Tesla (Einheit) und Der arme Heinrich: Unterschied zwischen den Seiten
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'''Der arme Heinrich''' ist eine [[mittelhochdeutsch]]e Verserzählung von [[Hartmann von Aue]]. Sie entstand wahrscheinlich in den [[1190er]] Jahren und gilt als vorletztes der vier [[Epik|epischen]] Werke Hartmanns. |
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{{Formatvorlage Einheit |
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|Norm= [[SI-Einheitensystem]] |
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|Name= Tesla |
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|Symbol= <math>\mathrm{T}</math> |
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|SI= <math>\mathrm{1\, T = 1\, \frac{kg}{A\, s^2} = 1\, \frac{Wb}{m^2}}</math> |
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|Dimension= [[Magnetflussdichte]] |
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|Dim= <math>B</math> |
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|NamedAfter= [[Nikola Tesla]] |
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|DerivedFrom= |
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|SeeAlso= |
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'''Tesla''' ('''T''') ist eine abgeleitete [[SI-Einheitensystem|SI-Einheit]] für die [[magnetische Flussdichte]] oder [[Induktion (Elektrotechnik)|Induktion]]. Die Einheit wurde im Jahre [[1960]] auf der ''Conférence General des Poids et Mesures'' ([[CGPM]]) in [[Paris]] nach [[Nikola Tesla]] benannt. |
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Die kurze [[Versnovelle]] um einen hochadligen Ritter, der durch Gott mit [[Aussatz]] gezeichnet wird und nur durch das Herzblut einer sich freiwillig opfernden Jungfrau geheilt werden kann, verbindet [[höfisch]]e und geistliche Erzählmuster. Um 1200 gibt es kaum verwandte Erzählungen. |
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:<math>\mathrm{1\, T = 1\,\frac{V\, s}{m^2} = 1\,\frac{N}{A\, m} = 1\,\frac{Wb}{m^2} = 1\,\frac{kg}{A\, s^2}}</math> |
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== Inhalt == |
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Im [[CGS-System]], das vor allem noch in der [[Theoretische Physik|theoretischen Physik]] verwendet wird, ist die entsprechende Einheit [[Gauss (Einheit)|Gauß]] (1 Gs = 10<sup>-4</sup> T): |
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[[Bild:Armer-heinrich-prolog4.jpg|thumb|Prolog des ''Armen Heinrich'' (Heidelberg, UB, Cpg 341, fol. 249ra)]] |
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:<math>\mathrm{1\, Gs = 10^{-4}\, T}</math> |
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Nach einem kurzen [[Prolog]], in dem der Erzähler sich selbstbewusst nennt und aus dem wir die meisten Informationen über Hartmann von Aue haben, beginnt die Geschichte: Heinrich, ein junger, fürstengleicher [[Freiherr]] ''von Ouwe'' im [[Herzogtum Schwaben|Schwabenland]], verfügt über materiellen Reichtum und höchstes gesellschaftliches Ansehen. Er verkörpert alle [[ritter]]lichen Tugenden (''êre'', ''stæte'', ''triuwe'', ''milte'') und [[höfisch]]es Benehmen (''zuht''), wozu auch Fertigkeiten im [[Minnesang]] gehörten (''und sanc vil wol von minnen'', v. 71). |
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Aus diesem idealen Leben stürzt Heinrich, als Gott ihn mit [[Aussatz]] zeichnet und seine Umwelt sich in Ekel und Furcht von ihm abwendet. Im Gegensatz zum biblischen [[Ijob (biblische Person)|Hiob]] will Heinrich sich damit nicht abfinden und sucht Ärzte in [[Montpellier]] auf, von denen ihm aber keiner helfen kann. An der berühmten [[Schule von Salerno]] erfährt er von einem Arzt, dass es zwar ein Heilmittel gibt, das für Heinrich aber nicht zur Verfügung stehe: Nur das Herzblut einer [[Jungfrau]] im heiratsfähigen Alter, die sich freiwillig für ihn opfere, könne Heinrich heilen. Verzweifelt und ohne Hoffnung auf Genesung kehrt er zurück, verschenkt den Großteil seines Gutes und zieht sich auf einen [[Meier]]hof zurück, der zu seinem Besitz gehört. |
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Dort wird die Tochter des Bauern zur zweiten Hauptfigur. Das Kind (nach Handschrift A ist sie acht, nach Handschrift B zwölf Jahre alt) hat keine Scheu vor Heinrich und seiner Krankheit und wird dessen anhängliche Begleiterin. Bald nennt Heinrich sie spielerisch seine Braut (''gemahel''). |
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Die [[Geophysik]] benutzte auch die Einheit [[Gamma (Einheit)|Gamma]] (γ): |
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Als er nach drei Jahren erzählt, was für ihn das einzige Heilmittel sei, ist sie fest entschlossen, für ihn ihr Leben zu lassen. Sie will sich für Heinrich opfern, da sie glaubt, nur auf diesem Wege dem sündhaften Leben zu entkommen und möglichst bald im Jenseits das ewige Leben bei Gott führen zu können. Sie überzeugt ihre Eltern und Heinrich durch eine Rede, deren rhetorischer Schliff der Inspiration des [[Heiliger Geist|Heiligen Geistes]] zugeschrieben wird, ihr Opfer als gottgewollt anzunehmen. |
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Heinrich und das Mädchen reisen nach Salerno. Als der Arzt, der ihr die Operation vergeblich auszureden versucht, das Herz herausschneiden will und Heinrich das nackt und festgebunden auf dem Operationstisch liegende Mädchen durch einen Spalt in der Tür sieht, schreitet er in letzter Sekunde ein. Im Vergleich ihrer Schönheit und seines entstellten Körpers kommt ihm die Ungeheuerlichkeit des Unternehmens zum Bewusstsein. Durch diese plötzliche innere Umkehr (er gewinnt ''niuwen muot'', v. 1235) akzeptiert er den Aussatz als Willen Gottes. Daraufhin verliert das Mädchen die Fassung; sie sieht sich um das ewige Leben gebracht, macht Heinrich schwere Vorwürfe, dass er sie nicht sterben lassen wolle, und schmäht ihn als Angsthasen. |
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:<math>\mathrm{1\,\gamma = 10^{-9}\, T = 1\, nT}</math> |
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Auf dem Rückweg gesundet Heinrich wundersam durch Gottes Fügung und kehrt gemeinsam mit dem Mädchen nach Hause zurück, wo beide trotz des Standesunterschieds heiraten. Heinrich kehrt in seine frühere gesellschaftliche Stellung zurück und der Meier wird zum [[Freibauer]]n. Heinrich und das Mädchen gewinnen beide die ewige Seligkeit. |
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== Größenbeispiele == |
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Beispiele für verschiedene magnetische Flussdichten in der Natur und in der Technik: |
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* im [[Weltraum]] beträgt die [[magnetische Flussdichte]] zwischen 10<sup>-10</sup> T und 10<sup>-8</sup> T, |
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* im [[Erdmagnetfeld]] am 50. Breitengrad 2 · 10<sup>-5</sup> T, am Äquator 3,1 · 10<sup>-5</sup> T |
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* das Magnetfeld eines großen [[Magnet|Hufeisenmagneten]] beträgt rund 0,001 T, |
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* das Magnetfeld eines [[Magnetresonanztomographie|Kernspintomographen]] für die Anwendung am Menschen bis zu 9,4 T (stärkster Kernspintomograf in [[Chicago]]), |
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* das Magnetfeld der derzeit stärksten supraleitenden Magneten in der [[Kernspinresonanz|NMR-Spektroskopie]] (900 MHz-Spektrometer) 21 T, |
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* eines typischen [[Sonnenfleck]]s 0,25 T, |
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* das stärkste stetige Magnetfeld, welches durch einen Hybridmagnet (resistiv + supraleitend) in einem Labor der [[Florida State University]] in [[Tallahassee]], [[Florida]] erzeugt wurde, hat 45 T. Es ist möglich, wesentlich stärkere Felder für wenige Millisekunden zu erzeugen, beispielsweise durch intensive Laserbestrahlung -- 34 000 T für 10 [[Sekunde#Picosekunde|ps]] (Quelle [http://www.fz-rossendorf.de/pls/rois/Cms?pNid=232]), |
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* auf einem [[Neutronenstern]] 10<sup>6</sup> T bis 10<sup>8</sup> T, |
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* auf einem [[Magnetar]] 10<sup>8</sup> bis 10<sup>11</sup> T, |
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* maximale theoretische Feldstärke eines Neutronensterns, und somit für das größte bekannte Phänomen, 10<sup>13</sup> T. |
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==Literaturgeschichtliche Einordnung== |
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== Präfixe == |
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===Der Arme Heinrich im Werk Hartmanns=== |
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{{SI-Präfixe}} |
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[[Bild:Codex Manesse Hartmann von Aue.jpg|thumb|Herr Hartmann von Aue (fiktives Autorenporträt im [[Codex Manesse]], fol. 184v, um 1300)]] |
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[[Kategorie:Theoretische Elektrotechnik]] |
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Die Entstehungszeit des ''Armen Heinrich'' lässt sich nur sehr grob eingrenzen: [[Chrétien de Troyes|Chrétiens de Troyes]] ''[[Érec et Énide]]'', die [[altfranzösisch|französische]] Vorlage von Hartmanns erstem Roman ''[[Erec]]'', war wahrscheinlich um 1165 bekannt. Man geht davon aus, dass Hartmann um 1180 als Autor in Erscheinung tritt. |
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[[Kategorie:Elektrische Einheit]] |
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Spätestens 1205/10 waren alle Versromane Hartmanns bekannt, denn [[Wolfram von Eschenbach]] nimmt im ''[[Parzival]]'' auf den ''[[Iwein]]'' Bezug, Hartmanns letzten Roman. In diesem zeitlichen Rahmen ist der ''Arme Heinrich'' als (vermutlich) vorletztes Werk einzuordnen. |
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[[Kategorie:SI-Einheit]] |
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Innerhalb der Werkchronologie Hartmanns gilt der ''Arme Heinrich'' aus stilistischen Gründen als drittes seiner vier großen erzählerischen Werke. Am Beginn seines epischen Schaffens steht der [[Artus]]roman ''Erec'', gefolgt von der legendenhaften Erzählung ''[[Gregorius]]''. Als letztes Werk gilt Hartmanns zweiter Artusroman ''Iwein'', der möglicherweise aber schon kurz nach dem ''Erec'' begonnen und erst später vollendet wurde. Nicht einzuordnen sind Hartmanns [[Minnelied|Minne]]- und [[Kreuzzugslyrik|Kreuzlieder]], die kurze Versdichtung ''Das Büchlein'' wird allgemein vor den vier Romanen Hartmanns angesetzt. |
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[[bg:Тесла]] |
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[[cs:Tesla]] |
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===Stoff und Quelle=== |
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[[da:Tesla]] |
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[[en:Tesla (unit)]] |
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Hartmann spricht im Prolog von Erzählungen, die er in Büchern gefunden habe und nun neu erzählen wolle. Solche Quellen haben sich indes weder in der deutschen, noch der [[Altfranzösisch|französischen]] oder [[Mittellatein|lateinischen]] Literatur des Mittelalters gefunden, so dass man davon ausgehen muss, dass diese Quellenberufung fiktiv ist und die Dignität der Erzählung unterstreichen soll. Die im 14. und 15. Jahrhundert überlieferten lateinischen Erzählungen ''Henricus pauper'' und ''Albertus pauper'' sind wahrscheinlich keine Quellen Hartmanns, sondern gehen auf dessen Erzählung zurück. |
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[[es:Tesla (unidad)]] |
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[[fi:Tesla]] |
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Eine Motivtradition wird im Text direkt angesprochen: In der Bibel ist es Hiob, der von Gott mit Aussatz geprüft wird. Zu den Erzählungen von der übernatürlichen Heilung eines am Aussatz Erkrankten zählen auch die [[Silvester I.|Silvester]]legende, in der [[Konstantin der Große]] geheilt wird, und die Erzählungen von [[Amicus und Amelius]] oder [[Konrad von Würzburg|Konrads von Würzburg]] ''Engelhard''. |
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[[fr:Tesla (unité)]] |
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[[gl:Tesla (unidade)]] |
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=== Deutungsansätze === |
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[[he:טסלה]] |
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[[hr:Tesla]] |
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Die schlechte Überlieferungslage hat zu manchen Unklarheiten geführt, die vor allem das namenlose Bauernmädchen betreffen. Handschrift A gibt ihr Alter mit acht Jahren an, als Heinrich an den Meierhof kommt, in Handschrift B sind es dagegen zwölf Jahre (v. 303). Unklar ist auch, ob das Mädchen, das sich opfern muss, ''erbære'' und ''manbære'' (Handschrift A, v. 225 und 447) oder ''vrîebære'' und ''verbære'' (Handschrift B) sein muss. Das Fragment E fordert eine ''maget'', die ''volle manbere'' sei (v. 225). |
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[[hu:Tesla]] |
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[[id:Tesla]] |
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Auf zentrale Fragen, die die Erzählung offenlässt, hat die Forschung keine eindeutigen Antworten gefunden. Dies betrifft insbesondere den Grund, warum Gott Heinrich mit dem Aussatz zeichnet. Einerseits kann hierin eine Strafe für Heinrichs weltbezogenes Leben gesehen werden. So versteht Heinrich die Krankheit selber und auch ein [[Absalom]]-[[Gleichnis]] zu Beginn der Erzählung spricht für diese Lesart. Andererseits kann der Aussatz als Prüfung Gottes interpretiert werden. Dafür spricht der Vergleich mit Hiob, der vom Erzähler gezogen wird. Anders als dieser nimmt Heinrich die Prüfung jedoch zunächst nicht an, sondern sucht Heilung und verzweifelt anschließend. |
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[[it:Tesla]] |
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[[ja:テスラ]] |
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Ein anderes Problem stellt die Rolle des Mädchens dar. Dass sie namenlos bleibt, rückt sie in eine untergeordnete Position, die dem Handlungsverlauf nicht entspricht. Der rhetorisch und theologisch geschulte zentrale Monolog, mit der sie Heinrich und die Eltern überredet, ihr Opfer anzunehmen, wird der Eingebung des Heiligen Geistes zugeschrieben. Unklar bleibt ihre Motivation, ob sie aus reiner Nächstenliebe handelt oder aus einem "Heilsegoismus", durch den sie ihr eigenes Seelenheil erkaufen möchte, wie es mehrfach anklingt. |
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[[nl:Tesla]] |
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[[nn:Eininga tesla]] |
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Das Mädchen tritt am Ende des Romans in eine Nebenrolle zurück, aber nicht, ohne durch die Heirat [[Ständeordnung|ständisch]] erhöht zu werden (mit den Worten Heinrichs: ''nû ist sî vrî als ich dâ bin'', v. 1497). Die ständische Stellung der Protagonisten gibt überhaupt Rätsel auf. Das Leben des hochadligen Heinrich bei dem unfreien Bauern, der am Ende [[Freibauer]] wird, kann als gesellschaftliche Utopie gelesen werden; ebenso utopisch, nämlich in der Realität unmöglich, ist die Standeserhöhung eines Bauernmädchens zur legitimen Gattin eines Freiherrn. Es liegt nahe, die freie oder unfreie Geburt der Protagonisten, deren Thematisierung Hartmann offenkundig ein Anliegen ist, auch geistlich-allegorisch zu verstehen. |
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[[no:Tesla]] |
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[[pl:Tesla]] |
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Auffallend ist die Namensähnlichkeit des fürstengleichen Freiherrn Heinrich von Aue mit Hartmann von Aue. Man hat darin eine verklärende Familiengeschichte gesehen, die den unfreien [[Ministeriale]]nstand Hartmanns erklärt, da Heinrichs Heirat mit dem Bauernmädchen den Verlust des Adelsstandes für die Familie zur Folge gehabt hätte - allerdings schweigt Hartmann zu dieser Konsequenz. Als zweite Möglichkeit kommt in Frage, die Geschichte Heinrichs auf einen möglichen Gönner Hartmanns zu beziehen, doch wegen der Standesminderung ist dies weniger plausibel. |
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[[pt:Tesla]] |
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[[ru:Тесла (единица измерения)]] |
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===Das Gattungsproblem=== |
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[[sk:Tesla (jednotka)]] |
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[[sl:Tesla (enota)]] |
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Ein großes Problem der Forschung ist die [[Gattung (Literatur)|Gattungszugehörigkeit]] des ''Armen Heinrich''. Die relativ kurze Erzählung mit 1520 Versen steht einerseits der geistlichen Literatur nahe, der [[Legende]], dem [[Exempel]] oder dem [[Mirakel]], andererseits hat sie unverkennbar Elemente des [[Höfischer Roman|höfischen Romans]]. Die religiösen Dimensionen dominieren die Erzählung deutlich, doch auch wenn Heinrich bekehrt und wunderbar geheilt wird, so wird er doch nicht zum [[Heiliger|Heiligen]]. Auffällig sind die Analogien zur Form des [[Märchen|Erlösungsmärchens]], dem allerdings sonst die hier dominierende religiöse Thematik fehlt. |
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[[sr:Тесла (јединица)]] |
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[[sv:Tesla]] |
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Da Charakteristika beider Texttypen im ''Armen Heinrich'' erkennbar sind, muß man ihm eine Sonderform als höfische Mirakelerzählung einräumen. Um das Problem der Gattungszuweisung zu umgehen, behilft man sich mit neutralen Benennungen, wie Kleinepik oder kurze Reimpaardichtung. |
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[[tr:Tesla (birim)]] |
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[[zh:特斯拉]] |
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Häufig wird dem ''Armen Heinrich'' ein novellistischer Charakter zugesprochen und er als [[Versnovelle]] bezeichnet, obwohl der Begriff der [[Novelle (Literatur)|Novelle]] üblicherweise erst für kürzere Erzählungen ab dem [[Spätmittelalter]] oder der [[Renaissance]] verwendet wird. Überhaupt steht der ''Arme Heinrich'' vor 1200 fast ganz singulär da, nur der anonyme ''[[Moriz von Craûn]]'' gehört noch diesem Literaturtypus der Kleinepik an. Erst der [[Meier Helmbrecht]] [[Wernher der Gartenaere|Wernhers des Gartenære]] aus der Mitte des 13. Jahrhunderts ist dem ''Armen Heinrich'' deutlich verwandt. |
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==Rezeptionsgeschichte== |
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===Überlieferung=== |
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Der ''Arme Heinrich'' ist lediglich in drei vollständigen Handschriften und vier [[Fragment]]en überliefert, die aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts stammen und im [[oberdeutsch]]en Sprachraum anzusiedeln sind. Die Handschrift A aus dem [[Straßburg]]er [[Johanniter]]kloster verbrannte 1870 beim Beschuss Straßburgs durch deutsche Truppen im [[Deutsch-Französischer Krieg|Deutsch-Französischen Krieg]], so dass man heute auf frühere Abdrucke zurückgreifen muss. Wie die Fragmente beweisen, kürzte diese Handschrift den ursprünglichen Text Hartmanns, bot aber dennoch den besten Überlieferungsträger. |
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Auch die beiden anderen Handschriften (Ba und Bb) haben den ursprünglichen Text redaktionell bearbeitet. Beide Handschriften überliefern die gleiche Fassung, denn Bb wurde von Ba abgeschrieben. |
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Alle drei vollständigen Texte wurden in [[Sammelhandschrift]]en aufgenommen, die neben dem ''Armen Heinrich'' kleinere Reimpaarwerke enthalten ([[Märe]]n, [[Bîspel]]n, [[Reimpaarrede]]n und [[Spruchdichtung]]). |
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Erst 1964/65 wurde das Fragment E gefunden und 1970 veröffentlicht. Die elf kleinen [[Pergament]]streifen waren im [[Kloster Benediktbeuern]] zur Abdichtung der [[Orgelpfeifen]] verwendet worden. Fünf Verse wurden als [[Federprobe]] in eine Handschrift des 13. Jahrhunderts mit Kommentaren zu [[Ovid]] und [[Cicero]] eingetragen (Handschrift F). |
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Außerdem wurde der ''Arme Heinrich'' ins [[Latein]]ische übersetzt und in zwei lateinische [[Exempel]]sammlungen des 14. Jahrhunderts aufgenommen. |
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Die vollständigen Texte finden sich in Sammelhandschriften mit Mären, Bîspeln, [[Minnerede]]n und anderen kleineren [[Reimpaardichtung]]en. Diese Textsorten waren Bearbeitungen gegenüber relativ offen, so dass auch der ''Arme Heinrich'' von Handschriften-Kompilatoren deutlich gekürzt und bearbeitet worden ist. Daraus erklären sich die konkurrierenden Versionen, auf die einige Probleme der Interpretation zurückgehen und die es schwierig machen, einen autornahen Text zu erstellen. |
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===Editionsgeschichte=== |
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Die ersten Editionen des Armen Heinrich waren diplomatische Abdrucke nach Handschrift A. Zum ersten Mal brachte ihn 1784 [[Christoph Heinrich Myller]] heraus. [[Johann Wolfgang Goethe|Goethe]] las eine Übersetzung [[Johann Gustav Büsching]]s (Zürich 1810) mit "physisch-ästhetischem Schmerz", da er das Thema des Aussatzes persönlich abstoßend fand, erkannte aber dennoch den Wert der Erzählung an. 1815 folgte eine kommentierte Ausgabe der [[Brüder Grimm]] mit einer Nacherzählung, die dem Text erstmals zu einer größeren Verbreitung verhalf. Der Stoff wurde von ihnen als alte deutsche "Volkssage" angesehen. In der Folge entstanden zahlreiche Nachdichtungen und Neuausgaben in Stil der [[Volksbuch|Volksbücher]]. [[Karl Lachmann]] legte 1820 eine weitere Edition des Straßburger Codex vor. |
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Die lange Zeit maßgebliche [[Textkritik|kritische Edition]] stammt von [[Moriz Haupt]] aus dem Jahr 1842, der als erster alle Lesarten in einem [[Apparat]] verzeichnete. Auf diese Edition stützte sich 1882 auch [[Hermann Paul]]s Ausgabe in der [[Altdeutsche Textbibliothek|Altdeutschen Textbibliothek]], die später von [[Albert Leitzmann]], [[Ludwig Wolff]], [[Gesa Bonath]] und zuletzt von [[Kurt Gärtner]] bearbeitet worden ist. |
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Einen Abdruck der beiden wichtigsten Handschriften mit einem kritischen Text im Parallelabdruck bot 1913 Erich Gierach. Eine weitere [[Synopse|synoptische]] Edition der Handschriften A und B, mit den Fragmenten und einem daraus rekonstruierten Text legte 1974 [[Heinz Mettke]] vor. |
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Weitere Ausgaben legten [[Wilhelm Wackernagel]] (1911), [[Friedrich Maurer]] (1958), [[Friedrich Neumann]] (1961 mit der Nacherzählung der Brüder Grimm) und [[Helmut de Boor]] (1963) vor. Die letzte Edition brachte [[Volker Mertens]] 2004 in der ''[[Deutscher Klassiker Verlag|Bibliothek deutscher Klassiker]]'' heraus. Einfache schwarz-weiß-[[Faksimile]]s der gesamten Überlieferung erschienen 1971 und 1973 in der Reihe [[Litterae]]. |
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===Moderne Rezeption=== |
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[[Bild:Vogelerarmerheinrich.jpg|thumb|[[Heinrich Vogeler]]: Illustration zu Gerhart Hauptmann, ''Der arme Heinrich'' (S. Fischer Verlag, 1902).]] |
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Während der ''Arme Heinrich'' nur in wenigen mittelalterlichen Handschriften überliefert ist, so wurde er in moderner Zeit häufiger [[Künstlerische Rezeption|rezipiert]], als irgendein anderes Werk Hartmanns. Besonders Künstler der [[Romantik]] und des [[Fin de siècle]] waren von der Kombination der Motive Heiligkeit, Landidyll, Aussatz und Erotik fasziniert. Eine dramatische Darstellung des nackten Mädchens, das auf dem Operationstisch festgebunden ist, den Arzt mit seinem Messer daneben und Heinrich, der als [[Voyeur]] durch den Türspalt blickt, fehlte in keiner Illustration außer der zu den jugendfreien Bearbeitungen [[Gustav Schwab]]s. |
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Bekannt wurde der ''Arme Heinrich'' vor allem durch die Nachdichtung der Brüder Grimm, die unter anderem eine lange [[Ballade]] von [[Adelbert von Chamisso]] (1839) oder ein episches [[Drama]] des Amerikaners [[Henry Wadsworth Longfellow]] (''The Golden Legend'', 1851) anregte. Ins Englische übertragen wurde der ''Arme Heinrich'' von dem Präraffaeliten [[Dante Gabriel Rossetti]]. Auch [[Ludwig Uhland]], Gustav Schwab, [[Karl Simrock]], [[Conrad Ferdinand Meyer]], [[Rudolf Borchardt]], [[Will Vesper]] und viele andere nahmen den Armen Heinrich produktiv auf, wobei alle literarischen Gattungen vertreten sind. Die bedeutendsten Bearbeitungen entstanden durch [[Ricarda Huch]] (1899) und [[Gerhart Hauptmann]], dessen Drama 1902 uraufgeführt wurde. |
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Auch die erste Oper [[Hans Pfitzner]]s ist eine Vertonung des ''Armen Heinrich'' nach einem Libretto von [[James Grun]] (1895). Unter den bildnerischen Darstellungen ragen ein Zyklus des [[Nazarener (Kunst)|Nazarener]]s [[Joseph von Führich]] und Illustrationen von [[Ludwig Richter]] heraus. |
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Seit den 1920er Jahren verlor sich das Interesse an dem Stoff, der nun weit weniger rezipiert wurde, als germanische [[Heldensage]]n. Dies änderte sich auch nicht in der [[Nachkriegszeit]] oder durch die [[Achtundsechziger]], für die die gesellschaftliche Relevanz des ''Armen Heinrichs'' zu gering war. Erst seit den 1990er Jahren rückte die Erzählung wieder stärker in den Blickpunkt. Zuletzt griffen [[Markus Werner]] (''Bis bald'', 1995), der Dramatiker [[Tankred Dorst]] (1997), der Lyriker [[Rainer Malkowski]] (1997) und [[August Kötzke]] mit einer "Kammeroper" den ''Armen Heinrich'' auf. |
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==Literatur== |
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===Textausgaben=== |
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* ''Hartmann von Aue: Der arme Heinrich'', Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch; hg. von Ursula Rautenberg, übersetzt von Siegfried Grosse. Stuttgart 2003 (=Reclam 456) ISBN 3-15-000456-X |
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*''Hartmann von Aue: Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein''. Hrsg. und übersetzt von Volker Mertens. Frankfurt am Main 2004 (Bibliothek des Mittelalters 6; Bibliothek deutscher Klassiker 189). ISBN 3-618-66065-0 |
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* ''Der arme Heinrich'', hg. von Hermann Paul, neu bearbeitet von Kurt Gärtner. 17., durchgesehene Auflage Tübingen 2001 (=Altdeutsche Textbibliothek 3) ISBN 3-484-20061-8, ISBN 3-484-21103-2 |
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* ''Hartmann von Aue: Der arme Heinrich.'' Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Auf der Grundlage der Textedition von Helmut de Boor durchgesehen, übertragen. Mit Anmerkungen und einem Nachwort von Hermann Henne. 12. Auflage Frankfurt 2000. |
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===Einführungen=== |
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''Gute Einführungen zum Armen Heinrich bieten Volker Mertens und Ursula Rautenberg als Nachworte der Textausgaben.'' |
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* Christoph Cormeau, Wilhelm Störmer: ''Hartmann von Aue. Epoche - Werk - Wirkung''. 2., überarb. Auflage. Beck, München 1998, ISBN 3-406-30309-9 |
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* Hugo Kuhn, Christoph Cormeau (Hrsg.): ''Hartmann von Aue''. (= Wege der Forschung; Bd. 359). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1973, ISBN 3-534-05745-7 <small>(Sammlung wichtiger älterer Aufsätze)</small> |
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==Weblinks== |
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* [http://gutenberg.spiegel.de/hvonaue/armehein/armehein.htm Der Text des ''Armen Heinrich'' im Projekt Gutenberg] |
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* [http://cgi-host.uni-marburg.de/~mrep/liste_inhalt.php?id=147 Handschriftencensus im Marburger Repertorium] (Verzeichnis der Handschriften) |
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*[http://www.fgcu.edu/rboggs/hartmann/Heinrich/AhMain/AhHome.htm E-Texte und Abbildungen der Handschriften] |
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[[Kategorie:Literarisches Werk|Arme Heinrich, Der]] |
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[[Kategorie:Literatur (12. Jh.)|Arme Heinrich, Der]] |
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[[Kategorie:Literatur (13. Jh.)|Arme Heinrich, Der]] |
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[[Kategorie:Mittelalter (Literatur)|Arme Heinrich, Der]] |
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[[Kategorie:Literatur (Mittelhochdeutsch)|Arme Heinrich, Der]] |
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[[Kategorie:Legende|Arme Heinrich, Der]] |
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{{Lesenswert}} |
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{{Exzellent Kandidat}} |
Version vom 22. Juli 2006, 15:27 Uhr
Der arme Heinrich ist eine mittelhochdeutsche Verserzählung von Hartmann von Aue. Sie entstand wahrscheinlich in den 1190er Jahren und gilt als vorletztes der vier epischen Werke Hartmanns.
Die kurze Versnovelle um einen hochadligen Ritter, der durch Gott mit Aussatz gezeichnet wird und nur durch das Herzblut einer sich freiwillig opfernden Jungfrau geheilt werden kann, verbindet höfische und geistliche Erzählmuster. Um 1200 gibt es kaum verwandte Erzählungen.
Inhalt

Nach einem kurzen Prolog, in dem der Erzähler sich selbstbewusst nennt und aus dem wir die meisten Informationen über Hartmann von Aue haben, beginnt die Geschichte: Heinrich, ein junger, fürstengleicher Freiherr von Ouwe im Schwabenland, verfügt über materiellen Reichtum und höchstes gesellschaftliches Ansehen. Er verkörpert alle ritterlichen Tugenden (êre, stæte, triuwe, milte) und höfisches Benehmen (zuht), wozu auch Fertigkeiten im Minnesang gehörten (und sanc vil wol von minnen, v. 71).
Aus diesem idealen Leben stürzt Heinrich, als Gott ihn mit Aussatz zeichnet und seine Umwelt sich in Ekel und Furcht von ihm abwendet. Im Gegensatz zum biblischen Hiob will Heinrich sich damit nicht abfinden und sucht Ärzte in Montpellier auf, von denen ihm aber keiner helfen kann. An der berühmten Schule von Salerno erfährt er von einem Arzt, dass es zwar ein Heilmittel gibt, das für Heinrich aber nicht zur Verfügung stehe: Nur das Herzblut einer Jungfrau im heiratsfähigen Alter, die sich freiwillig für ihn opfere, könne Heinrich heilen. Verzweifelt und ohne Hoffnung auf Genesung kehrt er zurück, verschenkt den Großteil seines Gutes und zieht sich auf einen Meierhof zurück, der zu seinem Besitz gehört.
Dort wird die Tochter des Bauern zur zweiten Hauptfigur. Das Kind (nach Handschrift A ist sie acht, nach Handschrift B zwölf Jahre alt) hat keine Scheu vor Heinrich und seiner Krankheit und wird dessen anhängliche Begleiterin. Bald nennt Heinrich sie spielerisch seine Braut (gemahel). Als er nach drei Jahren erzählt, was für ihn das einzige Heilmittel sei, ist sie fest entschlossen, für ihn ihr Leben zu lassen. Sie will sich für Heinrich opfern, da sie glaubt, nur auf diesem Wege dem sündhaften Leben zu entkommen und möglichst bald im Jenseits das ewige Leben bei Gott führen zu können. Sie überzeugt ihre Eltern und Heinrich durch eine Rede, deren rhetorischer Schliff der Inspiration des Heiligen Geistes zugeschrieben wird, ihr Opfer als gottgewollt anzunehmen.
Heinrich und das Mädchen reisen nach Salerno. Als der Arzt, der ihr die Operation vergeblich auszureden versucht, das Herz herausschneiden will und Heinrich das nackt und festgebunden auf dem Operationstisch liegende Mädchen durch einen Spalt in der Tür sieht, schreitet er in letzter Sekunde ein. Im Vergleich ihrer Schönheit und seines entstellten Körpers kommt ihm die Ungeheuerlichkeit des Unternehmens zum Bewusstsein. Durch diese plötzliche innere Umkehr (er gewinnt niuwen muot, v. 1235) akzeptiert er den Aussatz als Willen Gottes. Daraufhin verliert das Mädchen die Fassung; sie sieht sich um das ewige Leben gebracht, macht Heinrich schwere Vorwürfe, dass er sie nicht sterben lassen wolle, und schmäht ihn als Angsthasen.
Auf dem Rückweg gesundet Heinrich wundersam durch Gottes Fügung und kehrt gemeinsam mit dem Mädchen nach Hause zurück, wo beide trotz des Standesunterschieds heiraten. Heinrich kehrt in seine frühere gesellschaftliche Stellung zurück und der Meier wird zum Freibauern. Heinrich und das Mädchen gewinnen beide die ewige Seligkeit.
Literaturgeschichtliche Einordnung
Der Arme Heinrich im Werk Hartmanns

Die Entstehungszeit des Armen Heinrich lässt sich nur sehr grob eingrenzen: Chrétiens de Troyes Érec et Énide, die französische Vorlage von Hartmanns erstem Roman Erec, war wahrscheinlich um 1165 bekannt. Man geht davon aus, dass Hartmann um 1180 als Autor in Erscheinung tritt. Spätestens 1205/10 waren alle Versromane Hartmanns bekannt, denn Wolfram von Eschenbach nimmt im Parzival auf den Iwein Bezug, Hartmanns letzten Roman. In diesem zeitlichen Rahmen ist der Arme Heinrich als (vermutlich) vorletztes Werk einzuordnen.
Innerhalb der Werkchronologie Hartmanns gilt der Arme Heinrich aus stilistischen Gründen als drittes seiner vier großen erzählerischen Werke. Am Beginn seines epischen Schaffens steht der Artusroman Erec, gefolgt von der legendenhaften Erzählung Gregorius. Als letztes Werk gilt Hartmanns zweiter Artusroman Iwein, der möglicherweise aber schon kurz nach dem Erec begonnen und erst später vollendet wurde. Nicht einzuordnen sind Hartmanns Minne- und Kreuzlieder, die kurze Versdichtung Das Büchlein wird allgemein vor den vier Romanen Hartmanns angesetzt.
Stoff und Quelle
Hartmann spricht im Prolog von Erzählungen, die er in Büchern gefunden habe und nun neu erzählen wolle. Solche Quellen haben sich indes weder in der deutschen, noch der französischen oder lateinischen Literatur des Mittelalters gefunden, so dass man davon ausgehen muss, dass diese Quellenberufung fiktiv ist und die Dignität der Erzählung unterstreichen soll. Die im 14. und 15. Jahrhundert überlieferten lateinischen Erzählungen Henricus pauper und Albertus pauper sind wahrscheinlich keine Quellen Hartmanns, sondern gehen auf dessen Erzählung zurück.
Eine Motivtradition wird im Text direkt angesprochen: In der Bibel ist es Hiob, der von Gott mit Aussatz geprüft wird. Zu den Erzählungen von der übernatürlichen Heilung eines am Aussatz Erkrankten zählen auch die Silvesterlegende, in der Konstantin der Große geheilt wird, und die Erzählungen von Amicus und Amelius oder Konrads von Würzburg Engelhard.
Deutungsansätze
Die schlechte Überlieferungslage hat zu manchen Unklarheiten geführt, die vor allem das namenlose Bauernmädchen betreffen. Handschrift A gibt ihr Alter mit acht Jahren an, als Heinrich an den Meierhof kommt, in Handschrift B sind es dagegen zwölf Jahre (v. 303). Unklar ist auch, ob das Mädchen, das sich opfern muss, erbære und manbære (Handschrift A, v. 225 und 447) oder vrîebære und verbære (Handschrift B) sein muss. Das Fragment E fordert eine maget, die volle manbere sei (v. 225).
Auf zentrale Fragen, die die Erzählung offenlässt, hat die Forschung keine eindeutigen Antworten gefunden. Dies betrifft insbesondere den Grund, warum Gott Heinrich mit dem Aussatz zeichnet. Einerseits kann hierin eine Strafe für Heinrichs weltbezogenes Leben gesehen werden. So versteht Heinrich die Krankheit selber und auch ein Absalom-Gleichnis zu Beginn der Erzählung spricht für diese Lesart. Andererseits kann der Aussatz als Prüfung Gottes interpretiert werden. Dafür spricht der Vergleich mit Hiob, der vom Erzähler gezogen wird. Anders als dieser nimmt Heinrich die Prüfung jedoch zunächst nicht an, sondern sucht Heilung und verzweifelt anschließend.
Ein anderes Problem stellt die Rolle des Mädchens dar. Dass sie namenlos bleibt, rückt sie in eine untergeordnete Position, die dem Handlungsverlauf nicht entspricht. Der rhetorisch und theologisch geschulte zentrale Monolog, mit der sie Heinrich und die Eltern überredet, ihr Opfer anzunehmen, wird der Eingebung des Heiligen Geistes zugeschrieben. Unklar bleibt ihre Motivation, ob sie aus reiner Nächstenliebe handelt oder aus einem "Heilsegoismus", durch den sie ihr eigenes Seelenheil erkaufen möchte, wie es mehrfach anklingt.
Das Mädchen tritt am Ende des Romans in eine Nebenrolle zurück, aber nicht, ohne durch die Heirat ständisch erhöht zu werden (mit den Worten Heinrichs: nû ist sî vrî als ich dâ bin, v. 1497). Die ständische Stellung der Protagonisten gibt überhaupt Rätsel auf. Das Leben des hochadligen Heinrich bei dem unfreien Bauern, der am Ende Freibauer wird, kann als gesellschaftliche Utopie gelesen werden; ebenso utopisch, nämlich in der Realität unmöglich, ist die Standeserhöhung eines Bauernmädchens zur legitimen Gattin eines Freiherrn. Es liegt nahe, die freie oder unfreie Geburt der Protagonisten, deren Thematisierung Hartmann offenkundig ein Anliegen ist, auch geistlich-allegorisch zu verstehen.
Auffallend ist die Namensähnlichkeit des fürstengleichen Freiherrn Heinrich von Aue mit Hartmann von Aue. Man hat darin eine verklärende Familiengeschichte gesehen, die den unfreien Ministerialenstand Hartmanns erklärt, da Heinrichs Heirat mit dem Bauernmädchen den Verlust des Adelsstandes für die Familie zur Folge gehabt hätte - allerdings schweigt Hartmann zu dieser Konsequenz. Als zweite Möglichkeit kommt in Frage, die Geschichte Heinrichs auf einen möglichen Gönner Hartmanns zu beziehen, doch wegen der Standesminderung ist dies weniger plausibel.
Das Gattungsproblem
Ein großes Problem der Forschung ist die Gattungszugehörigkeit des Armen Heinrich. Die relativ kurze Erzählung mit 1520 Versen steht einerseits der geistlichen Literatur nahe, der Legende, dem Exempel oder dem Mirakel, andererseits hat sie unverkennbar Elemente des höfischen Romans. Die religiösen Dimensionen dominieren die Erzählung deutlich, doch auch wenn Heinrich bekehrt und wunderbar geheilt wird, so wird er doch nicht zum Heiligen. Auffällig sind die Analogien zur Form des Erlösungsmärchens, dem allerdings sonst die hier dominierende religiöse Thematik fehlt.
Da Charakteristika beider Texttypen im Armen Heinrich erkennbar sind, muß man ihm eine Sonderform als höfische Mirakelerzählung einräumen. Um das Problem der Gattungszuweisung zu umgehen, behilft man sich mit neutralen Benennungen, wie Kleinepik oder kurze Reimpaardichtung.
Häufig wird dem Armen Heinrich ein novellistischer Charakter zugesprochen und er als Versnovelle bezeichnet, obwohl der Begriff der Novelle üblicherweise erst für kürzere Erzählungen ab dem Spätmittelalter oder der Renaissance verwendet wird. Überhaupt steht der Arme Heinrich vor 1200 fast ganz singulär da, nur der anonyme Moriz von Craûn gehört noch diesem Literaturtypus der Kleinepik an. Erst der Meier Helmbrecht Wernhers des Gartenære aus der Mitte des 13. Jahrhunderts ist dem Armen Heinrich deutlich verwandt.
Rezeptionsgeschichte
Überlieferung
Der Arme Heinrich ist lediglich in drei vollständigen Handschriften und vier Fragmenten überliefert, die aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts stammen und im oberdeutschen Sprachraum anzusiedeln sind. Die Handschrift A aus dem Straßburger Johanniterkloster verbrannte 1870 beim Beschuss Straßburgs durch deutsche Truppen im Deutsch-Französischen Krieg, so dass man heute auf frühere Abdrucke zurückgreifen muss. Wie die Fragmente beweisen, kürzte diese Handschrift den ursprünglichen Text Hartmanns, bot aber dennoch den besten Überlieferungsträger.
Auch die beiden anderen Handschriften (Ba und Bb) haben den ursprünglichen Text redaktionell bearbeitet. Beide Handschriften überliefern die gleiche Fassung, denn Bb wurde von Ba abgeschrieben. Alle drei vollständigen Texte wurden in Sammelhandschriften aufgenommen, die neben dem Armen Heinrich kleinere Reimpaarwerke enthalten (Mären, Bîspeln, Reimpaarreden und Spruchdichtung).
Erst 1964/65 wurde das Fragment E gefunden und 1970 veröffentlicht. Die elf kleinen Pergamentstreifen waren im Kloster Benediktbeuern zur Abdichtung der Orgelpfeifen verwendet worden. Fünf Verse wurden als Federprobe in eine Handschrift des 13. Jahrhunderts mit Kommentaren zu Ovid und Cicero eingetragen (Handschrift F).
Außerdem wurde der Arme Heinrich ins Lateinische übersetzt und in zwei lateinische Exempelsammlungen des 14. Jahrhunderts aufgenommen.
Die vollständigen Texte finden sich in Sammelhandschriften mit Mären, Bîspeln, Minnereden und anderen kleineren Reimpaardichtungen. Diese Textsorten waren Bearbeitungen gegenüber relativ offen, so dass auch der Arme Heinrich von Handschriften-Kompilatoren deutlich gekürzt und bearbeitet worden ist. Daraus erklären sich die konkurrierenden Versionen, auf die einige Probleme der Interpretation zurückgehen und die es schwierig machen, einen autornahen Text zu erstellen.
Editionsgeschichte
Die ersten Editionen des Armen Heinrich waren diplomatische Abdrucke nach Handschrift A. Zum ersten Mal brachte ihn 1784 Christoph Heinrich Myller heraus. Goethe las eine Übersetzung Johann Gustav Büschings (Zürich 1810) mit "physisch-ästhetischem Schmerz", da er das Thema des Aussatzes persönlich abstoßend fand, erkannte aber dennoch den Wert der Erzählung an. 1815 folgte eine kommentierte Ausgabe der Brüder Grimm mit einer Nacherzählung, die dem Text erstmals zu einer größeren Verbreitung verhalf. Der Stoff wurde von ihnen als alte deutsche "Volkssage" angesehen. In der Folge entstanden zahlreiche Nachdichtungen und Neuausgaben in Stil der Volksbücher. Karl Lachmann legte 1820 eine weitere Edition des Straßburger Codex vor.
Die lange Zeit maßgebliche kritische Edition stammt von Moriz Haupt aus dem Jahr 1842, der als erster alle Lesarten in einem Apparat verzeichnete. Auf diese Edition stützte sich 1882 auch Hermann Pauls Ausgabe in der Altdeutschen Textbibliothek, die später von Albert Leitzmann, Ludwig Wolff, Gesa Bonath und zuletzt von Kurt Gärtner bearbeitet worden ist.
Einen Abdruck der beiden wichtigsten Handschriften mit einem kritischen Text im Parallelabdruck bot 1913 Erich Gierach. Eine weitere synoptische Edition der Handschriften A und B, mit den Fragmenten und einem daraus rekonstruierten Text legte 1974 Heinz Mettke vor.
Weitere Ausgaben legten Wilhelm Wackernagel (1911), Friedrich Maurer (1958), Friedrich Neumann (1961 mit der Nacherzählung der Brüder Grimm) und Helmut de Boor (1963) vor. Die letzte Edition brachte Volker Mertens 2004 in der Bibliothek deutscher Klassiker heraus. Einfache schwarz-weiß-Faksimiles der gesamten Überlieferung erschienen 1971 und 1973 in der Reihe Litterae.
Moderne Rezeption

Während der Arme Heinrich nur in wenigen mittelalterlichen Handschriften überliefert ist, so wurde er in moderner Zeit häufiger rezipiert, als irgendein anderes Werk Hartmanns. Besonders Künstler der Romantik und des Fin de siècle waren von der Kombination der Motive Heiligkeit, Landidyll, Aussatz und Erotik fasziniert. Eine dramatische Darstellung des nackten Mädchens, das auf dem Operationstisch festgebunden ist, den Arzt mit seinem Messer daneben und Heinrich, der als Voyeur durch den Türspalt blickt, fehlte in keiner Illustration außer der zu den jugendfreien Bearbeitungen Gustav Schwabs.
Bekannt wurde der Arme Heinrich vor allem durch die Nachdichtung der Brüder Grimm, die unter anderem eine lange Ballade von Adelbert von Chamisso (1839) oder ein episches Drama des Amerikaners Henry Wadsworth Longfellow (The Golden Legend, 1851) anregte. Ins Englische übertragen wurde der Arme Heinrich von dem Präraffaeliten Dante Gabriel Rossetti. Auch Ludwig Uhland, Gustav Schwab, Karl Simrock, Conrad Ferdinand Meyer, Rudolf Borchardt, Will Vesper und viele andere nahmen den Armen Heinrich produktiv auf, wobei alle literarischen Gattungen vertreten sind. Die bedeutendsten Bearbeitungen entstanden durch Ricarda Huch (1899) und Gerhart Hauptmann, dessen Drama 1902 uraufgeführt wurde.
Auch die erste Oper Hans Pfitzners ist eine Vertonung des Armen Heinrich nach einem Libretto von James Grun (1895). Unter den bildnerischen Darstellungen ragen ein Zyklus des Nazareners Joseph von Führich und Illustrationen von Ludwig Richter heraus.
Seit den 1920er Jahren verlor sich das Interesse an dem Stoff, der nun weit weniger rezipiert wurde, als germanische Heldensagen. Dies änderte sich auch nicht in der Nachkriegszeit oder durch die Achtundsechziger, für die die gesellschaftliche Relevanz des Armen Heinrichs zu gering war. Erst seit den 1990er Jahren rückte die Erzählung wieder stärker in den Blickpunkt. Zuletzt griffen Markus Werner (Bis bald, 1995), der Dramatiker Tankred Dorst (1997), der Lyriker Rainer Malkowski (1997) und August Kötzke mit einer "Kammeroper" den Armen Heinrich auf.
Literatur
Textausgaben
- Hartmann von Aue: Der arme Heinrich, Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch; hg. von Ursula Rautenberg, übersetzt von Siegfried Grosse. Stuttgart 2003 (=Reclam 456) ISBN 3-15-000456-X
- Hartmann von Aue: Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein. Hrsg. und übersetzt von Volker Mertens. Frankfurt am Main 2004 (Bibliothek des Mittelalters 6; Bibliothek deutscher Klassiker 189). ISBN 3-618-66065-0
- Der arme Heinrich, hg. von Hermann Paul, neu bearbeitet von Kurt Gärtner. 17., durchgesehene Auflage Tübingen 2001 (=Altdeutsche Textbibliothek 3) ISBN 3-484-20061-8, ISBN 3-484-21103-2
- Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Auf der Grundlage der Textedition von Helmut de Boor durchgesehen, übertragen. Mit Anmerkungen und einem Nachwort von Hermann Henne. 12. Auflage Frankfurt 2000.
Einführungen
Gute Einführungen zum Armen Heinrich bieten Volker Mertens und Ursula Rautenberg als Nachworte der Textausgaben.
- Christoph Cormeau, Wilhelm Störmer: Hartmann von Aue. Epoche - Werk - Wirkung. 2., überarb. Auflage. Beck, München 1998, ISBN 3-406-30309-9
- Hugo Kuhn, Christoph Cormeau (Hrsg.): Hartmann von Aue. (= Wege der Forschung; Bd. 359). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1973, ISBN 3-534-05745-7 (Sammlung wichtiger älterer Aufsätze)
Weblinks
- Der Text des Armen Heinrich im Projekt Gutenberg
- Handschriftencensus im Marburger Repertorium (Verzeichnis der Handschriften)
- E-Texte und Abbildungen der Handschriften