmogul und seinem Hofstaat die zunehmende Bedeutungslosigkeit, die ihnen die Briten beimaßen. So überreichte die Britische Ostindien-Kompanie ab 1832 das zeremonielle Geschenk (als „nazr“ bezeichnet) nicht mehr, das die Verpflichtungen der Kompanie gegenüber dem Großmogul öffentlich unterstrichen hätte. Hochrangige Vertreter der Kompanie verzichteten auf den Antrittsbesuch beim Großmogul, wenn sie in Delhi weilten.

Auf den Rupien, die die Britische Ostindien Kompanie herausgab, wurde der Name des Großmoguls entfernt und ab 1850 war es allen britischen Untertanen untersagt, Titel und Ehrungen seitens des Großmoguls anzunehmen.<ref> Dalrymple, S. 39</ref> Der Einflussbereich von [[Bahadur Shah Zafar II.]], dem letzten der Großmogule, beschränkte sich auf seinen Palast, dem Roten Fort. Ohne die Erlaubnis von [[Thomas Metcalfe (Kolonialist)|Thomas Metcalfe]], dem ranghöchsten Vertreter der Kompanie vor Ort, durfte ihn kein indischer Adeliger aufsuchen.<ref name="dal37"> Dalrymple, S. 37</ref> Thomas Metcalfe versuchte auch die Thronfolge zu beeinflussen. Üblich war es, dass der Großmogul unter seinen Söhnen denjenigen bestimmte, der aus seiner Sicht der am meisten geeignete Nachfolger war. Thomas Metcalfe versuchte zunächst die [[Primogenitur]] durchzusetzen und verweigerte jegliche Anerkennung dem Sohn, den Bahadur Shah Zafar erwählt hatte. Kurz vor Ausbruch des Aufstands verfolgten die Vertreter Britische Ostindien-Kompanie jedoch zunehmend die Strategie, durch Anwendung der ''Doctrine of Lapse'' mit dem Tod von Bahadur Shah Zafar die Herrschaftslinie erlöschen zu lassen.<ref> Spilbury, S. 35 und S. 36 </ref> Dies hatte zur Folge, dass eine Reihe der Würdenträger am Hof des Großmoguls bereit waren, die Aufständischen zu unterstützten.

=== Die Militärkräfte ===
Die britische Ostindien-Kompanie unterhielt zu Beginn des Aufstands in ihren drei Präsidentschaften [[Bombay (Präsidentschaft)|Bombay]], [[Madras (Präsidentschaft)|Madras]] und [[Bengalen (Präsidentschaft)|Bengalen]] jeweils eine Armee. Insgesamt betrug die Kopfstärke dieser drei Armeen 246.000 Mann; lediglich 14.000 dieser Männer waren Europäer. Gleichzeitig waren in Indien verschiedene Regimenter der [[Geschichte der British Army|britischen Armee]] stationiert, so dass weitere 31.000 britische Soldaten auf dem indischen Halbkontinent Dienst taten. In Bengalen, einem der Zentren des Aufstands, waren zum Zeitpunkt des Ausbruchs des Aufstands insgesammt 23.000 britische und 136.000 indische Soldaten stationiert. Die britischen Soldaten absolierten ihren Dienst jedoch überwiegend in der Region von Punjab, die kurze Zeit zuvor militärisch erobert worden war.<ref> David (2006), S. 307 </ref>
[[Datei:The Nusseree Battalion.JPG|thumb|Britischer Offizier (5. von rechts) mit Gurkha-Soldaten, Foto von 1857]]
Ausgangspunkt des Aufstands waren die Infanterie-Einheiten der Armee von Bengalen.<ref> Dalrymple, S. 10 </ref> Die Infanterie-Einheiten dieser Armee setzten sich - anders als bei den Armeen von [[Madras (Präsidentschaft)|Madras]] und [[Bombay (Präsidentschaft)|Bombay]] - zum größten Teil aus Mitgliedern der höheren [[Hindu]]-[[Kaste]]n ([[Brahmane]]n und [[Kshatriya]]) zusammen.<ref> Hibbert, S. 47 </ref> Kavallerie und Artillerie hatten einen deutlich höheren Muslim-Anteil. Da die Briten befürchteten, dass die Hindu-Soldaten Kastenbelange wichtiger nähmen als ihre Dienstpflicht, sah die Handelskompanie in dieser Konzentration eine Bedrohung der militärischen Disziplin.<ref name="s295"> David (2006), S. 295 </ref> Um sicherzustellen, dass sie über moderne, schlagkräftige Truppen verfügte, die sie überall in Asien einsetzen konnte, nahm die Britische Ostindien-Kompanie zunehmend weniger Rücksicht auf Kastenbelange genommen und erweiterte die Rekrutierungsbasis um [[Gurkha]]s und [[Sikh]]s. Letzteres traf insbesondere bei brahmanischen Sepoys auf starke Ablehnung.<ref> Wilson, S. 203 </ref> Im Jahr 1856 gebot der General Service Enlistment Act neuen indischen Rekruten den Dienst auch außerhalb Indiens. Mit Rücksicht auf Sepoys der höheren Hindu-Kasten war der Dienst im Ausland bis zu diesem Zeitpunkt freiwillig, da diese theoretisch ihre Kastenzugehörigkeit verloren, wenn sie offenes Meer überquerten.<ref name="s295" />

Sowohl für Brahmanen als auch Kshatriyas war der Militärdienst eine der wenigen verbliebenen Verdienstmöglichkeiten, die als ehrenhaft galten. Viele der Sepoys entstammten Familien, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr aus dem Ertrag finanzieren konnten, den ihr Landbesitz abwarf. Die verschlechterte wirtschaftliche Situation der Brahmanen und Kshatriyasa hatte der Britischen Ostindien-Kompanie die Möglichkeit gegeben, den Sold, der etwa sieben bis neun Rupien pro Monat betrug, seit der Jahrhundertwende nicht mehr anzupassen.<ref> Wilson, S. 203 und S. 207 </ref> Seitdem hatten sich die Lebenshaltungskosten fast verdoppelt. Während der Eroberungsfeldzügen konnten Sepoys ihr Gehalt noch durch Plünderungen aufbessern. Die militärische Eroberung war jedoch in den 1850er Jahren weitgehend abgeschlossen.<ref> David (2006), S. 297 </ref> Gleichzeitig standen den Sepoys nur sehr wenige Aufstiegsmöglichkeiten in der Arme von Bengalen offen und diese wurden nach Seniorität und nicht nach Leistung vergeben.<ref> David (2006), S. 298 </ref> Der Historiker [[Saul David]] weist darauf hin, dass Unzufriedenheit mit Sold und Beförderungsmöglichkeiten für viele Armeen charakteristisch sind. Bei der Armee von Bengalen handelte es sich jedoch um eine Berufsarmee, die von Männern befehligt wurden, die einer anderen Kultur und einer anderen Religion angehörten. Loyalität zwischen Untergebenen und Befehlshabern besteht in solchen Armeen nur, solange die Vorteile eines loyalen Dienstes die Nachteile aufwiegen. Für die Sepoys war dies nach Ansicht von Saul David im Jahre 1857 nicht länger gegeben.<ref> David (2006), S. 296 </ref>

=== Die versuchte Christianisierung ===
Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts hatte die Britische Ostindien-Kompanien jegliche Christianisierungsversuche in ihrem indischen Einflussbereich weitgehend unterbinden können. Dies geschah primär, weil sich die Britische Ostindien-Kompanie bewusst war, dass eine versuchte Christianisierung in Indien zu Unruhen führen würde.<ref> Christopher Herbert: ''War of no Pity. The Indian Mutiny and Victorian Trauma'', Princeton University Press, Princeton 2008, ISBN 978-0-691-13332-4, S. 42</ref><ref> James, S. 223 </ref> Eine grundsätzliche Toleranz in religiösen Fragen und Offenheit gegenüber der anderen Kultur zeigten sich auch daran, dass gegen Ende des 18. und Beginn des 19ten Jahrhunderts zahlreiche Briten einen von ihren indischen Nachbarn inspirierten Lebensstil und gelegentlich auch deren Glauben annahmen. Eheliche Verbindungen zwischen Briten und Indern waren üblich.
[[Datei:Burning of a Widow.jpg|thumb|Die [[Sati|Witwenverbrennung]] war eine der Rituale, gegen die Briten im Verlaufe des 19ten Jahrhundert energisch vorgingen]]
Das Ende der religiösen Toleranz begann, nachdem diese religiöse Toleranz in Großbritannien zunehmend auf Unverständnis stieß. In insgesamt 837 Petitionen, die von knapp einer halben Millionen Briten unterzeichnet waren, forderten christliche Gruppen unter Führung von [[William Wilberforce]] vom britischen Parlament, die Missionierung in Indien zu forcieren <ref> Ferguson, S. 136</ref>:
: ''Die Einwohner der bevölkerungsreichen Regionen Indiens, die einen großen Teil des Britischen Imperiums darstellen, befinden sich in einem äußerst beklagenswerten Zustand moralischer Verwerfnis und sind dem Einfluss abscheulichen und erniedrigenden Aberglaubens ausgesetzt. Sie haben einen Anspruch auf das Mitgefühl und den mildtätigen Dienst britischer Christen. '' <ref> Ferguson, S. 136. Das Zitat lautet in Englisch: ''The inhabitants of the populous regions in India which form an important portion of the British Empire, being involved in the most deplorable state of moral darkness, and under the influence of the most abominable and degrading superstitions, have a pre-eminent claim on the most compassionate feelings and benevolent services of British Christians.“</ref>
lautete einer der Petitionstexte. Das britische Parlament verabschiedete 1813 einen neuen East India Act, der grundsätzlich eine Missionierung in Indien gestattete und erstmals einen Bischof für Indien ernannte. Die Christianisierungskampagne in Indien begann nur langsam. 1832 befanden sich erst 58 Missionare in Indien.<ref> Ferguson, S. 157</ref> Erst in den 1840er und 1850er Jahre kam neben den Missionaren eine zunehmende Anzahl von Briten nach Indien, die das Land nicht nur verwalten wollten, sondern den indischen Lebensstil reformieren und die indische Bevölkerung zum christlichen Glauben bekehren wollte. Nach Ansicht der Historiker Herrmann Kulke und Dietmar Rothermund war für diese Briten neben christlichem Sendungsbewusstsein enorme Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit gegenüber der indischen Kultur charakteristisch.<ref> Kulke et al., S. 313</ref>: Der als Justizminister nach Indien entsandte Lord Macaulay war der Überzeugung, dass die ganze Literatur des Orients nicht so viel wert sei wie das, was „''in den Büchern stehe, die in einem einzigen Regal einer europäischen Bibliothek zu finden seien''“.<ref> Kulke et al., S. 313</ref> Der in Delhi seit 1852 missionierende [[Reverend]] Midgeley John Jennings predigte unter anderem während des größten Hindufestes [[Kumbh Mela]] zu den am Gangesufer versammelten Hindupilgern und bezeichnete dabei deren Glauben als „''satanisches Heidentum''“. Sein ungeschickter Missionseifer löste nicht nur in der indischen Presse Kritik aus, sondern stieß auch bei einer großen Zahl Europäern auf Unwillen. <ref> Dalrymple, S. 59ff</ref> Reverend Jennings fand jedoch sowohl unter britischen Zivilisten wie Militärs zahlreiche Nachahmer. Der britische Bezirksrichter von Fatehpur ließ Steinsäulen errichten, auf denen die [[Zehn Gebote]] in Englisch, [[Urdu]], [[Hindi]] und [[Persische Sprache|Persisch]] eingemeißelt waren und nahm sich die Zeit, zwei oder drei Mal wöchentlich den „Eingeborenen“ auf Hindi aus der Bibel vorzulesen.<ref> Dalrymple, S. 60f</ref> Einzelne britische Offiziere nutzten ihre Befehlsgewalt und erteilten den ihnen Unterstellten in ähnlicher Weise Religionsunterricht, um sie zum christlichen Glauben zu bekehren.<ref> Dalrymple, S. 62 und James, S. 235</ref> Es gab Reformversuche gegen das [[Kaste]]nwesen und indischen Familien wurde es untersagt, zum christlichen Glauben übergetretener Angehöriger von der Erbfolge auszuschließen. Die rituelle Witwenverbrennung wurde 1829 per Gesetz verboten und zu Beginn der 1850er Jahren wurde es Witwen gesetzlich erlaubt, sich wieder zu verheiraten.<ref> David (2006), S. 294 </ref> Die britische Verwaltung machte Landschenkungen an Tempel und Moscheen rückgängig, wenn sich dafür ein Anlass bot, obwohl eine große Anzahl der indischen Moscheen, Koranschulen und Sufischreine auf die Pachtzahlungen aus diesen Landschenkungen angewiesen wareb, um sich zu finanzieren. Allein in Delhi enteigneten die Briten insgesamt neun Moscheen.<ref> Dalrymple, S. 69</ref> Einen besonderen Affront für gläubige Inder stellten die Einzelfälle dar, in denen Tempel oder Moscheen zerstört wurden, weil sie Straßenprojekten im Wege standen, enteignetes Land Missionaren übergeben wurden, damit diese dort Kirchen errichten konnten oder christlichen Gruppen konfiszierte Moscheen übergeben wurden, damit diese in Kirchen umgewandelt werden konnten.<ref> Dalrymple, S. 69</ref>

Der Reformeifer der Briten störte das labile Gleichgewicht zwischen Oberherrschaft und Nichteinmischung empfindlich und schuf ein Umfeld, in dem es Indern zunehmend Gerüchte glaubwürdig erscheinen mussten, dass Briten auf eine vollständige Christianisierung des indischen Halbkontinents abzielten. Auch das Gerücht, dass die Papierpatronen des neuen [[Enfield Rifled Musket|Enfield-Gewehr]] gezielt mit Rindertalg imprägniert waren, damit Soldaten ihrer Zugehörigkeit zur Hindugemeinschaft verlustig gehen würden, musste vor diesem Hintergrund als glaubwürdig erscheinen.

== Der Verlauf des Aufstands ==
=== Vorläufer des Aufstandes ===
Indische Soldaten hatten vor 1857 mehrfach gemeutert, wenn britische Befehle zur Folge hatten, dass sie gegen ihre religiösen Verpflichtungen verstießen: Vor der [[Meuterei in Velur]] im Jahre 1806 befahlen britische Offiziere indischen Soldaten unter anderem das Tragen einer Uniform, bei der einzelne Bestandteile aus Leder gefertigt waren. Das Tragen von Rinderleder war jedoch für Hindus ein Sakrileg. Sie sollten außerdem im Dienst auf den [[Stirnpunkt]] verzichten. In der nachfolgenden Meuterei starben auf britischer Seite 129 Personen. Von den meuternden Soldaten kamen 350 ums Leben. Weitere 19 wurden nach der Niederschlagung des Aufstands hingerichtet.<ref> Ward, S. 11 </ref><ref> Hibbert, S. 62</ref> 1824 führte ein ähnliches Ignorieren der religiösen Verpflichtungen indischer Soldaten zu einer Meuterei, in deren Folge erneut britische Soldaten ums Leben kamen, indische Soldaten zum Tode verurteilt wurden und ein indisches Regiment aufgelöst wurde.<ref> Hibbert, S. 62</ref> Neben diesen beiden weithin bekannten Befehlsverweigerungen hatten sich mehrfach Meutereien in kleinerem Maßstab ereignet, die zu einem Teil der Öffentlichkeit unbekannt blieben.

=== Auslöser des Aufstandes ===
[[Datei:3BandEnfiled_2.jpg|thumb|Schloss der 3-Band-Enfield von [[1853]]]]
Der Beginn des Aufstands steht in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der Abschaffung der [[Brown-Bess]]-Muskete, die durch das moderne [[Enfield Rifled Musket|Enfield-Gewehr]] ersetzt werden sollte. Diese [[Vorderlader]]-[[Büchse]] verschoss Papierpatronen, deren gefalztes Ende gemäß britischem [[Exerzieren|Exerzierreglement]] vor dem Laden mit den Zähnen abgebissen werden musste. Um die [[Patrone (Munition)|Patrone]]n mit dem [[hygroskopisch]]en [[Schwarzpulver]] vor Feuchtigkeit zu schützen und eine geringere Verschmutzung der Waffe beim Schießen zu erreichen, mussten Papierpatronen mit Fett imprägniert werden.<ref> David (2006), S. 291 und S. 292 </ref> Innerhalb der britisch-indischen Streitkräfte war spätestens ab Januar 1857 weitläufig das Gerücht verbreitet, die Patronen seien mit einer Mischung aus Rindertalg und Schweineschmalz behandelt worden. Gläubigen [[Hindu]]s und [[Moslem]]s musste dies gleichermaßen als schwerer Affront erscheinen. Tatsächlich scheint es zu Beginn vereinzelt eine Verwendung von Schweineschmalz und Rindertalg gegeben zu haben. Dieser Fehler wurde aber von der Britischen Ostindien-Kompanie aber durchgängig abgestellt, sobald man sich ihm bewusst wurde. Für die Patronen wurde danach eine Mischung aus [[Bienenwachs]] und [[Ghee]] oder Hammelfett verwendet und den Sepoys wurde erlaubt, die Patronen selber einzufetten.<ref>A. N. Wilson: ''The Victorians''. Arrow Books, London 2003. ISBN 0-09-945186-7, S. 201 </ref><ref> David (2006), S. 292 bis S. 294 </ref> Alle vertrauensbildenden Maßnahmen blieben ohne Wirkung. Wie die Befragung von befehlsverweigernden indischen Soldaten in [[Barrackpur]] im Februar 1857 zeigte, misstrauten die indischen Soldaten mittlerweile auch der papierenen Patronenummantelung, deren ungewohnte Glätte und Schimmer sie ebenfalls auf eine Behandlung mit Fett zurückführten.<ref> David (2006), S. 293 </ref>

Bereits im Januar, als das Gerücht erstmals auftrat, war es in diversen Garnisonen in Nord- und Ostindien vereinzelt zu kleineren Brandstiftungen gegen britische Einrichtungen gekommen. Im Februar verweigerten die Sepoys des 19. Regiments der [[Bengal Native Infantry]] (BNI) in [[Baharampur]] den Befehl, die neuen Patronen zu benutzen. Zu ersten Gewalttätigkeiten kam es am 29. März 1857, als in [[Barrackpur]] nördlich von Kolkata der Sepoy [[Mangal Pandey]] des 34. Regiments der BNI einen Adjutanten und den britischen Feldwebel seines Regiments angriff und schwer verwundete. Die beiden britischen Offiziere überlebten vermutlich nur, weil ein indischer Soldat muslimischen Glaubens eingriff und Mangal Pandey zeitweilig außer Gefecht setzte. Indische Soldaten hinduistischen Glaubens dagegen waren während des Übergriffs ihres Kameradens gegenüber den britischen Vorgesetzten inaktiv geblieben. Pandey wurde zum Tode verurteilt und am 8. April gehängt. Am 30. März wurde das 19. und am 6. Mai das 34. Regiment entwaffnet.<ref> Hibbert, S.68 bis 72</ref>

=== Die Meuterei der Garnison in Merath ===
Am 7. Mai 1857 verweigerten 85 von 90 zu einer Schießübung beorderten Sepoys der ''3rd Bengal Light Cavalry'' der Garnison in [[Merath]] die Nutzung der neu ausgegebenen Enfield-Gewehre. Sie begründeten dies damit, dass sie sonst ihre Kastenzugehörigkeit verlören und nicht mehr zu ihren Familien zurückkehren könnten. Die Befehlsverweigerer wurden bereits am nächsten Tag zu 10 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Am 9. Mai ließ der befehlshabende Offizier alle in Merath anwesenden indischen und europäischen Truppenteile auf dem Paradefeld antreten. In Anwesenheit ihrer Kameraden wurden die 85 verurteilten indischen Soldaten ihrer Uniformen entledigt und in Fußfesseln gelegt <ref> Eine sehr detaillierte Schilderung der Vorkommnisse in Merath findet sich bei Hibbert, S. 75 bis 90</ref>. Sowohl das Urteil als auch die öffentliche Degradierung wurde auch von einigen britischen Offizieren als unnötig harsch eingestuft.<ref> Wilson, S. 204 </ref>

Zum offenen Aufstand kam es am Spätnachmittag des 10. Mai. Bereits bei diesen ersten Gewaltakten, in deren Verlauf fünfzig europäische Soldaten, Zivilbeamte, Frauen und Kinder massakriert wurden, waren neben indischen Soldaten auch indische Zivilisten beteiligt.<ref> Wilson, S. 204 </ref> Die in Merath stationierten europäischen Truppen konnten weder verhindern, dass die verurteilten Sepoys von den Aufständischen befreit wurden noch dass die meuternden Truppen in Richtung des 60 Kilometer entfernt liegenden Delhi abzogen.

=== Der Ausbruch des Aufstands in Delhi ===
[[Datei:Bahadur Shah II.jpg|Gemälde um 1854|thumb|Gemälde um 1854]]
Der Einflussbereich des 82-jährigen [[Bahadur Shah Zafar II.]], dem letzten der Großmogule, beschränkte sich auf seinen Palast, dem [[Rotes Fort (Delhi)|Roten Fort]] in [[Delhi]]. Trotz dieses geringen Einflusses galt er sowohl der indischen Bevölkerung als auch den indischen Provinzen und Staaten als nomineller Souverän. Delhi war daher der Ort, an dem sich die aufständischen Truppen sammelten.

Etwa 20 indische Kavalleristen trafen gegen sieben Uhr morgens des 11. Mai vor dem Palast ein und forderten den Großmogul auf, den Aufstand zu unterstützen. Der Großmogul ließ ihre Forderung unbeantwortet und sandte nach dem britischen Befehlshaber seiner Leibwache, der die aufständischen Soldaten aufforderte, sich außerhalb der Stadtmauern zu versammeln, während man ihr Anliegen untersuchen werde.<ref>Hibbert, S. 92f</ref> Wenig später kam es an den Stadttoren zu ersten Kämpfen, die sich schnell auf das ganze Stadtgebiet ausdehnten. Ein Vorkommnis am [[Kaschmirtor]] zeigt exemplarisch, wie rasch sich der Aufstand ausweitete. Als Reaktion auf die Meldung, dass Kavalleristen aus Merath in Delhi für Unruhe sorgten, war das 54. indische Regiment am Morgen des 11. Mai von dem etwa 3 Kilometer nördlich liegenden Militärcamp nach Delhi kommandiert worden. Beim Einmarsch des Regiments durch das Kaschmirtor in die Stadt erschossen aufständische Kavalleristen vier der britischen Offiziere. Als die überlebenden Offiziere den ihnen unterstellten indischen Soldaten befahlen, das Feuer zu erwidern, schossen diese lediglich in die Luft und attackierten anschließend gemeinsam mit den Sawars die Offiziere.<ref> Hibbert, S. 97f</ref>

Im Verlauf des Nachmittags stellte sich der Großmogul an die Spitze des Aufstands. Nach den späteren Schilderungen von Hofbeamten und anwesenden indischen Adeligen geschah dies, um die mehreren hundert bewaffeten und erregten Soldaten zu beruhigen, die sich im Roten Fort vor den Privatgemächerns des Großmoguls versammelt hatten.<ref> Dalrymple, S. 171 – 174</ref> Die Unterstützung der Aufständischen wurde nicht von allen Angehörigen des Hofes des Großmoguls geteilt. Die britische Seite wurde unter anderem von Zafars Lieblingsfrau [[Zinat Mahal]] unterstützt, die damit auch die Hoffnung verbunden haben mag, dass die Briten die Thronfolge ihres Sohnes [[Jawan Bakht]] sichern würde. Jawan Bakht übernahm im Gegensatz zu seinem älteren Halbbruder [[Mirza Mughal]] während des Aufstands niemals eine aktive Rolle.<ref> Dalrymple, S. 221f</ref>

Am Abend des 11. Mai war Delhi vollständig in den Händen der Aufständischen. Indische Soldaten und Zivilisten hatten den gesamten Tag über gezielt die Häuser der in Delhi lebenden Europäern, Eurasier und christianisierten Indern aufgesucht, diese geplündert und gebrandschatzt und die Einwohner erschlagen. Diejenigen, die die ersten Übergriffe überlebten, flohen in kleinen isolierten Gruppen aus der aufständischen Stadt. Die meisten von ihnen versuchten, britische Militärstützpunkte in der Umgebung von Delhi zu erreichen. Auf ihrer Flucht fanden sie gelegentlich Schutz und Hilfe durch Inder, häufig waren sie sowohl den Übergriffen indischer Zivilbevölkerung als auch herumstreifender Truppenteile ausgesetzt.<ref> Eine detaillierte Schilderung der Flucht der Europäer aus Delhi findet sich u.a. bei Dalrymple, S. 143- 193 und Spilsbury, S. 35 - 69</ref> Die Brutalität der Übergriffe diente den Briten später als Rechtfertigung ihrer nicht weniger grausamen Vergeltungsmaßnahmen. In einem häufig angeführten Vorfall fand eine Gruppe von etwa 52 unbewaffneten Männern, Frauen und Kinder zunächst für einige Tage Schutz im Roten Fort. Am 16. Mai jedoch wurden sie trotz der Proteste des Großmoguls in einem Hof des Roten Forts von muslimischen Bediensteten des Hofes mit dem Schwert hingerichtet. <ref> Dalrymple, S. 222-224 und James, S. 240 f.</ref>

=== Ausweitung des Aufstands ===
Der Aufstand dehnte sich ausgehend von Delhi auf den größten Teil Nord- und weite Teile Zentralindiens aus. Zu den aufständischen Zentren zählte neben Delhi [[Lakhnau]], [[Kanpur]], Jhansi, [[Bareli]], [[Arrah]] und [[Jagdishpur]]. Die Aufständischen fanden häufig Unterstützung bei indischen Fürsten; viele der indischen Fürsten unterstützten allerdings in den Auseinandersetzungen die Briten, da eine Veränderung der sozialen Ordnung ihre Machtbasis gefährdete.<ref> James, S. 243</ref>
In dem Machtvakuum, das nach dem Zusammenbruch britischer Oberherrschaft entstand, kam es auch innerhalb der indischen Bevölkerung zu Unruhen und Übergriffen. Betroffen waren vor allem Geldverleiher und Kaufleute, denen vorgeworfen wurde, bislang von der britischen Herrschaft profitiert zu haben. Bei den Zivilisten, die sich den aufständischen Soldaten anschlossen, handelte es sich nach zeitgenössischen britischen Berichten um „''badmashes''“ oder Kleinkriminelle; häufig dürfte es sich jedoch bei den Beteiligten um Angehörige der ärmsten indischen Schichten gehandelt haben, die in den Plünderungen eine Möglichkeit sahen, einen relativen Wohlstand zu erreichen.<ref> James, S. 244f</ref>

Die jeweiligen britischen Kräfte vor Ort waren in den ersten Wochen des Aufstands häufig nur unzureichend über die Ereignisse in Delhi und anderen Garnisonsorten informiert: Telegraphenverbindungen waren teilweise unterbrochen und Boten erreichten die anderen Garnisonsstädte häufig nicht. Viele der britischen Offiziere waren von der Loyalität der ihnen unterstellten indischen Truppen überzeugt und bezweifelten, dass diese sich dem Aufstand anschließen würden, oder waren davon überzeugt, durch entschiedenes Handeln jegliche Meuterei im Keim ersticken zu können.<ref> James, S. 241 -243</ref> Andere gingen davon aus, dass meuternde Truppen sehr schnell nach Delhi, dem Zentrum des Aufstands, abziehen würden. Trotz Unterschieden in den Details gleicht der jeweilige Aufstandsverlauf dem in Delhi: Indische Soldaten wandten sich zunächst gegen ihre eigenen Offiziere, indische Zivilisten schlossen sich den aufständischen Soldaten an und in der Folge kam es zur Ermordung britischer Militärangehörige und europäischer und eurasischer Zivilisten durch die Aufständischen.

Drei Ereignisse sind für die britische und indische Geschichtsschreibung besonders signifikant. Das [[Belagerung von Kanpur|Massaker in Kanpur]] von wehrlosen britischen Frauen und Kindern galt Zeitgenossen wie dem angesehenen Historiker Sir [[George Trevelyan]] als „''die schrecklichste Tragödie unseres Zeitalters''“ oder „''das größte Desaster für unsere Rasse''“.<ref> Beide Zitate stammen aus George Trevelyan: ''Cawnpore'', 1865 – beide zitiert nach Herbert, S. 183 </ref> Der Widerstand der Belagerten in Lakhnau wird bis heute in der britischen Geschichtsschreibung als heldenhaft verehrt. In Indien verehrt man dagegen die Rani von Jhansi, die sich an die Spitze aufständischer Truppen stellte, als Volksheldin. Der jeweilige Ablauf dieser drei Ereignisse ist wegen ihrer Signifikanz im Folgenden detaillierter dargestellt.

==== Die Massaker in Kanpur ====
→ ''Hauptartikel: [[Belagerung von Kanpur]]; [[Bibighar]]; [[Massaker am Sati Chowra]]''
[[Datei:Nana Sahib with his escort.jpg|thumb|Nana Sahib zieht mit seiner Eskorte den aufständischen indischen Truppen entgegen]]
Den Aufstand in Kanpur führte der etwa 35-jährige [[Brahmane]] [[Nana Sahib]] an, ein Adoptivsohn von [[Baji Rao II.]], dem letzten [[Peshwa]] von [[Pune]]. Pune zählte zu den bedeutenderen [[Marathen]]-Fürstentümer, sein Herrscher Baji Rao war von den Briten entthront und in [[Bithur]] exiliert worden. Er erhielt bis zu seinem Tode 1851 eine großzügige jährliche Pensionszahlung durch die Briten, die seinem Adoptivsohn und Erben Nana Sahib verweigert wurde.<ref> James, S. 234</ref><ref> Ward, S. 34 - 40</ref> Nach dem Ausbruch des Aufstands baten Aufständische Nana Sahib, eine führende Rolle im Aufstand zu übernehmen. Nach anfänglichem Zögern wollte er zunächst die Sepoy-Truppen auf ihrem Weg nach Delhi anführen. Mitglieder seines Hofes brachten ihn jedoch davon ab, sich als hochrangiger Hindu dem muslimischen Großmogul in Delhi zu unterstellen.<ref> Ward, S. 168 - 170</ref> Nach der Beendigung des Aufstands gefundene Papiere legen nahe, dass Nana Sahib in Erwägung zog, nicht nur den Thron seines Adoptivvaters zurückzuerobern, sondern auch angrenzende Fürstentümer zu seinen Vasallen zu machen.<ref> Ward, S. 170 </ref><ref> Eine ausführlichere Charakterisierung von Nana Sahib findet sich bei Hibbert, S. 172 – 177</ref> Die Eroberung der an der [[Grand Trunk Road]] zwischen Delhi und [[Benares]] liegenden Stadt Kanpur sollte dazu der erste Schritt sein.

Die in Kanpur stationierten indischen Truppen umfassten 1857 drei Infanterieregimenter und eine Kavallerie sowie eine Kompanie Artillerie und damit etwa 3.000 Mann. Etwa 300 britische Soldaten taten in Kanpur Dienst. Überzeugt davon, dass aufständische Truppen sehr schnell nach Delhi abziehen würden, hatte der befehlshabende Generalmajor [[Hugh Wheeler (Offizier)|Hugh Wheeler]] wenige Anstrengungen unternommen, seine Garnison für eine mögliche Belagerung herzurichten. Als sich die Anzeichen für einen Aufstand mehrten, zogen sich die in der Stadt lebenden Europäer und Eurasier hinter die Schanzeinrichtungen der Garnison zurück. In der Nacht des fünften Juni kam es dann zum Aufstand, der sehr schnell alle indischen Truppen in Kanpur erfasste.<ref> James, S. 248</ref> In der Garnison waren zu diesem Zeitpunkt knapp 1000 Menschen versammelt. Neben den 300 europäischen Soldaten zählten dazu etwa weitere einhundert europäische Männer, achtzig loyal gebliebene Sepoys, vierhundert Frauen und Kinder und eine Reihe indischer Bediensteter. Die Verteidiger verfügten über ausreichend Musketen und Munition, aber nur wenig Artillerie.<ref> Hibbert, S. 177</ref>
[[File:1858 Kanpur well monument.jpg|thumb|Der Brunnen in Kanpur, in denen die Körperteile der erschlagenen britischen Frauen und Kinder geworfen wurde]]
Der Beschuss der Garnison durch die aufständischen Truppen führte sehr schnell zu hohen Verlusten unter den dort Verbarrikadierten. Keines der Garnisonsgebäude war ausreichend stabil gebaut, um gegen Artilleriebeschuss zu bestehen, so dass die Belagerten nirgendwo Schutz vor dem Bombardement fanden. Es fehlte an Wasser und Nahrungsmittel. In der Hoffnung auf Verstärkung aus Lakhnau hielten die Belagerten bis zum 25. Juni durch. Danach nahmen sie das Kapitulationsangebot von Nana Sahib an, das ihnen einen ungehinderten Abzug mit Booten nach [[Allahabad]] in Aussicht stellte. Während die Briten am Gangeshafen [[Massaker am Sati Chowra|Sati Chowra]] die Boote bestiegen, eröffneten indischen Truppen das Feuer. Die britischen Männer, die das Feuergefecht überlebten, wurden nahezu alle an Ort und Stelle umgebracht. Es überlebten dagegen etwa 125 Frauen und Kinder.<ref> James, S. 251 </ref> Sie wurden nach Kanpur als Gefangene zurückgebracht, wo sie gemeinsam mit anderen Frauen und Kinder, überwiegend Flüchtlinge der [[Belagerung von Fatehgarh]], im [[Bibighar]] eingesperrt wurden.

Als sich britische Truppen unter Befehl von [[Henry Havelock]] Kanpur näherte, ließ Nana Sahib am 16. Juli die nach Kanpur gebrachten Frauen und Kinder hinrichten. Da sich seine Truppen dieser Tat verweigerten, wurden im Basar von Kanpur Metzger requiriert, die die noch lebenden 73 Frauen und 124 Kinder mit Schwertern, Äxten und Beilen erschlugen. Die Körperteile wurden zum größten Teil in einen Brunnen geworfen.<ref> James, S. 252 </ref> Die britischen Truppen tragen einen Tag nach diesem Vorfall in Kanpur ein und fanden an der Stelle der Massenexekution noch Kleiderreste, Haare und einzelne Körperteile.<ref> David (2006), S. 315 </ref> Der Vorfall war für die britischen Truppen der Anlass, den bislang schon sehr grausam geführten Vergeltungsfeldzug mit noch größerer Härte zu führen.<ref> Herbert, S. 4 </ref>

==== Die Belagerung von Lakhnau ====
→ ''Hauptartikel: [[Belagerung von Lakhnau]]''

Anders als in Kanpur war der Oberbefehlshabende von Lakhnau, Sir [[Henry Lawrence]], sehr früh davon ausgegangen, dass auch diese Stadt vom Aufstand betroffen sein werde. In Lakhnau war das 32. Regiment der britischen Armee sowie vier Regimenter der britischen Ostindien-Kompanie stationiert <ref> James, S. 248</ref>; Henry Lawrence wagte es jedoch nicht, diese vier Regimenter zu entwaffnen, weil er befürchtete, dass dies der zündende Funken für den Ausbruch des Aufstands würde. Bereits ab dem 23. Mai ließ er Nahrungsmittel einlagern. Seine eigene Residenz und 16 daran angrenzenden Gebäuden boten bessere Verteidigungsmöglichkeiten als die eigentliche Garnison, so dass er diese für eine Belagerung vorbereiten ließ, indem Bastionen errichtet und Verteidigungsgräben gezogen wurden.<ref> Wilson, S. 216 </ref><ref> Ward, 243 </ref> Dort verschanzten sich 855 britische und 712 indische Offiziere und Soldaten sowie insgesamt 1433 britische Zivilisten. Unter den Zivilisten befanden sich hunderte von Frauen und Kinder.
[[File:MadrasSappersMiners-Lucknow.jpg|thumb|Soldaten aus Madras, die unter Colin Campbell im November 1857 Lakhnau zurückeroberten]]
Die meisten der Lakhnau stationierten indischen Truppen meuterten ab dem 30. Mai, dem muslimischen [[Fest des Fastenbrechens]]. Die intensive Belagerung der Residenz durch etwa 8.000 Sepoys und mehrere hundert indische Zivilisten begann jedoch erst am 30. Juni 1857. Henry Lawrence hatte zuvor noch versucht, die aufständischen Truppen in einer offenen Schlacht zu stellen. Diese Entscheidung erwies sich als Fehler. Auf Seiten der Briten fielen 172 Europäer und 193 Inder, bevor sie sich wieder in die Garnison zurückziehen konnten.<ref> David (2006), S. 317 </ref> Auf Grund der schlechten hygienischen Bedingungen brach in der Residenz sehr bald [[Cholera]] und [[Ruhr]] aus, die ähnlich viele Opfer forderte wie der Beschuss durch die aufständischen indischen Truppen. Durchschnittlich starben täglich mehr als 20 der Belagerten; viele der Opfer waren Kinder.<ref> David (2006), S. 334 </ref> Henry Lawrence war eines der Todesopfer und erlag zu Beginn der Belagerung einer Schussverletzung. Ende August verteigigten nur noch 650 Mann die Garnison; weitere 120 waren zu krank oder zu verletzt, um sich an der Verteidigung zu beteiligen. Von den Frauen und Kindern lebten nur noch 450.<ref> David (2006), S. 334 </ref>
Am 25. September konnten von Sir Henry Havelock und Sir [[James Outram]] geführte Truppen die belagerte Residenz verstärken. Ursprüngliches Ziel von Havelock und Outram war ein [[Entsatz]] der belagerten Residenz. Die Truppen erlitten aber bei der Annäherung an die belagerte Residenz so hohe Verluste, dass dieses Vorhaben aufgegeben werden musste. Aus Sicht von [[Colin Campbell, 1. Baron Clyde|Sir Colin Campbell]], dem neuen Oberbefehlshaber in Indien, war die Befreiung von Lakhnau von so hohem strategischen und symbolischen Wert, dass er seine Militärkräfte darauf konzentrierte. Dem britischen Zivilbeamten [[Thomas Henry Kavanagh]] gelang es in der Nacht vom 9. November, sich durch die indischen Linien zu schleichen und Sir Campbell einen Plan zu überbringen, auf dem die Positionen der indischen Truppen eingezeichnet waren. Auf Grund dieser Informationen umging Sir Campbell Lakhnau zunächst in weitem Bogen und griff dann von Osten aus an, wo die aufständischen Truppen weniger stark konzentriert waren. Die Einnahme von Lakhnau gelang, so dass am 18. November die Belagerten aus Lakhnau evakuiert werden konnten. Die britischen Kräfte waren jedoch zu schwach, um die Stadt zu halten und Lakhnau wurde erneut den Aufständischen überlassen.<ref> David (2006), S. 334 bis S. 341 </ref>

Die Verteidigung der Residenz, an der sowohl britische Soldaten als auch Zivilisten gleichermaßen Anteil hatten, wird in der britischen Geschichtsschreibung als beispielhaft couragiert und heldenhaft verehrt. Zur Legendenbildung trug bei, dass während der gesamten Belagerung ununterbrochen ein [[Union Jack]] über der Residenz flatterte.<ref> Wilson, S. 217 </ref> Mehreren der Verteidiger wurde später das [[Victoria-Kreuz]], die höchste britische Tapferkeits-Auszeichnung verliehen, weil sie in verschiedenen Ausfällen versuchten, Teile der Artillerie der Belagerer auszuschalten.

==== Jhansi ====
Die etwa 30-jährige verwitwete Rani von Jhansi, [[Lakshmibai]], schloss sich offiziell den Aufständischen erst an, als im März 1858 britische Truppen auf Jhansi zumarschierten.
[[File:Ranilaxmibai-1.JPG|thumb|Denkmal zu Ehren der Rani von Jhansi, Lakshmibai in Agrar]]
[[File:1882 jhansi fort.jpg|thumb|Die Festung von Jhansi, Foto aus dem Jahre 1882]]
Lakshmibai war als Vierzehnjährige mit dem deutlich älteren [[Raja]] von Jhansi Gangadhar Rao verheiratet worden. Aus der Verbindung ging ein Sohn hervor, der sehr jung starb. Kurz vor seinem Tode adoptierte Gangadhar Rao einen Sohn, der ihm auf den Thron nachfolgen sollte. Bis zu seiner Volljährigkeit sollte Lakshmibai für ihn die Regentschaft ausüben. Entsprechend der [[Doctrine of Lapse]] annektierte jedoch [[James Andrew Broun-Ramsay, 1. Marquess of Dalhousie|Lord Dalhousie]] nach dem Tode des Raja auch diesen [[Fürstenstaat]]. Die entthronte Rani durfte weiterhin im Palast residieren und erhielt eine großzügig bemessene Pension. Die Rani protestierte gegen diese Behandlung in London; ihrem Einspruch wurde jedoch nicht stattgegeben. Unter den in Jhansi lebenden Briten stand die Rani in hohem Ansehen. Als sich die vor Jhansi stationierten indischen Soldaten im Juni 1857 dem Aufstand anschlossen, stellten sich die dort lebenden Europäer und Eurasier unter ihren Schutz. Die Rani konnte jedoch nicht verhindern, dass die meisten von ihnen im Juni 1857 durch aufständische indische Soldaten ermordet wurden. Gegenüber den Briten verneinte die Rani jegliche Rolle in dem Massaker und betonte ihre Loyalität.

In den folgenden Monaten drangen Truppen benachbarter Fürstenstaaten in ihr Gebiet ein. Nachdem ihre Appelle um britische Hilfe vergeblich blieben, verteidigte sie ihr Fürstenstaat erfolgreich mit Hilfe aufständischer Truppen gegen die Invasoren. Als im März 1858 britische Truppen auf Jhansi zumarschierten, um auch dort für die an Europäern und Eurasiern begangenen Massaker Rache zu nehmen, entschied sie sich, die Festung Jhansi an der Spitze der Aufständischen zu verteidigen.<ref> David (2006), S. 350 </ref> Ihr zu Hilfe kam indischen Rebellenführer [[Tantya Tope]] mit einer Truppe in Stärke von 22.000 Mann. Auf Grund taktischer Fehler wurden am 1. April die Truppen unter Führung von Tantya Tope von einer zahlenmäßig deutlich unterlegenen britischen Truppe geschlagen.<ref> David (2006), S. 350 und S. 351 </ref> Jhansi wurde am 3. Oktober von den Briten eingenommen. Dabei kamen mehr als 3.000 Inder ums Leben. Bei den meisten der Opfer handelte es sich um unbewaffnete Zivilisten.<ref> David (2006), S. 351 </ref> Der Rani von Jhansi gelang gemeinsam mit ihrem Adoptivsohn und fünfzig Anhängern die Stadt zu verlassen, bevor die Briten sie festsetzen konnten. Am 22. Mai griffen britische Truppen die Festung Kalpi an. Die Rani von Jhansi führte persönlich den Gegenangriff indischer Truppen. Die indischen Truppen unterlagen auch in dieser Schlacht. Erneut gelang der Rani gemeinsam mit anderen Anführern des Aufstands wie Tantya Tope, dem Nawab von Banda und Rao Sahib, dem Neffen von Nana Sahib zu fliehen. In Gwalior konnten sie die dort stationierten indischen Truppen überreden, sich dem Aufstand anzuschließen. Der den Briten loyal gebliebe Maharath floh aus dem Distrikt. Sir Hugh Rose war mit seinen Truppen den Fliehenden gefolgt. Am 16. Juni erreichte er die Außenbezirke der Stadt Gwalior. Am 17. Juni kam die Rani von Jhansi bei einem Kavalleriegefecht ums Leben. Nach einem Augenzeugenbericht trug sie die Uniform eines Sowars und griff einen der englischen Reiter an. Dabei wurde sie selber vom Pferd geworfen und erlitt eine Verletzung, vermutlich durch einen Hieb des britischen Kavalleristen mit dem Säbel. Sie schoss noch mit einer Pistole auf ihren Angreifer. Dieser tötete sie jedoch mit einem Gewehrschuss.<ref> David (2006), S. 351 und S. 352 </ref>

=== Gegenangriff der Briten ===
==== Truppenstärke der Briten ====
Viele Inder verhielten sich in den ersten Wochen des Aufstands neutral, weil sie eine schnelle und aggressive britische Militärreaktion erwarteten. Diese blieb aus, weil in den ersten Wochen nach den Ausbruch des Aufstands die gesamte zu Verfügung stehende britische Militärstärke aus fünf Regimentern bestand, die alle benötigt wurden, um die wichtigsten britischen Militärstandorte zu schützen.<ref> James, S. 245 f</ref> Eine Rückeroberung Delhis durch die Briten unterblieb zunächst, weil es an Truppen und Artillerie fehlte.<ref> James, S. 253 </ref> Die wenigen mobilen Einsatztruppen, die die Briten bilden konnten, bestanden neben regulären britischen Truppen zum Teil aus Freiwilligen aus Benares und Allahabad, einigen Sikh-Regimentern, jungen Eurasiern aus den Militärwaisenhäusern in Madras sowie strafversetzten Soldaten aus Kalkutta.<ref> Ward, S. 392: Die strafversetzten Soldaten aus Kalkutta bezeichnet Ward als ''the usual crapulous und semisuicidal deserters and derelicts dragged out of the grog shops and flophouses of Calcutta.''</ref> Sie wurden durch Krankheiten und die Hitze in ihrer Kampffähigkeit erheblich beeinträchtigt. Während der Schlacht um Kanpur am 16. Juli, bei der die britischen Soldaten Gewaltmärsche in der größten Mittagshitze absolvieren mussten, fielen mehr als 100 von ihnen allein auf Grund der unerträglichen Hitze in Ohnmacht.<ref> Ward, S. 402 </ref> Der erste Versuch Lakhnau zurückzuerobern, musste abgebrochen werden, weil Henry Havelock kurz vor Lakhnau nur noch über 700 einsatzfähige Männer verfügte.<ref> James, S. 253 </ref>

Den ersten Sieg der Briten seit Beginn des Aufstands errang Henry Havelock beim Vormarsch auf Kanpur am 12. Juli 1857.<ref> Ward, S. 396 </ref> Im August 1857, als der neue Oberbefehlshaber Canning in Kalkutta eintraf, hatten die Briten mehrere wichtige taktische Siege erungen. Andere Schlachten wie in Chinug und Sasia hatten die aufständischen Truppen für sich entscheiden können. Delhi, Agra und Lakhnau wurden nach wie vor von aufständischen Truppen belagert. Aufstände hatte es in [[Jhansi]], [[Nowgong]], [[Banda (Staat)|Banda]], [[Gwalior]], [[Indore]], [[Mhow]], [[Sagar]] und [[Sehore]] gegeben. Weite Teile von [[Bundelkhand]], [[Bhopal]] und [[Sagar]] sowie [[Nerbudda]] waren in der Hand von Aufständischen. In Teilen von Zentralindien behielten die Briten nur Dank eines schnellen Abzugs von aufständischen Truppen nach Delhi die Oberhand.<ref> David (2006), S. 324 und S. 325 </ref> Auf indischer Seite fehlte es während der ersten Monate, als sie den Aufstand für sich hätten entscheiden können, an einem konzertierten und abgestimmten Vorgehen gegen die Briten.<ref> James, S. 253</ref> Negativ wirkte sich für die indische Seite aus, dass sie über keine Offiziere verfügten, die Erfahrung im Führen größerer Truppen hatten oder in Schlachttaktik ausgebildet waren.<ref> David (2006), S. 325 </ref><ref> Ward, S. 403</ref> Den Briten gelang es daher häufig, zahlenmäßig weit überlegene aufständische Truppen zu schlagen. Die britischen Truppen waren außerdem besser ausgerüstet. Auf britischer Seite kam überwiegend das Enfield-Gewehr zum Einsatz, dass der älteren Bess-Brown-Muskete in Reichtweite und Treffgenauigkeit deutlich überlegen war.<ref> David (2006), S. 325 </ref>
Die Briten benötigten mehrere Monate, um ausreichend Truppen zusammenzuziehen, um den Aufstand wirksam niederschlagen zu können. Mehrere schottische Regimenter, die eigentlich auf eine Militärmission nach China entsendet wurden, wurden nach Kalkutta umgeleitet. <ref> James, S. 246</ref> Andere Truppen wurden aus [[Myanmar|Birma]] und den loyalen Provinzen in die aufständischen Regionen Indiens versetzt. Nepal schickte [[Gurkha]]-Soldaten, um die Briten zu unterstützen und insbesondere im [[Panjab]] wurden [[Sikh]]s angeworben. Auch etliche Fürsten blieben entweder neutral oder wurden Verbündete der Briten im Kampf gegen die Rebellen, da sie sich keine Rückkehr der Mogulen wünschten. Die so genannten Bombay- und Madras-Armeen der Britischen Ostindien-Kompanie blieben letztlich loyal. Im Jahr 1858 verfügten die Briten in Bengalen insgesamt über 46.400 britische und 58.000 indische Soldaten und damit über ausreichend Kräfte. <ref> James, 254 </ref>

==== Form der britischen Kriegsführung ====
[[Datei:Vereshchagin-Blowing from Guns in British India.jpg|thumb|Gemälde von [[Wassili Wassiljewitsch Wereschtschagin|Wassili Wereschtschagin]] aus den 1880er Jahren. Exekution in Britisch-Indien.]]
[[Datei:Indian Rebellion Hangings.gif|thumb|Hängung indischer Rebellen, Albumen von [[Felice Beato]]]]
Der Umstand, dass es im Zuge der Erhebung zu Morden an britischen [[Zivilist]]en gekommen war, ließ die britischen Militäraktionen zu einem Rachefeldzug werden. Als „''sei die Ermordung von britischen Frauen und Kindern nicht genug''“<ref> A. N. Wilson: ''The Victorians'', London 2002, ISBN 0-09-945186-7, S. 209 </ref>, hatten zeitgenössische Berichte detailliert von Vergewaltigungen und Folter an britischen Frauen und Kindern während des Indischen Aufstands berichtet. Sie ergingen sich dabei in so blutrünstigen Details, dass Christopher Herbert die Darstellungsform als für viktorianische Verhältnisse ungewöhnlich explizit und halb pornographisch beschreibt.<ref> Herbert, S. 183 </ref> Die zugeschriebenen Folterungen und Vergewaltigungen erwiesen sich bei den anschließenden Untersuchungen nach der Niederschlagung des Aufstands zwar als nahezu vollständig haltlos<ref> A. N. Wilson: ''The Victorians'', London 2002, ISBN 0-09-945186-7, S. 209 </ref>, die vorgeblichen Vorfälle waren jedoch der Anlass für brutale Vergeltungsmaßnahmen. ''Die Löwenherzen unserer Soldaten gieren nach Rache an diesen blutdürstigen Verbrechern'' ist einer der charakteristischen Sätze, den britische Soldaten an ihre Familie nach Hause schrieben.<ref> Brief des Private Potiphar der 9th Lancers, zitiert nach James, S. 256</ref> „''Bestraft''“ wurden Inder unabhängig von Geschlecht und Alter und ihrer Beteiligung an dem Aufstand. Britische Offiziere ließen es zu, dass die von ihnen geführten britischen und indischen Truppen vergewaltigten und folterten, förderten teilweise dieses Vorgehen und nutzten dabei Rivalitäten zwischen einzelnen indischen Ethnien aus. Insbesondere Sikhs nahmen häufige grausame Rache an aufständischen Sepoys, die wenige Jahre zuvor während des [[Sikh-Krieg]]es noch für die Briten gegen sie gekämpft hatten.<ref> James, S. 256 </ref> Die meisten der Kriegsverbrechen wurden jedoch entweder direkt von Briten oder auf ihren Befehl begangen. Typisch ist das Beispiel von Kanpur, wo am Morgen nach der Rückeroberung der Stadt die Disziplin innerhalb der britischen Truppen weitgehend zusammenbrach. Angestachelt von Alkohol, dem Anblick des blutverschmierten Bibighars und den Gerüchten über die Schändung englischer Frauen fielen britische Soldaten über den indischen Teil der Stadt her, um dort zu plündern und zu vergewaltigen.<ref> Ward, S. 439 </ref> Der über die Untaten entsetzte Henry Havelock ließ daraufhin sämtlichen Alkohol in Kanpur aufkaufen und das Lager seiner Truppen etwas weiter außerhalb der Stadt errichten. Britischen Soldaten, die sich an Plünderungen beteiligten, drohte er mit der Erhängung.<ref> Ward, S. 443 </ref>

Während der Rückeroberung wurden Dörfer niedergebrannt, wobei die britischen Truppen den Tod von Alten und Kindern in Kauf nahmen und es kam zu Massenerhängungen und -erschießungen. Viele Briten berichteten in ihren Briefen nach Hause von der stoischen Ruhe, mit denen Sepoys zu ihrer Hinrichtung gingen und schrieben diese der Gewißheit der Sepoys, dass sie als Moslems nach dem Tode ins Paradies aufgenommen werden würden beziehungsweise als Hindu mit ihrer Wiedergeburt rechneten.<ref> Ward, S. 441 und S. 442</ref> Zunehmend legten britische Soldaten Wert darauf, dass die Verurteilten vor ihrer Hinrichtung gedemütigt und zu Handlungen gezwungen wurden, die den religiösen Pflichten ihrer jeweiligen Religion widersprachen. Moslems wurden gezwungen, vor ihrer Hinrichtung Schweinefleisch zu essen oder wurden mit Schweinefett eingeschmiert.<ref> James, S. 252 </ref> Hindus wurden begraben statt verbrannt, wie es ihre Religion forderte und mussten vor ihrer Hinrichtung ihr Grab selber schaufeln. Auch die Anwendung einer traditionellen Hinrichtungsweise der Mogulen, bei der die zu Tode verurteilten vor Kanonen gebunden und mit einem Schuss zerrissen wurden, hatte zum Ziel, die religiösen Gefühle der Verurteilten zu verletzten. Offiziere wie [[James Neill]], den der zeitgenössische Politiker [[George Trevelyan]] als ein Monster bezeichnete, das verantwortlich für mörderische Vergeltungsmaßnahmen sei<ref>Herbert, S. 192</ref>, zwangen Hindus dazu, Teile des blutverschmierten [[Bibighar]]s mit ihrer Zunge rein zu lecken.

Die Anzahl der indischen Opfer ist nicht bekannt. Sie liegt aber deutlich über den Opfern auf britischer Seite.<ref> Wilson, S. 207 </ref>

==== Die Rückeroberung von Delhi ====
[[Datei:The capture of the king of delhi by Captain Hodson.jpg|thumb|Die Gefangennahme des Großmoghuls am 19. September 1857]]
Die Niederschlagung der Aufständischen durch die Briten konzentrierte sich im wesentlichen auf drei Schauplätze: Die Hauptverbindungsstraße, die durch Kanpur und Lakhnau in den Süden von [[Oudh]] führte, Zentralindien sowie die Region um Delhi. Delhi hatte als Zentrum des Aufstands eine besondere symbolische Bedeutung, da hier mit [[Bahadur Shah Zafar II.]] das nominelle Oberhaupt des Aufstands residierte und sich hier die meisten der aufständischen Truppen versammelt hatten. Anfang August 1857 befanden sich zwischen 30.000 und 40.000 aufständische Sepoys in der Stadt.<ref> James, S. 258 </ref> Auf dem Höhenkamm gegenüber der nordwestlichen Stadtmauer hatte sich die britische Delhi Field Force verschanzt. Obwohl diese nur über 7.000 Mann verfügte, von denen über ein Viertel wegen Krankheit, Verwundung und Erschöpfung nicht einsatzfähig war, gelang es den Briten, ihre Position zu halten. Die aufständischen Sepoys hatten ihre Gegner mit Artilleriebeschuss und einer Serie couragierter Angriffe zermürbt und ihnen hohe Verluste zugefügt. Es kam jedoch nie zur finalen Eroberung der britischen Position – nach Ansicht vieler moderner Historiker lediglich, weil es den indischen Aufständischen an geeigneten und allseits akzeptierten militärischen Führern mangelte.<ref> siehe beispielsweise James, S. 258 bis 259 oder - für eine sehr detaillierte Schilderung der Ereignisse in Delhi - Dalrymple, S. 264 bis S. 364 </ref> Die Ausdauer der Briten sorgte im aufständischen Delhi zunehmend für Unruhe, da absehbar war, dass britische Truppen bald die auf dem Höhenkamm Verschanzten verstärken würde. Mehr als 10.000 der aufständischen Truppen verließen zwischen dem 21. und 25. August die Stadt.<ref> James, S. 259 </ref> Britische Verstärkung traf am 4. September ein und am 14. September begann die Rückeroberung von Delhi, die sich bis zum 20. September hinzog. Das Versteck von Bahadur Shah Zafar II. auf dem Areal des [[Humayun-Mausoleum]]s wurde von seinem Schwiegersohn verraten und der Großmoghul von dem britischen Offizier [[William Hodson]] gefangen genommen. Zwei seiner Söhne sowie einer seiner Enkel wurden unmittelbar nach der Gefangennahme durch William Hodson erschossen.<ref> James, S. 260 </ref> In Delhi wiederholten sich brutalen Vergeltungsmaßnahmen durch die britische Seite. Die Stadt wurde außerdem systematisch geplündert.

==== Das Ende des Aufstands ====
[[Datei:Image-Secundra Bagh after Indian Mutiny higher res.jpg|thumb|[[Sikandar Bagh]] in [[Lakhnau]] nach der Erstürmung durch britische Truppen, Aufnahme von [[Felice Beato]], März 1858 - Im Innenhof liegen die verwesten Leichen indischer Aufständischer]]
Es gibt keinen Konsens, welche militärische Auseinandersetzung den Wendepunkt darstellt, ab dem die Briten sich einer vollständigen Niederschlagung des Aufstands sicher sein konnten. Die Rückeroberung Delhis durch die Briten war aus britischer Sicht ein wesentlicher Meilenstein zur Befriedung Indiens. Die aufständischen Truppen waren danach weitgehend segmentiert und das südöstlich von Delhi gelegene Oudh wurde zum neuen Zentrum des Aufstands. Im Herbst 1857 näherte sich eine 15.000 Mann starke [[Gwalior (Staat)|Gwalior-Truppe]] unter Führung von [[Tantya Tope]] erneut der Garnisonstadt Kanpur. Die Einwohner von Gwalior hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend neutral verhalten und sich an keinen Kämpfen beteiligt. Die Teilnahme von Gwalior-Truppen am indischen Aufstand zu diesem Zeitpunkt stellte potentiell die stärkste Gefährdung der bis zu diesem Zeitpunkt erreichten britischen Erfolge dar. Die Gwalior-Truppen konnten jedoch am 6. Dezember von britischen Truppen unter Führung von Colin Campbell gestellt und besiegt werden.<ref> James, S. 261 </ref> Tantya Tope konnte entkommen. Obwohl er keinerlei militärische Ausbildung besaß, gilt Tantya Tope als einer der fähigsten indischen Militärführer während des Aufstands.<ref> James, S. 256 </ref> Er hatte zunächst Truppen des Nana Sahibs kommandiert und vor allem durch [[Guerillakrieg|Guerilla-Angriffe]] den Briten empfindliche Niederlagen zugefügt. Er spielte im Jahre 1858 insbesondere bei den Kämpfen um Jhansi (siehe oben) eine wesentliche Rolle. Er wurde am 7. April 1859 von seinen eigenen Leute verraten und am 18. April von den Briten erhängt.<ref> James, 262 </ref>

Die Rückeroberung Lakhnaus hatte neben dem strategischen Wert dieser Garnisonstadt auch hohe symbolischen Wert. Lakhnau war nach dem Abzug der britischen Truppen am 18. November 1857 zunächst wieder in indischer Hand. Ende Februar 1858 führte Colin Campbell erneut britische Truppen zum Angriff auf Lucknow. Nach mehrtägigen Straßenkampf fiel Lakhnau am 15. März wieder an die Briten. Campbell führte danach seine Truppen weiter nach Oudh, um dort nacheinander die fragmentierten aufständischen indischen Truppen zu schlagen. Am 7. Mai war auch [[Bareli]] wieder in britischer Hand.

== Auswirkungen ==
=== Reaktionen in Großbritannien ===
Nach dem Urteil des 1811 in Indien geborenen [[William Thackeray]] waren die Kenntnisse seiner britischen Zeitgenossen über Indien sehr gering. Nach seiner Ansicht war es für viele seiner Mitbürger vor dem Ausbruch von 1857 ein Land mit märchenhaften Zügen und großem Reichtum. Die meisten hielten seine Einwohner für schwache, friedliebende Anhänger abergläubischer Religionen. Für die britische Mittel- und Oberschicht war Indien nach wie vor das Land, in dem nicht erbberechtigte jüngere Söhne Karriere machen konnten. Nur eine sehr geringe Anzahl von Briten hatten eine Vorstellung von Indischer Sprache, Literatur und Philosophie oder genauere Kenntnisse der Indischen Geschichte.<ref> William Thackeray zitiert nach James, S. 279 bis S. 281 </ref> Als die ersten Nachrichten über den Aufstand in Merath und Delhi Großbritannien am 27. Juni 1857 erreichten <ref> James, S. 278 </ref>, traf es die britische Bevölkerung mit traumatischer Wucht. Viele nahmen den Aufstand in Indien als Zeitenbruch und große nationale Krise wahr, forderten Rache für die ermordeten Briten und verehrte Offiziere wie James Neill, [[John Nicholson (Offizier)|John Nicholson]], Henry Havelock, Colin Campbell und William Hodson als Heroen.<ref> Herbert, S. 2 </ref> [[Charles John Canning]], der sich darum bemühte, den Indischen Aufstand mit Augenmaß zu beenden, wurde in der Presse als „''Timid Canning''“ oder „''Clemency Canning''“ verspottet. Unterstützung fand er bei [[Victoria (Vereinigtes Königreich)|Queen Victoria]], die sich besorgt über die unchristlichen Rachegelüste ihrer Landsleute zeigte und „''mit Vehemenz eine undifferenzierte Verurteilung der Sepoys ablehnte''“.<ref> Wilson, S. 219 </ref>
[[Datei:JusticeTenniel1857Punch.jpg|thumb|''Gerechtigkeit'' - zeitgenössische Karikatur im Magazin Punch]]
Eine große Anzahl gebildeter Briten stellte desillusioniert eine große Kluft zwischen dem eigenen nationalen Selbstbild und der Fremdwahrnehmung ihrer vermeintlich dankbaren imperialen Subjekte fest.<ref> Herbert, S. 16 bis 17</ref> Große Teile der Presse prägten zwar ein stereotypes Bild vom vergewaltigenden, folternden und verräterischem Sepoy, sehr bald setzte aber eine differenzierte Berichterstattung ein. [[William Howard Russell]], ein Kriegskorrespondent der Times, war ab Herbst 1857 in Indien und berichtete kritisch über die Niederschlagung des Aufstands. Er prophezeite einen Zusammenbruch des Britischen Empires aufgrund eines politischen und moralischen Versagens des Imperialismus<ref> Herbert, S. 65 </ref> und konfrontierte seine Leser mit den Kriegsverbrechen, die die britische Seite beging. In seinem später veröffentlichten indischen Tagebüchern<ref> William Henry Russel: ''My Diary in India, in the Year 1858-9''</ref> hielt er fest, dass die Aufständischen in Oudh in einem patriotischen Krieg ihr Vaterland verteidigten und deshalb als ehrenhafte Feinde zu behandeln seien.<ref> Herbert, S. 79 </ref> Ähnlich differenziert setzte sich die britische Historiographie mit den Ereignissen auseinander.<ref> Für eine detaillierte Bewertung zeitgenössischer Geschichtsschreibung siehe Herbert, S. 134 - S. 204</ref> Charles Ball zitierte in seiner ca 1860/1861 erschienen Geschichte des Indischen Aufstands<ref> Charles Ball: ''History of the Indian Mutiny'', 1860/1861 </ref> noch unkritisch und undifferenziert auch fragwürdige Augenzeugenberichte, er konfrontierte seine Leser aber auch mit der Brutalität der britischen Vergeltungsmaßnahmen.<ref> Herbert, S. 155 </ref> Sehr viel kritischer analysierte Montgomery Martin den Aufstand in Indien.<ref> R. Montgomery Martin: ''The Mutiny of the Bengal Army'', Band 2 des dreibändigen Werkes ''The Indian Empire'', erschienen 1861 </ref> Christopher Herbert bezeichnet dieses Werk als das, was am weitesten von der im 19. Jahrhundert weit verbreiteten eurozentrischen Sichtweise des Indischen Aufstands entfernt war, die den Aufstand vor allem als ein Drama mit diabolischen Sepoys und heroischen britischen Helden und Märtyrern darstellte.<ref> Herbert, S. 164 </ref>

Die britische Öffentlichkeit setzte sich mit den Ereignissen stärker auseinander als mit dem [[Krimkrieg]], obwohl die Zahl der britischen Opfer im Krimkrieg deutlich höher gewesen war. Die intensive Auseinandersetzung zeigt sich in einer sehr hohen Zahl an Erinnerungen, Biografien, bildlichen Darstellungen und nicht weniger als fünfzig bis sechzig Romane, die den Indischen Aufstand zum Thema ihrer Handlung machen.<ref> Herbert, S. 3 </ref>

=== Reoganisation Indiens ===
[[Datei:Bahadur Shah Zafar.jpg|thumb|Dieses Foto zeigt Bahadur Shah II. im Alter von 82 Jahren kurz vor seiner Verurteilung in Delhi 1858. Es ist möglicherweise die einzige Fotografie, die je von einem Mogulkaiser gemacht wurde]]
Nach der Niederwerfung des Aufstands wurde die Britische Ostindien-Kompanie aufgelöst, da die britische Regierung in deren Praktiken bei der Behandlung der indischen Bevölkerung die Hauptursache für den Aufstand sah. Britisch-Indien wurde zu einer formellen Kronkolonie. Der letzte, nur noch nominell regierende 80-jährige Großmogul [[Bahadur Shah Zafar II.]] wurde abgesetzt und nach Birma verbannt, wo er 1863 starb.

Im Verlauf der kommenden Jahrzehnte sollte die Kluft zwischen Briten und Indern, also Kolonialherren und imperialen Subjekten, noch weiter auseinanderbrechen. In der Vorstellungswelt der Briten manifestierten sich jene Stereotypen vergewaltigender, folternder und verräterischer Sepoys, die die britische Presse geprägt hatte <ref> Herbert, S. 16f.</ref>.
Die Briten waren in den folgenden Jahren um eine enge Bindung der indischen Aristokratie an die britische Administration bemüht und sahen von extensiven gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformen ab. Jegliche religiöse Interventionen wurden unterbunden, was zu einem Aufblühen der orthodoxen Strömungen des Hinduismus führte <ref> Judd, S. 90</ref>. Während Großbritannien unter der Politik der Nichteinmischung die agrarwirtschaftlichen Gewinne Indiens für sich zu sichern versuchte, erlebte die indische Gesellschaft eine lange Phase des Stillstands, oder, wie Klein es formuliert, „the development of underdevelopment“ <ref> Klein, S. 545-48</ref>.

Der am 8. April [[Erhängen|gehängte]] Mangal Pandey wird gemeinhin als erster Unabhängigkeitskämpfer Indiens verehrt. Die jugendliche Rani von Jhansi [[Lakshmibai]] wurde hier durch ihren standhaften Widerstand bei der Verteidigung der Festung Jhansi sowie in den nachfolgenden Gefechten und ihren frühen Tod zur Volksheldin Indiens (die „Jeanne d'Arc von Indien“)

== Orte der Erinnerung an den Aufstand von 1857 ==
[[File:PLAQUE KASHMIRI GATE.jpg|thumb|Steintafel am Kaschmirgate zur Erinnerung an die Rückeroberung am 14. September 1857]]
Eine Reihe von Gebäude und Orten, die während des Indischen Aufstands von 1857 eine Rolle spielten, erinnern heute mit Denk- und Grabmälern sowie Hinweistafeln an die Geschehnisse der Jahre 1857 bis 1859. Das Rote Fort in Delhi zählt seit 2007 zum [[UNESCO-Welterbe|Weltkulturerbe der Unesco]]. Dort ist unter anderem die private Audienzhalle (Diwan-i-Khas) öffentlich zugänglich, vor der sich am 11. Mai 1857 die aufständischen Sepoys versammelten. Das Kaschmirtor in Delhi, das zu Beginn des Aufstands und während der Rückeroberung, Ort heftiger Kämpfe zwischen indischer und britischer Seite war, ist heute ein Nationalmonument. In der Nähe davon befindet sich die St. James Church, in der zahlreiche Tafeln an britische Regimenter sowie Einzelpersonen erinnern, die während des indischen Aufstands eine Rolle spielten. In Merath finden sich auf dem Friedhof der ehemaligen britischen Garnison die Gräber der britischen Opfer, die am Abend und in der Nacht des 10. Mais 1857 ums Leben kamen.<ref> Spilbury, S. 352 </ref> [[Sikandar Bagh]], in dem während der Rückeroberung von Lakhnau zahlreiche Inder ums Leben kamen, ist wieder aufgebaut worden und beherbergt heute das [[National Botanical Research Institute]] von Indien. An der Stelle, an der sich die Garnison von Kanpur über Wochen verteidigte, wurde von den Briten kurz nach Beendigung des Aufstands eine große Kirche errichtet, die heute noch erhalten ist und in der auf Steintafeln die Namen der britischen Personen festgehalten sind, die während der Belagerung ums Leben kamen. Im Boden rund um die Kirche markieren Steine den Verlauf des Verteidigungswalls. Um den Brunnen, in den die Opfer des Massakers im Bibighar geworfen wurde, wurde von den Briten ein Park gestaltet, der bis zur Unabhängigkeit Indiens nur Europäern und indischen Christen zugänglich war. Der Park wurde nach der Unabhängigkeit Indiens umgestaltet. Denkmäler im Park erinnern an Nana Sahib und Tantia Tope. Der Baum, an dem die Briten 1857 hunderte Indern erhängten, auch wenn nur ein geringfügiger Anlass zu dem Verdacht bestand, dass sie an den Massakern beteiligt war, befindet sich gleichfalls in dem Park. Der Baum ist mittlerweile jedoch umgestürzt.<ref> Spilbury, S. 354 </ref>

== Literatur ==
* Sashi Bhusan Chaudhuri: ''English Historical Writings on The Indian Mutiny 1857-1859'', Calcutta 1979
* [[William Dalrymple]]: ''The Last Mughal - The Fall of a Dynasty, Delhi, 1857'', Bloomsbury Publishing, London 2006, ISBN 9780747587262
* Saul David (2003): ''The Indian Mutiny : 1857'', Penguin Books, 2003
* Saul David (2006): ''Victoria's Wars'', Penguin Books, London 2006, ISBN 978-0-141-00555-3
* Don Randall Don: ''Autumn 1857. The Making of the Indian Mutiny'', in: Victorian Literature and Culture (2003), S. 3-17
* Astrid Erll: ''Prämediation – Remediation. Repräsentationen des indischen Aufstands in imperialen und post-kolonialen Medienkulturen (von 1857 bis zur Gegenwart)'', Trier 2007
* [[Niall Ferguson]]: ''Empire. The Rise and Demise of the British World Order'', 2003, ISBN 0465023282.
* Christopher Herbert: ''War of no Pity. The Indian Mutiny and Victorian Trauma'', Princeton University Press, Princeton 2008, ISBN 978-0-691-13332-4
* Christopher Hibbert: ''The great mutiny : India 1857'', London [u.a.] : Penguin Books, 1988
* Lawrence James: ''Raj - The Making of British India'', Abacus, London 1997, ISBN 978-0-349-11012-7
* Dennis Judd: ''The Lion and the Tiger. The Rise and Fall of the British Raj, 1600-1947'', Oxford 2004
* John William Kaye: ''History of the Sepoy War in India'', London 1864-76
* Ira Klein: ''Materialism, Mutiny and Modernization in British India'', in: Modern Asian Studies, 34,3 (2000), S. 545-80.
* Tapti Roy: ''The politics of a popular uprising : Bundelkhand in 1857'', Delhi [u.a.] : Oxford Univ. Press, 1994
* Surendra Nath Sen: ''Eighteen fifty-seven'' (With a foreword by Maulana [[Abul Kalam Azad]]), Delhi : Min. of Information & Broadcasting, 1957
* Julian Spilsbury: ''The Indian Mutiny'', Weidenfeld & Nicolson, London 2007, ISBN 9780297846512
* P. J. O. Taylor: ''What really happened during the mutiny : a day-by-day account of the major events of 1857 - 1859 in India'', New Delhi [u.a] : Oxford Univ. Press, 1999
* Andrew Ward: ''Our bones are scattered - The cawnpore massacres and the indian mutiny of 1857'', John Murray Publishers, London 2004, ISBN 0-7195-6410-7
* A. N. Wilson: ''The Victorians''. Arrow Books, London 2003. ISBN 0-09-945186-7

== Weblinks ==
* [http://www.india-world.net/india/history/modern/1857.html The Great Mutiny: India's War for Freedom]

== Einzelnachweise ==
<references />

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[[no:Det indiske opprøret i 1857]]
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[[sv:Sepoyupproret]]
[[ta:சிப்பாய்க் கிளர்ச்சி, 1857]]
[[tl:Rebelyong Sepoy]]
[[uk:Повстання сипаїв]]
[[ur:جنگ آزادی ہند 1857ء]]
[[zh:印度民族起义]]

Version vom 20. August 2009, 16:19 Uhr

Tut mir leid, aber ich bin offensichtlich zu blöd eine Vorlage zu benutzen. Ich bitte um Hilfe! -- AntonReiser 15:48, 12. Mai 2008 (CEST)

Du hattest nur ein ] vergessen, ansonsten war alles richtig. Habs korrigiert.--Traeumer 16:16, 12. Mai 2008 (CEST)


Laut Ratsbeschluss soll die Entlastungsstraße "Toulouser Allee" heißen.