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„Scharia“ – Versionsunterschied

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Die '''Scharia''',<ref>{{arS|شريعة&lrm;|Schariʿa|DMG=Šarīʿa}}, im Sinne von „Weg zur Tränke, Weg zur Wasserquelle, deutlicher, gebahnter Weg“; auch: „[religiöses] Gesetz“, „Ritus“; ({{faS|شريعت&lrm;|DMG=Šarī‘at}}; {{trS|Şeriat}}), abgeleitet aus dem arabischen Verb {{ar|شرع&lrm;|scharaʿa|DMG=šaraʿa|de=den Weg weisen, vorschreiben}}</ref> das [[islam]]ische Recht, beschreibt (insbesondere im [[Rechtskreis#Islamischer Rechtskreis|islamischen Rechtskreis]]) „die Gesamtheit aller religiösen und rechtlichen Normen, Mechanismen zur Normfindung und Interpretationsvorschriften des Islam“.<ref>[[Mathias Rohe]]: ''Das Islamische Recht''. Beck, München 2011, S. 9 ({{Google Buch |BuchID=YbyPx2X6PZEC |Seite=9}}).</ref> Ein [[Monotheismus|einziger]] [[Gott]] ''([[Allah]])'' gilt in diesem [[Rechtsordnung|Rechtssystem]] als der oberste Gesetzgeber ({{ar|شارع&lrm;|Schāri‘|DMG=šāriʿ}}, auch „Beginner“).<ref>Vgl. H. Wehr: ''Arabisches Wörterbuch.'' Wiesbaden 1968, S. 424.</ref> Sein Gesetz sei Grundlage der göttlichen [[Offenbarung]] im Koran. Bei der Scharia handele es sich allerdings nicht um ein kodifiziertes, unveränderliches Rechtssystem, sondern um „ein Regelwerk, welches sich stets im Wandel befindet“. Scharia lasse sich deshalb nur verstehen, wenn man die „Rechtsquellen- und Rechtsfindungslehre“ ''([[Usūl al-fiqh|uṣūl al-fiqh]])'' statt „inhaltliche[r] Einzelregelungen“ betrachtet.<ref>Mathias Rohe: ''Das Islamische Recht.'' Beck, München 2011, S. 5–6 ({{Google Buch |BuchID=YbyPx2X6PZEC |Seite=5}}).</ref>
Die '''Schari'a''' bzw. deutsch '''Scharia''' ([[Arabische Sprache|arabisch]] شريعة ''scharī'a'' «Weg zur Tränke», «deutlicher, gebahnter Weg», «religiöses Gesetz», «Ritus»; auch: شرع ''schar`''), das [[Islam|islamische]] [[Recht]], ist eine religiöse Pflichtenlehre, die die Regelung ''aller'' Bereiche des menschlichen Daseins anstrebt. In [[Kasuistik|kasuistischem]] Aufbau bestimmt sie die Rechte und Pflichten des Menschen gegenüber Anderen und gegenüber [[Gott]]. Trotz gelegentlicher Versuche ist die Schari'a nie kodifiziert worden, weshalb Detailfragen immer wieder durchaus strittig diskutiert werden. Die Pflege und Entwicklung der Schari'a obliegt der islamischen [[Jurisprudenz]] (فقه ''[[Fiqh|fiqh]]'').
Koranisch ist der Begriff Schari'a in [[Sure]] 45, Vers 18:
:«Hierauf (d.h. nach dem Zeitalter der Kinder Israels) haben wir dich in der Angelegenheit(?) auf einen (eigenen) Ritus festgelegt.» (Das Wort «[[Ritus]]» steht in [[Koran|Parets]] Übersetzung für Schari'a)
Daraus leitet sich für Muslime der göttliche Ursprung der Schari'a her.


Die Scharia leitet sich aus Interpretationen islamischer religiöser Texte ab, was bedeutet, dass es keinen Konsens darüber gibt, wie die Scharia wirklich umgesetzt werden sollte, wenn es um Staaten geht, die die Scharia als Teil ihrer Gesetzgebung haben. Länder wie [[Saudi-Arabien]] haben die Scharia als Hauptquelle der Gesetzgebung; da das Land jedoch auf dem [[Wahhabiten|Wahhabismus]] gegründet ist, setzt der Staat eine wörtliche Interpretation religiöser Texte um, während er sich weigert, sie zu kontextualisieren. Dies hat zu viel Kritik innerhalb der muslimischen Weltgemeinschaft geführt.<ref>{{Internetquelle |url=https://www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/shows/saudi/analyses/wahhabism.html |titel=Analyses - Wahhabism {{!}} PBS - Saudi Time Bomb? {{!}} FRONTLINE {{!}} PBS |abruf=2022-03-26}}</ref> [[Datei:Use of Sharia by country.svg|mini|hochkant=2|{{Farblegende|#179C86|Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit oder Mitglieder der [[Organisation für Islamische Zusammenarbeit|OIC]], in denen die Scharia keine Rolle im Rechtssystem spielt}}
Westliche geprägte Länder lehnen die ''Schari'a'' wegen ihrer Praktiken wie beispielsweise [[Steinigung]], [[Kreuzigung]] oder die Amputation von Körperteilen als barbarisch ab.
{{Farblegende|#F6DD4F|Länder mit säkularem Rechtssystem, in denen die Scharia im [[Privatrecht]] (z.&nbsp;B. [[Islamische Ehe|Ehe]], [[Talāq|Scheidung]], Erbrecht, Sorgerecht) Anwendung findet}}
{{Farblegende|#706EA4|Länder mit Gültigkeit der Scharia}}
{{Farblegende|#FF9950|Länder mit regional unterschiedlicher Anwendung der Scharia}}]]


== Etymologie ==
==Die Wurzeln der Rechtswissenschaft==
Das eingedeutschte Wort „Scharia“ wird auf die arabische Wurzel ''ŠRʿ'' ([[Transliteration#Beispiel zur Transliteration und Transkription aus einer Konsonantenschrift|transliteriert]] aus {{arS|شَرَعَ&lrm;|DMG=šaraʿa|de=anfangen, beginnen}})<ref>Vgl. H. Wehr: ''Arabisches Wörterbuch.'' Wiesbaden 1968, S. 424.</ref> zurückgeführt. Ein Großteil [[Arabische Sprache|arabischsprachiger]] Anhänger von Religionen des [[Naher Osten|Nahen Ostens]] setzen diesen Begriff den Vorschriften einer [[prophet]]ischen [[Religion]] gleich. Daraus entstanden Begriffe wie ''Scharīʿat Mūsā'' bzw. ''Scharīʿat al-Mūsā'' (das Gesetz/die Religion [[Moses|Mose]]),<ref>Vgl. ''Die [[Zehn Gebote]]''.</ref> ''Scharīʿat Madschūs'' (die [[Zoroastrismus|zoroastristische]] Lehre) oder allgemein für [[Monotheismus|Monotheisten]] als Bezeichnung für ihre Religionsvorschriften ''(Scharīʿatunā)''. Im [[Islam]] bezeichnet Scharia die „Regeln und Regulierungen, die das Leben von [[Muslim]]en bestimmen“ und [[Koran]] sowie [[Sunna]] entstammen.<ref>N. Calder: ''S̲h̲arīʿa.'' In: ''EI² Online.''</ref>
Die vier orthodoxen [[Madhhab|Rechtsschulen]] kennen 4 «Wurzeln der Rechtswissenschaft» (اصول الفقه ''usūl al-fiqh''), von denen allerdings nur die ersten beiden den Charakter von Quellen haben:
# Der [[Koran]] ist für Muslime das unmittelbare Wort Gottes und die erste Rechtsquelle. Allerdings haben nur etwa 500 Verse (ca. 8%) juristischen Bezug, weshalb schon früh die zweite Rechtsquelle hinzugezogen wurde.
# Die [[Sunna]] des [[Liste der Religionsstifter|Religionsstifters]] [[Muhammad]], sein gelebtes Vorbild und seine Aussprüche, stellt den Großteil des Materials der islamischen Jurisprudenz. Die Sunna wird in [[Hadith]]en überliefert, die schon früh schriftlich festgehalten wurden. Eine mit zeitlichem Abstand zum Tode Muhammads eskalierende «Hadith-Inflation» führte im 9. Jahrhundert zur Kodifizierung der «authentischen» Hadithe in den «Sechs Büchern» (الكتب الستة ''al-kutub as-sitta''), von denen zwei (Buchari und Muslim) besonderes Ansehen genießen.
# [[Qiyas]], der «Analogieschluss», erlaubt die Übertragung der Ergebnisse eines Falles auf einen ähnlich gelagerten. Ein Beispiel ist das Weinverbot des Koran (Sure 5, Vers 90f.), das strenge Juristen im Analogieschluss auf alle berauschenden Mittel ausdehnen, während man im Volk, z.B. in der Türkei, zuweilen keinen Zusammenhang zwischen Wein und anderen Alkoholika erkennen mag; eine Position, die allerdings von keinem Rechtsgelehrten unterstützt wird.
# [[Idschma]] (الإجماع), der Konsens, meint nicht den Konsens der gesamten muslimischen [[Gemeinde]] ''([[Umma|umma]])'', sondern den der Rechtsgelehrten ''(consensus doctorum)''. Ist der Konsens erst einmal erreicht, was daran erkannt wird, dass kein Einspruch eines anerkannten Rechtsgelehrten vorliegt, gilt ein Rechtsproblem in der Orthodoxie als endgültig abgeschlossen. Das hat historisch zu einer Stabilisierung der Schari'a geführt, die allerdings von Manchen auch als «Erstarrung» bezeichnet wird.


=== Koran ===
Daneben gibt es eine Reihe weiterer Rechtsquellen, die heute nicht mehr oder nur noch eingeschränkt verwendet werden:
Der Begriff Scharia hat, was den Islam angeht, seinen Ursprung im Koran. Erwähnt wird er dort jedoch nur an einer einzigen Stelle: [[Sure 45]], Vers 18, wo er ursprünglich den Pfad in der Wüste bezeichnet, der zur Wasserquelle führt. Davon leiten [[Muslim]]e einen göttlichen Ursprung der Scharia ab.
*Das [[Gewohnheitsrecht]] (عرف ''urf'' oder عادة ''āda''). Vorislamische Rechtspraktiken wurden, vor allem in der islamischen Expansionsphase, in großem Umfang in die Schari'a übernommen und durch den ''idschma'' legitimiert. Das [[Medina|medinensische]] Gewohnheitsrecht spielte hier eine große Rolle, aber auch Verwaltungspraktiken und Gesetze der eroberten Gebiete.
{{Zitat
*Die «Entscheidung nach eigenem Gutdünken» (رأى ''ra'y'') des Juristen, dort wo weder Koran noch Sunna einen Anhaltspunkt boten, stand schon früh in der Kritik und ist heute nicht mehr statthaft. Allerdings lebt der ''ra'y'' insofern in abgeschwächter Form im ''qiyas'' fort, als es im Ermessen des Juristen liegt, welche Präzedenzfälle er als analog betrachtet.
|Text=Wir haben doch (seinerzeit) den Kindern Israels die Schrift, Urteilsfähigkeit und Prophetie gegeben, ihnen (allerlei) gute Dinge beschert, sie vor den Menschen in aller Welt ausgezeichnet […] Hierauf (d. h. nach dem Zeitalter der Kinder Israels) haben wir dich in der Angelegenheit (?) auf einen (eigenen) Ritus festgelegt [ṯumma ǧaʿalnāka ʿalā šarīʿatin]. Folge nun ihm, und nicht den (persönlichen) Neigungen derer, die nicht Bescheid wissen!
*Der [[Idschtihad]] (اجتهاد ''idschtihād''), die selbstständige Interpretation der Rechtsquellen, wurde im orthodoxen Islam durch den Einfluss des Konsenses immer weiter zurückgedrängt, bis im Zuge der Konsolidierung der Rechtsschulen um das Jahr 300 der [[Hidschra]], das «Tor des Idschtihad» als geschlossen galt. In der [[Schia]] wird er weiterhin eingesetzt, die formalen Anforderungen an die Ausbildung des entsprechend befähigten Theologen sind jedoch sehr hoch. In jüngerer Zeit wurde von Seiten von Reformbewegungen (z.B. der [[Salafiya]], aber auch liberalen Muslimen – allerdings mit entgegengesetzten Zielen) die Wiedereinführung des Idschtihad gefordert, bzw. seine Ausübung regelrecht in Anspruch genommen.
|Autor=Sure 45, Verse [https://www.corpuscoranicum.de/index/index/sure/45/vers/16 16] und [https://www.corpuscoranicum.de/index/index/sure/45/vers/18 18]}}


Die Verbform ''šaraʿa'' tritt im Korantext an zwei Stellen auf:
==Handlungen des Menschen==
{{Zitat
===Die fünf Kategorien===
|Text=Und frag sie (d.h. die Kinder Israels bzw. die Juden) nach der Stadt, die am Meer (oder: Fluß) lag, (wie es damals zuging) als sie (d.h. die Bewohner der Stadt) (unser Gebot) hinsichtlich des [[Schabbat|Sabbats]] übertraten! (Damals) als ihre Fische am Tag, an dem sie Sabbat hatten, zu ihnen nach oben geschwommen (?) kamen [ḥītānuhum yauma sabtihim šurraʿan], jedoch dann, wenn sie nicht Sabbat feierten, (überhaupt) nicht kamen. So prüften (w. prüfen) wir sie (zur Vergeltung) dafür, daß sie gefrevelt hatten.
Die Schari'a teilt die menschlichen Handlungen in fünf Kategorien ein, die wie angegeben bewertet werden:
|Quelle=[[Sure 7]], [https://www.corpuscoranicum.de/index/index/sure7/vers/163 Vers 163]}}
# Pflicht (فرض ''fard'' oder واجب ''wādschib'') – das Tun wird belohnt, das Unterlassen bestraft. Unterschieden wird zwischen persönlichen Pflichten (فرض العين ''fard al-ayn''), denen jeder Muslim nachkommen muss, und gemeinschaftlichen Pflichten (فرض الكفاية ''fard al-kifāya'' «Pflicht des Genügeleistens»), bei denen es ausreicht, wenn eine ausreichende Anzahl der Muslime daran teilnimmt. In die erste Kategorie fällt z.B. das fünfmalige tägliche Gebet (صلاة, koranisch صلوة ''[[Salat (Gebet)|salat]]''), in die zweite der [[Dschihad]].
# Empfehlenswert (مندوب ''mandūb'' oder مستحب ''mustahabb'' oder سنة ''sunna'') – das Tun wird belohnt, das Unterlassen ''nicht'' bestraft
# Erlaubt (مباح ''mubāh'') – Tun und Unterlassen werden weder belohnt noch bestraft
# Verwerflich (مكروه ''makrūh'') – das Tun wird ''nicht'' bestraft, das Unterlassen belohnt
# Verboten (حرام ''harām'') – das Tun wird bestraft, das Unterlassen belohnt
Wenn hier von «belohnt» und «bestraft» gesprochen wird, so sind damit nur teilweise juristische Folgen gemeint, denn Pflichtverstöße gegenüber Gott lässt das islamische Recht in der Regel ungesühnt, da Muslime von einer Ahndung dieser Vergehen im «Jenseits» ausgehen.


Sowie
===Elemente einer Handlung===
{{Zitat
Zur Ausführung einer Handlung nach islamischem Recht gehören verschiedene Elemente, zu denen unter anderem die «Grundpfeiler» (اركان ''arkān'') gehören, ohne die die ganze Handlung hinfällig wird. Einer dieser Grundpfeiler ist die «Absicht» (نية ''nīya''): Eine Handlung, der die Absicht fehlt ist nichtig.
|Text=Er hat euch als Religion verordnet [šaraʿa lakum], was er (seinerzeit) dem [[Noach|Noah]] anbefohlen hat, und was wir (nunmehr) dir (als Offenbarung) eingegeben, und was wir (vor dir) dem [[Abraham]], Mose und [[Jesus]] anbefohlen haben (mit der Aufforderung) Haltet die (Vorschriften der) Religion und teilt euch darin (d.h. in der Religion) nicht (in verschiedene Gruppen)! Den [[Heidentum|Heiden]] (w. Denen, die (dem einen Gott andere Götter) beigesellen) kommt es (allerdings) schwer an, wozu du sie rufst. (Aber) Gott erwählt dazu, wen er will, und führt dazu (auf den rechten Weg) wer sich (ihm bußfertig) zuwendet.
|Quelle=[[Sure 42]], [https://www.corpuscoranicum.de/index/index/sure/42/vers/13 Vers 13]}}
Verwandt sind ferner die im Koran vorkommenden Wörter ''širʿ a'' (Sure 5, Vers 48) und ''šurraʿ'' (Sure 7, Vers 163).<ref>{{Literatur |Autor=Andreas Neumann |Hrsg= |Titel=Rechtsgeschichte, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Islam |Ort=Hamburg |Datum=2012 |ISBN=978-3-8300-5142-8 |Seiten=5-6}}</ref>


=== Hadīth ===
Am Vorhandensein der Elemente der Handlung erkennt der Jurist, ob sie rechtskräftig (صحيح ''sahīh'') oder nichtig (باطل ''bātil'') ist.
In [[Ahmad ibn Hanbal]]s [[Musnad]] tritt das Nomen „Scharia“ im Singular an einer Stelle auf. Dort heißt es, dass „die Gemeinschaft auf der Scharia (dem Weg/Pfad)“ bleiben solle. Im Plural tritt Scharia in Verbindung mit Islam (''šarāʾiʿ al-islām'') und [[Īmān]] (''šarāʾiʿ al-īmān'') sowie in der Aufzählung „der Glauben rührt aus den Pflichten, der Scharia, den [[Hadd-Strafe|Hudūd]] und der [[Sunna]]“ (''inna li-l-īmān farāʾiḍ wa-šarāʾiʿ wa-ḥudūd wa-sunan'') auf. Als Verb taucht scharaʿa an einer Stelle auf: „Gott hat für seinen Propheten Wege der Rechtleitung niedergelegt“ (''šaraʿa li-nabi-hi sunan al-hudā'').<ref>Calder: ''S̲h̲arīʿa'', in ''EI² Online''; vgl. [https://hadithunlocked.com/ahmad:4355 Hadith Nr. 4355].</ref>


==Besonderheiten==
== Definition ==
Scharia ist ein Begriff, den neben dem Islam auch andere monotheistische Religionen im Nahen Osten verwendet haben. Hier einige Beispiele:
===Schriftform und Zeugen===
===Rechtsgutachten===
Siehe [[Fatwa]]


=== Islam ===
==Teilbereiche der Schari'a==
„Die Scharia basiert auf dem Koran und auf der sich ab der Mitte des 7. Jahrhunderts herausbildenden Überlieferung vom normsetzenden Reden und Handeln Mohammeds“,<ref>[[Tilman Nagel]]: ''Kann es einen säkularisierten Islam geben?'' In: Reinhard C. Meier-Walser, Rainer Glagow (Hrsg.): ''Die islamische Herausforderung – eine kritische Bestandsaufnahme von Konfliktpotenzialen'' (= ''aktuelle Analysen.'' Band 26). Hanns-Seidel-Stiftung e.&nbsp;V., Akademie für Politik und Zeitgeschehen, München 2001, ISBN 3-88795-241-3, S. 9–21, hier: S. 15. {{Webarchiv |url=https://www.hss.de/fileadmin/migration/downloads/aktuelle_analysen_26.pdf |text=Digitalisat |wayback=20180209233551}}</ref> welches sich in der [[Sunna]] manifestiert. Dabei ist die Scharia keine kodifizierte Gesetzessammlung (wie etwa deutsche Gesetzestexte im [[Bürgerliches Gesetzbuch|Bürgerlichen Gesetzbuch]] oder im [[Strafgesetzbuch]]), sondern eine „Methode und Methodologie der Rechtsschöpfung“.<ref>Peter Heine: ''Ein System großer Flexibilität – Der Begriff „Scharia“ provoziert ständige Missverständnisse.'' In: ''Herder Korrespondenz.'' Band 65, Nr. 12, 2011, S. 613–617. {{Webarchiv |url=https://www.herder-korrespondenz.de/religion/islam/der-begriff-scharia-provoziert-staendige-missverstaendnisse-ein-system-grosser-flexibilitaet-auszug |text=Digitalisat |wayback=20180210074732}}</ref>


Handlungen muslimischer Gläubiger unterscheiden sich dabei in den [[al-Ahkām al-chamsa|fünf Beurteilungen]]
===Bekleidungsvorschriften===
* ''[[Fard (Islam)|farḍ]]'' („Pflicht“) oder ''wādschib'' („obligatorisch“),
* ''[[mandūb]]'' („empfohlen“), auch ''mustahabb'' („erwünscht“) oder ''[[Sunna#Sunna als Bewertungskategorie im Fiqh|sunna]]'',
* ''mubāh'' oder ''[[halāl]]'' („erlaubt“),
* ''[[makrūh]]'' („verpönt“),
* ''mahzūr'' oder ''[[harām]]'' („verboten“).<ref>Heine: ''Ein System großer Flexibilität – Der Begriff „Scharia“ provoziert ständige Missverständnisse''. {{Webarchiv |url=https://www.herder-korrespondenz.de/religion/islam/der-begriff-scharia-provoziert-staendige-missverstaendnisse-ein-system-grosser-flexibilitaet-auszug |text=Digitalisat |wayback=20180210074732}}</ref><ref>Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 10.</ref>
Eine weltliche Sanktion ist dabei nicht immer gegeben, für viele Handlungen müssen sich Muslime auch erst im [[Jenseits]] vor Gott verantworten.<ref>Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 10.</ref> Da der durchschnittliche Gläubige sich aber nicht in allen Belangen auskennen kann, hat er die Möglichkeit, islamische Rechtsgelehrte um ein Rechtsgutachten (arabisch ''[[Fatwa]]'') zu fragen.<ref>Heine: ''Ein System großer Flexibilität – Der Begriff „Scharia“ provoziert ständige Missverständnisse''. {{Webarchiv |url=https://www.herder-korrespondenz.de/religion/islam/der-begriff-scharia-provoziert-staendige-missverstaendnisse-ein-system-grosser-flexibilitaet-auszug |text=Digitalisat |wayback=20180210074732}}</ref>


Im islamischen Normenfindungsprozess wird zwischen kultischen und rituellen Vorschriften ({{arF|العبادات&lrm;|DMG=[[ʿIbāda|al-ʿibādāt]] |de=gottesdienstliche Handlungen}}) des Menschen einerseits und seine Beziehungen zu seinen Mitmenschen ({{arF|المعاملات&lrm;|al-muʿāmalāt|de=gegenseitige Beziehungen}}) andererseits unterschieden.<ref>Heine: ''Ein System großer Flexibilität – Der Begriff „Scharia“ provoziert ständige Missverständnisse''. {{Webarchiv |url=https://www.herder-korrespondenz.de/religion/islam/der-begriff-scharia-provoziert-staendige-missverstaendnisse-ein-system-grosser-flexibilitaet-auszug |text=Digitalisat |wayback=20180210074732}}</ref> Ein in europäischem Sinne festgelegtes „Familienrecht“, „Erbrecht“, „Strafrecht“&nbsp;– oder andere&nbsp;– kennt das islamische Rechtssystem bzw. das ausschließlich von männlichen Geistlichen bestimmte islamische Recht nicht.<ref>[[Natalie Amiri]]: ''Zwischen den Welten. Von Macht und Ohnmacht im Iran.'' Aufbau, Berlin 2021, ISBN 978-3-351-03880-9; Taschenbuchausgabe ebenda 2022, ISBN 978-3-7466-4030-3, S. 81.</ref> Seine Darstellung ist den [[Madhhab|Rechtsschulen]] in ihren Fiqh-Büchern, mit teilweise deutlich [[Ichtilāf|kontroversen Rechtsauffassungen]], vorbehalten.<ref>A. J. Wensinck, J. H. Kramers (Hrsg.): ''Handwörterbuch des Islam.'' Brill, Leiden 1941, S.&nbsp;674.</ref>
Jeweils für Männer und für Frauen gelten verschiedene Richtlinien bezüglich ihres Äußeren. So soll eine Frau ihre körperlichen Reize vor Fremden bedecken. Für ältere, nicht mehr heiratsfähige Frauen gelten erleichterte Richtlinien (Koran Sure 24, Vers 60). Männer sollen immer mindestens den Bereich zwischen Bauchnabel und Knie bedeckt halten und Bart und Haare pflegen.


Diese Widersprüche soll ein Muslim akzeptieren. Das Forschen nach der Bedeutung und inneren Logik der göttlichen Gesetze ist nur zulässig, soweit Gott selbst den Weg dazu weist. Somit ist die religiöse Wertung aller Lebensverhältnisse die Grundtendenz der Scharia.<ref>A. J. Wensinck, J. H. Kramers (Hrsg.): ''Handwörterbuch des Islam.'' Leiden 1941, S.&nbsp;674–676.</ref>
Die verschiedenen Formen der Schleier bei der Frau beruhen auf verschiedenen Lebensumständen und Traditionen. Die Vollverschleierung der Frau war bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in islamischen Ländern vor allem ein städtisches Phänomen, auf dem Land hingegen wurde die Art der Kopfbedeckung von praktischen und traditionellen Gesichtspunkten bestimmt, so gibt es auch Schleierformen, die zwar das Gesicht bedecken, die Haare aber frei lassen.


In Bezug auf den ethisch-religiösen Bereich ist laut [[Abū l-Hasan al-Aschʿarī]] die Scharia als „[…] die Gesamtheit der auf die Handlungen des Menschen bezüglichen Vorschriften Allāhs zu verstehen“. In diesem Kontext ist sie ethisch-religiös als Aspekt der göttlichen Ordnung, die das sittliche Verhalten der Menschen betreffen, zu verstehen.<ref>[[Carl Heinz Ratschow]]: ''Ethik der Religionen. Ein Handbuch.'' (1980), S.&nbsp;185.</ref>
Spätestens mit dem Kopftuchverbot durch [[Atatürk]] in der [[Türkei]] wurde aus der Marginalie ein Politikum und der [[Kopftuchstreit]] wird unter Muslimen recht emotional geführt, da beiden Seiten wirklich stichhaltige Argumente fehlen.


=== Judentum ===
Als koranische Begründung für den Schleier gelten Sure 24, Vers 31 und Sure 33, Vers 59.
Zur Übersetzung des hebräischen Wortes [[Tora]] verwendete der arabischsprachige Jude [[Saadia Gaon|Saʿadia Gaon]] (882–942) „Scharia“ im Sinne von Gesetz, zum Beispiel in {{B|Ex|13|9}}: (''šarīʿat allāh'' für ‚das Gesetz Gottes‘) und in {{B|Dtn|4|44}}: (''hāḏihi š-šarīʿat..: „Dies ist das Gesetz des Brandopfers“''). In Gaons [[Tafsir (Bibelübersetzung)|Tafsīr]] aus dem 10. Jahrhundert beschreibt Scharia also stets eine Regel oder ein System von Regeln. Bemerkenswert ist dies, weil der Begriff Scharia verwendet wird, obwohl dafür an einigen Stellen auch das arabische Wort für Tora (''at-taurāt'') auftritt.<ref>Calder: ''S̲h̲arīʿa'' in ''EI² Online''.</ref>


In seinem theologischen Werk ''Kitāb al-amānāt wa-l-iʿtiqādāt'' („Buch der Glaubensinhalte (wörtlich: Treuhänderschaften) und Überzeugungen“) bezeichnet der Begriff Scharia individuelle Rechte und Recht als ein von Gott offenbartes System. Gaon unterscheidet zudem zwischen rationalen und offenbarten Gesetzen. Das Verb scharaʿa mit Gott als Subjekt bezeichnet darüber hinaus an einer Stelle „ein Gesetz niederlegen“.<ref>Calder: ''S̲h̲arīʿa'' in ''EI² Online''.</ref>
===Ehe===
Islamische Ehen werden durch einen Ehevertrag (عقد النكاح ''aqd an-nikāh'') zwischen einem gesetzlichen Vertreter (ولى ''walī'') der Braut, der mit den Zeugen die Einwilligung der Braut einholen muss - was jedoch nicht für die [[Schafiiten|Schafiiten Rechtsschule]] gilt, die die Verheiratung einer Jungfrau gegen ihren Willen erlaubt - und dem Bräutigam geschlossen. Scheidung ist für den Mann leicht möglich, für die Frau jedoch kaum. Männer können bis zu vier Frauen gleichzeitig heiraten (Koran Sure 4, Vers 3f.), müssen diese dann aber alle gerecht behandeln oder sich mit einer Frau begnügen. Die meisten [[Sufi]]s (islamische [[Mystiker]]) legen den obengenannten Vers so aus, daß es einem gläubigen Muslim ausschließlich erlaubt ist, nur eine einzige Frau zu heiraten.


=== Christentum ===
Bei der Hochzeit wird die Brautgabe («Morgengabe» مهر ''mahr'' oder صداق ''sadāq'') vom Bräutigam an die Braut fällig. Nach einer Scheidung gelten auch Vorschriften zur Sicherung des Unterhalts der Frau (Alimente نفقة ''nafaqa''). Eine Besonderheit der [[Schia]] sind befristete Eheverträge („Zeitehen“ متعة ''mut'a''), die eine legale Form des [[Konkubinat]]s oder der [[Prostitution]] darstellen. Die Morgengabe ist in diesem Fall der Lohn für die Frau.
Der [[Malankara Syrisch-Orthodoxe Kirche|Jakobite]] ʿĪsā ibn Ishāq ibn Zurʿa (943–1008) benutzte in einem [[Polemik|polemischen]] Werk gegen [[Judentum|Juden]] das Wort Scharia als ein System von Gesetzen, das Propheten den Menschen bringen. Die [[Christentum|christliche Religion]] und das Gesetz des [[Messias]] gibt er mit Scharīʿat al-Masīh und Sunnat al-Masīh wieder.<ref>Calder: ''S̲h̲arīʿa'' in ''EI² Online''.</ref>


== Scharia und Fiqh ==
Die Frau ist dem Mann in allen Bereichen untergeordnet, kann allerdings mit ihrem eigenen Geld wirtschaftlich selbstständig handeln. Nur Männer sind zum Unterhalt verpflichtet, der allerdings nicht eingeklagt werden kann. Eine maßvolle körperliche Züchtigung der Frauen durch ihre Ehemänner ist durch die Schari'a gedeckt.
Unter den „Wurzeln der Rechtsfindung“ (''uṣūl al-[[fiqh]]'') versteht man die Gesetzeswissenschaft im Islam, deren Gegenstand die Scharia ist. Sie entspricht der ''iuris prudentia'' ([[Rechtswissenschaft]]) der Römer und erstreckt sich auf alle Beziehungen des religiösen, bürgerlichen und staatlichen Lebens im Islam. Die religiösen Gesetze werden in den Büchern des Fiqh dargelegt und erörtert. [[Ibn Chaldūn]] erklärt dazu:
{{Zitat
|Text=Der ''fiqh'' ist die Kenntnis der Bestimmungen (''aḥkām'') Gottes des Erhabenen zur Einordnung der Handlungen derjenigen, die diesen Bestimmungen jeweils unterworfen sind (''al-mukallafīn''), als geboten, verboten, empfohlen, missbilligt und schlicht erlaubt, die aus dem Koran, der Sunna und dem, was der Gesetzgeber (Gott) als weitere Quellen und Instrumente (''adilla'') zu ihrer Erkenntnis bereitgestellt hat, entnommen werden, und wenn die Bestimmungen durch diese Quellen und Auslegungsinstrumente herausgefunden werden, so nennt man sie ''fiqh''.
|ref=<ref>Ibn Ḫaldūn: ''al-Muqaddima''. Band 2. Dimašq, Dār al-Balḫī 2004, S. 185,{{archive.org |WAQ80921/02_70922 |Blatt=n184}}. Die deutsche Übersetzung entstammt Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 12.</ref>}}


Fiqh ist kein starres Rechtssystem, das unwandelbar alle Zeiten überlebt hat und an allen Orten gültig ist. Islamwissenschaftler, Arabisten und Ethnologen (beispielsweise [[Gudrun Krämer]],<ref>Gudrun Krämer: ''Demokratie im Islam. Der Kampf für Toleranz und Freiheit in der arabischen Welt''. C. H. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-62126-0.</ref> [[Thomas Bauer (Arabist)|Thomas Bauer]],<ref>Thomas Bauer: ''Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams.'' Verlag der Religionen im Insel Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-458-71033-2.</ref> Ingrid Thurner<ref>Ingrid Thurner: ''1001 Wege der Rechtsfindung''. In: [https://www.tagblatt-wienerzeitung.at/themen_channel/wz_reflexionen/vermessungen/?em_cnt=524765&em_cnt_page=2 Wiener Zeitung], 16. Februar 2013.</ref>) betonen immer wieder, dass Meinungspluralismus keineswegs in Widerspruch zur Scharia steht.
Die [[Polygynie]] (eine Form der Mehrehe) ist in Tunesien und der Türkei gesetzlich verboten.


== Quellen des islamischen Rechts ==
===Erbrecht===
Scharia als Grundlage des '''islamischen Rechts''' speist sich aus einer Vielzahl von Quellen. Koran und Hadīth sind von allen islamischen Strömungen als Quellen anerkannt, hinsichtlich der restlichen Quellen herrscht kein Konsens.
Das Erbrecht ist im Islam recht kompliziert. Seine koranische Grundlage hat es in Sure 4, Vers 11-12 (Die Frauen), in der insbesondere der Erbteil der Frauen geregelt wird, was auf eine Präzisierung vorislamischen Erbrechts schließen lässt.


=== Koran ===
Im Vergleich mit dem deutschen Erbrecht ist auffallend, dass der Erblasser lediglich über ein Drittel seines Vermögens frei verfügen kann und dass Schulden nicht vererbt werden. Töchter erben die Hälfte des Erbteils von Söhnen, dies ist allerdings in der Schia anders: hier sind Töchter und Söhne zu gleichen Teilen erbberechtigt.
Zwar ist der Koran die wichtigste Quelle islamischen Rechts. Allerdings enthält er nur einige Rechtsnormen, ferner einzelne Anweisungen, die lediglich als Grundlage einer allgemeinen, umfassenden Gesetzgebung gelten können. Laut Matthias Rohe weisen circa 500 Verse einen rechtlichen Bezug auf. Die meisten davon behandeln religiöse Ritualvorschriften (''ʿibābāt'') und nur einige Dutzend beschäftigen sich mit straf- und zivilrechtlichen Fragestellungen. Die letzte Kategorie lässt sich noch in Erb-, Ehe- und Familienrecht sowie einige Strafbestimmungen und die [[Zakāt|Almosensteuer]] untergliedern.<ref>Matthias Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 48–49.</ref>


Da viele dieser Stellen im Koran aber nicht eindeutig sind, haben [[Koranexegese|Exegeten]] die Verse in solche aufgeteilt, die keiner Auslegung bedürfen (''muḥkam'') und in solche, deren Bedeutung sich nicht von vornherein erschließt. Es bildete sich deshalb ein eigenes Genre heraus, welches sich mit der Auslegung des Korans beschäftigt: [[Koranexegese|Tafsīr]]. In [[Zwölfer-Schiiten|zwölfer-schiitischen]] Kreisen wird sogar angenommen, dass die Menschen nach der [[Ghaiba|Entrückung]] des letzten Imām [[Muhammad al-Mahdī]] die genaue Bedeutung des Korans nicht mehr erfassen könnten. Schließlich könnten die wahre Bedeutung des Korans und seinen normativen Charakter nur die zwölf Imāme verstehen.<ref>Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 49.</ref>
Zur Umgehung der erbrechtlichen Einschränkungen wurde oft auf Stiftungen zurückgegriffen.


===Kriegsrecht===
=== Sunna ===
Die zweite wichtige Quelle des islamischen Rechts ist für Sunniten die Sunna Muhammads. Während sich das islamische Recht herausgebildet hat, galten und gelten noch heute für Sunniten die Überlieferungen über die [[Sahāba|Prophetengenossen]] ebenfalls als Teil der Sunna. Großteils werden im sunnitischen Islam heute nur noch diejenigen Überlieferungen Muhammads anerkannt, die er in seiner Funktion als Prophet und nicht als Mensch getätigt hat. Dafür gibt es mehrere Aussprüche Muhammads selbst, mit dem dieser selektive Gebrauch begründet wird. Beispielsweise heißt es in einem Hadīth: „In euren weltlichen Angelegenheiten wisst ihr besser Bescheid (als ich).“ Muslime kritisieren dennoch andere Muslime, dass manchen diese Trennung schwer falle.<ref>Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 52–53.</ref>
Das islamische Kriegsrecht wird im Artikel [[Dschihad]] behandelt. Der Dschihad ist eine Gemeinschaftspflicht und wird nur für Einwohner bedrohter Gegenden zur persönlichen Pflicht.


Schiiten dagegen erkennen neben den Überlieferungen Mohammeds diejenigen der zwölf Imāme an.<ref>Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 53.</ref>
===Religionsfreiheit===
Siehe auch: [[Aleviten]], [[Ibaditen]], [[Ismailiten]], [[Kufr]], [[Schirk]]


===Stiftungen===
=== Idschmāʿ ===
Der Konsens ([[Idschmāʿ]]) konstituiert die erste Quelle des islamischen Rechts, die menschengemacht ist. Darunter versteht man den „Konsens aller relevanten Gelehrten in Übereinstimmung mit Koran und Sunna“.<ref>Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 58.</ref>
Siehe: [[Waqf]]


===Strafrecht===
=== Qiyās ===
Auch der [[Qiyās|Analogieschluss]] ist eine Quelle der Scharia.<ref>Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 62.</ref>
[[Bild:Jeddah02.jpg|thumb|Amputation bei einem Dieb, Saudi Arabien, 50er Jahre des 20. Jahrhunderts]]
Strafrecht im engeren Sinne ist in der Schari'a kaum vorhanden, da selbst bei Mord die Angehörigen des Opfers entscheiden, ob eine Entschädigungszahlung oder die Hinrichtung des Täters erfolgt, die Regelung also quasi privatrechtlich ist. Die Justiz beaufsichtigt hier im Prinzip nur die vorislamische [[Blutrache]] (ثأر ''tha'r'') und verhindert deren Eskalation.


=== Istihsān ===
Einen besonderen Status haben die direkt vom Koran verbotenen Handlungen, die ''hadd''-Vergehen (حد, pl. حدود ''hudūd''). Das sind [[Unzucht]] (زناء ''zinā''), [[Verleumdung]] betreffs Unzucht, [[Wein]]konsum, [[Diebstahl]] und Straßen[[raub]]. Diebstahl wird mit [[Amputation]] der rechten Hand, im Wiederholungsfalle mit Amputation des linken Fußes bestraft (siehe Abbildung). Für außerehelichen Geschlechtsverkehr sieht der Koran (Sure 4, Vers 15) bei volljährigen Frauen, die verheiratet sind oder waren, lebenslangen Hausarrest oder einen von Gott geschaffenen, nicht näher beschriebenen «Ausweg» vor. Dieser Ausweg ist in der Rechtspraxis die [[Steinigung]]. Allerdings setzt der Koran hier hohe Hürden, denn es werden speziell für die Unzucht vier männliche Zeugen gefordert, was praktisch ein Geständnis notwendig macht. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass der Richter hier den Prozess zugunsten des Beschuldigten zu führen und auch auf die Möglichkeit des Geständnis-Widerrufs hinzuweisen hat. Auch [[Homosexualität]] gilt als Unzucht.
Das „Für-besser-halten“ ist vor allem in der [[Hanafiten|hanafitischen]] Rechtsschule ein beliebtes Instrument. Andere [[Madhhab|Rechtsschulen]] lehnen Istihsān mit Verweis auf Willkür ab, sehen es in manchen Fällen aber auch als zulässig an. Hanafiten gebrauchen ihn oft, um andere Rechtsquellen, vor allem den Qiyās, zu umgehen.<ref>Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 64–66.</ref>


=== Istislāh ===
Verleumdung betreffs Unzucht wird mit 40&ndash;80 Peitschenhieben bestraft (allerdings kann der Geschädigte auf die Bestrafung verzichten), ebenso das Trinken von Wein. Straßenraub wird, je nach Schwere, mit Gefängnis oder [[Kreuzigung]] geahndet.
Der allgemeine Nutzen, auch ''al-masālih al-mursala'', fand bei den [[Hanbaliten]], den [[Malikiten]] und den [[Schafiiten]] Eingang. Istislāh ist ein Instrument, welches es dem Rechtsgelehrten erlaubt, bei seiner Entscheidung den allgemeinen Nutzen als Grund für seine Entscheidung anzugeben.<ref>Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 66.</ref>


===Wirtschaft===
=== Madhhab as-Sahābī ===
„Die Auffassungen der (einzelnen) Prophetengenossen“ können in manchen Fällen ebenso Teil der Scharia sein und als Quelle für eine Entscheidung herangezogen werden.<ref>Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 67.</ref>
Für den Kapitalverkehr ist das Zinsverbot (Sure 2, Vers 278 u.a.; ربا ''riban'', in engerer Auslegung «Wucher») eine besondere Belastung, was schon früh zu Umgehungsgeschäften geführt hat: So kann man z.B. eine Ware mit Zahlungsziel kaufen und sofort zu einem niedrigeren Preis an den Verkäufer, der sofort zahlt, zurückveräußern. Da die Ware letztlich den Besitz nicht gewechselt hat, jedoch Geld ausgezahlt wurde, ist das Resultat wie bei einem Kredit mit Zinsen, der Wortlaut des Gesetzes jedoch eingehalten. Rechtskniffe (حيلة ''hīla;'' pl. حيل ''hiyal'') dieser Art finden sich in der islamischen Rechtspraxis häufig; sie sind eines der Mittel, die Schari'a an gewandelte Voraussetzungen anzupassen.


=== ʿUrf ===
Die einzige genuin islamische Steuer und gleichzeitig eine der «Säulen des Islam» ist die «Almosensteuer» (زكاة ''zakāt'') eine Mischung aus Einkommens- und Vermögenssteuer, die nur zwischen 2,5% und 10% liegt. Ihre Verwendung ist im Koran (Sure 9, Vers 60) festgelegt. Schon in der ersten Expansionsphase reichte sie nicht mehr zur Deckung der Staatsausgaben (wozu sie auch nicht gedacht ist) und wurde durch weitere Abgabenarten (z.B. die Grundsteuer خراج ''charādsch'') ergänzt.
Das [[Gewohnheitsrecht]], auch ʿāda, ist anerkannt, sofern es Regeln innerhalb der Scharia nicht widerspricht. Durch die Integration lokaler Bräuche in das islamische Recht finden sich noch heute vor allem an den Rändern der islamischen Welt Beispiele, die wenig mit den Gepflogenheiten der Schariaanwender gemein haben. Dadurch wurde auch die Ausbreitung des Islams erleichtert.<ref>Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 68.</ref>


=== Sadd ad-Darāʾiʿ ===
==Geltungsbereich==
Alles, was zu Verbotenem führen kann, wird durch das „Versperren der Mittel“ ebenfalls verboten. Hanbaliten und Malikiten beziehen in ihre Beurteilung vor allem die Absicht (''[[nīya]]'') mit ein, während Hanafiten und Schafiiten die Mittel nur versperren, wenn ein Verbot mit großer Wahrscheinlichkeit vermieden werden soll.<ref>Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 71.</ref>
Nicht alle Vorschriften der Schari'a sind für jeden gültig: manche richten sich nur an ein bestimmtes Geschlecht (z.B. das [[Kopftuch]] bei Frauen) oder bestimmte Altersstufen. Die kultischen Vorschriften gelten nur für Muslime, Angehörige anderer Religionen (siehe [[Dhimmi]]) sind davon nicht betroffen, allerdings gelten, in Ländern in denen die Schari'a gilt, für sie spezielle Regelungen.


=== Istishāb ===
Wer zu bestimmten Handlungen verpflichtet (مكلف ''mukallaf'') ist, wird jeweils genau vermerkt. Meist muss man im Vollbesitz der geistigen Kräfte (عاقل ''`āqil'') und volljährig (بالغ ''bāligh'') sein.
Die Beibehaltung, auch ''Normen derer vor uns'' (''šarʿ man qablanā''), bezeichnet den Fortbestand einmal begründeter Rechtsverhältnisse. Denn nur so könne beispielsweise erworbenes Eigentum sicher sein.<ref>Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 72.</ref>
===In islamischen Staaten der Gegenwart===
[[Bild:Jeddah04.jpg|thumb|Öffentliche Enthauptung, Saudi Arabien, 50er Jahre des 20. Jahrhunderts]]
Seit der «Kairiner Deklaration der Menschenrechte im Islam» [[1990]] ist die Schari'a wieder Basis der Gesetzgebung in allen islamischen Ländern. Die praktische Umsetzung ist jedoch sehr unterschiedlich und reicht von «praktisch nicht erkennbar», wie in der [[Türkei]], über die Umsetzung nur im zivilrechtlichen Bereich ([[Tunesien]]) bis zur fast vollständigen Geltung ([[Sudan]]). Zuweilen gilt die Schari'a nur in islamisch dominierten Landesteilen ([[Nigeria]]).
Zur Zeit ist die Schari'a geltendes Recht in [[Nigeria]] (einige Bundesstaaten), [[Iran]], [[Saudi-Arabien]], [[Bangladesch]], [[Afghanistan]], [[Marokko]], [[Sudan]], [[Katar]] und [[Pakistan]].


== Scharia und ihre Gültigkeit ==
==Mystische Bedeutung==
Die Islamwissenschaftler [[Otto Spies]] und [[Erich Pritsch]] sehen in der Gültigkeit der Scharia einen grundsätzlichen Unterschied zum europäischen Recht:
Im [[Sufismus]] (islamische [[Mystik]]) hat die Schari'a den Stellenwert der ''Basis'' für den Weg des Gottessuchenden. Weitere Stationen sind in der Reihenfolge: [[Tariqa]] (der mystische Weg), [[Haqiqa]] (Wahrheit) und [[Ma'rifa]] (Erkenntnis). Der bekannte Mystiker [[Ibn Arabi]] ([[1165]] - [[1240]]) beschreibt diese vier Stationen folgendermaßen: Auf dem Niveau von Schari'a gibt es ''“dein und mein“''. Das heißt, daß das religiöse Gesetz individuelle Rechte und [[Ethik|ethische]] Beziehungen zwischen den Menschen regelt. Auf dem Niveau von Tariqa ''“ist meins deins und deins ist meins“''. Von den Sufis wird erwartet, daß sie sich gegenseitig als Brüder und Schwestern behandeln, den jeweils anderen an seinen Freuden, seiner Liebe und seinem Eigentum teilhaben lassen. Auf dem Niveau der Wahrheit (Haqiqa) gibt es ''“weder meins noch deins“''. Fortgeschrittene Sufis erkennen, daß alle Dinge von Gott kommen, daß sie selbst nur die Verwalter sind und in Wirklichkeit nichts besitzen. Diejenigen, die die Wahrheit erkennen, interessieren sich nicht für Besitz und Äußerlichkeiten im Allgemeinen, Bekanntheit und gesellschaftlichen Stand inbegriffen. Auf dem Niveau der Erkenntnis (Ma'rifa) gibt es ''“kein ich und kein du“''. Der einzelne erkennt, daß nichts und niemand von Gott getrennt ist.
{{Zitat
|Text=Rechte und Ansprüche der Menschen erscheinen grundsätzlich nur als Reflexe religiöser Pflichten. Daher ist die Freiheit des Einzelnen im Scheriatrecht weit mehr eingeschränkt als im abendländischen Recht. Während hier alles erlaubt ist, was nicht gesetzlich verboten ist, verbietet der Islam alles, was nicht gesetzlich erlaubt ist. Er kennt daher auch nicht den unser heutiges Recht beherrschenden Grundsatz der Vertragsfreiheit; zulässig ist nur der Abschluss von Verträgen, die scheriatrechtlich erlaubt sind.
|ref=<ref>O. Spies, E. Pritsch: ''Klassisches islamisches Recht.'' In: Bertold Spuler (Hrsg.): ''Handbuch der Orientalistik. Erste Abteilung: Der Nahe und der Mittlere Osten.'' Ergänzungsband III: ''Orientalisches Recht.'' Brill, Leiden/Köln 1964, S.&nbsp;222.</ref>}}
Dieser Auffassung widerspricht [[Matthias Rohe]]:
{{Zitat
|Text=[…] zwei wichtige gemeinsame Grundsätze. Erstens: Alles nicht Verbotene ist erlaubt […]. Zweitens: Ohne besondere Anordnung besteht keine Verpflichtung […]. Dies ist hervorzuheben, weil eine verbreitete, von unzutreffendem Vorverständnis geprägte Sicht fälschlich das Gegenteil behauptet.
|ref=<ref>Matthias Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 43.</ref>}}
Rohe zitiert den Juristen der frühen [[Abbasiden]]zeit ʿ[[Īsā ibn ʿAbān]] als Beispiel für eine von [[Otto Spies|Spies]] und [[Erich Pritsch|Pritsch]] vertretene Ansicht. Jedoch betont [[Mathias Rohe|Rohe]], dass diese Sichtweise nicht verbreitet sei.<ref>Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 43–44.</ref>


== Ausprägungen des islamischen Rechts ==
==Literatur==
=== Nichtmuslime ===
* Richard Hartmann: ''Die Religion des Islam''. Darmstadt 1987. ISBN 3-534-01664-4
Die Scharia umfasst neben den Rechten von Muslimen auch Nicht-Muslime, die auf islamischem Territorium leben. Diese wurden zwar bis zu einem gewissen Grad beschützt, standen Muslimen jedoch nicht [[Gleichberechtigung|gleichberechtigt]] gegenüber. Die [[Diskriminierung|Benachteiligung]] von Nicht-Muslimen war von staatlicher Seite in vielen Fällen institutionalisiert. So durften sie keine hohen Staatsämter bekleiden und keinen Militärdienst absolvieren. Allerdings kam es zwischenzeitlich auch immer wieder zu Lockerungen solcher Vorschriften. In solchen Zeiten stiegen Nicht-Muslime oft in hohe Ämter auf.<ref>Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 154.</ref>
* Said Ramadan: ''Das islamische Recht:'' Theorie und Praxis. Wiesbaden 1980. ISBN 3-447-02078-4
* Eduard Sachau: ''Das Recht der Scharia''. Neuaufl. Frankfurt a.M. 2004.


=== Unterhaltsrecht ===
==Weblinks==
Laut Rohe spiegelt das islamische Unterhaltsrecht die Lebensbedingungen patriarchalischer Großfamilien wider. Deshalb sind traditionell Männer unterhaltspflichtig. Falls der Mann dieser Pflicht aus materiellen Gründen nicht nachkommen kann, ist die Frau gegenüber ihren Kindern dafür zuständig, für diese zu sorgen. Die nächste Instanz wäre dann – außer bei den Malikiten – die Großeltern. Sollte ein Mann seinen Pflichten während der Ehe nicht nachkommen, ist es der Frau erlaubt, die Scheidung einzureichen. In den meisten Fällen wird ihr dies auch erlaubt, wenn ein Dritter für den Unterhalt aufkommt. Vor allem für Männer aus ärmeren Schichten stellt dies nicht selten ein Problem dar.<ref>Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 97–98.</ref>
* [http://www.humanrights.harvard.edu/documents/regionaldocs/cairo_dec.htm Kairiner Deklaration der Menschenrechte im Islam] – englisch. Die Deklaration stammt von der [[OIC]] (Organisation der Islamischen Konferenz), der alle islamischen Staaten angehören. Sie stellt die Menschenrechte unter den Generalvorbehalt der Schari'a.


Söhne haben bis zur Volljährigkeit einen Anspruch auf Unterhalt, Töchter bis zur Heirat und ab dem Tod ihres Ehemanns. Eltern, Großeltern und Enkel haben ebenfalls das Recht, einen Anspruch auf Unterhalt zu stellen, wenn sie ökonomisch nicht auf eigenen Beinen stehen. Entfernte Verwandte muss jedoch nur ein reicher Mann versorgen. Über die Höhe der Zahlungen herrscht kein Konsens. Laut den ''[[Fatwa|Fatāwā]] ʿĀlamgīrīya'' soll die Höhe jedoch am möglichen Erbanteil bemessen werden. Auch die Konkurrenz zwischen Kindern und Eltern des Unterhaltspflichtigen ist Thema vieler Debatten.<ref>Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 98.</ref>
==Siehe auch==
[[Liste islamischer Begriffe auf Arabisch]], [[Strafgesetz der Islamischen Republik Iran]]


Im Falle einer Scheidung variierte die Höhe des Entgelts für die Frau stets. Meist wurde ihr jedoch mindestens das [[Brautpreis|Brautgeld]] (''mahr'') zugesprochen. Falls die Scheidung von ihr ausgegangen ist, entfielen die Kosten für den Mann im Normalfall. Es gibt Beispiele in der Geschichte, die belegen, dass Frauen auch zur Scheidung gezwungen wurden.<ref>Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 94–95.</ref>
{{Rechtshinweis}}


Neuere Entwicklungen spiegeln teils noch immer patriarchalische Vorstellungen wider. In Ägypten hat beispielsweise der Sohn bis zu seiner Volljährigkeit einen Anspruch auf Unterhalt, während ihn die Tochter bis zur Ehe oder bis zum Eintritt ins Berufsleben hat. Sie ist jedoch weder verpflichtet zu heiraten noch zu arbeiten. In [[Marokko]], [[Tunesien]], [[Libyen]] und den [[Vereinigte Arabische Emirate|Vereinigten Arabischen Emiraten]] jedoch muss eine vermögende Ehefrau ebenfalls zum Unterhalt beitragen.<ref>Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 229.</ref>


Wenn sich ein Mann von seiner Frau scheiden lässt, muss er beispielsweise in Tunesien gemäß dem Lebensstandard während der Ehe weiterhin für seine Frau sorgen, bis sie wieder heiratet. In Ägypten hat die Frau einen Anspruch auf Unterhaltszahlungen für zwei Jahre, in Algerien kann der Mann, der sich willkürlich von seiner Frau geschieden hat, zu Zahlungen verurteilt werden. Dies trifft auch auf ihn zu, sollte die Frau sich berechtigterweise von ihm scheiden. Im Iran muss der Mann im Falle einer Scheidung der Frau das restliche Brautgeld, „Unterhalt und eine angemessene Ausstattung zur Verfügung“ stellen. Sollte die Frau sich weigern, dies anzunehmen und ihre ehelichen Pflichten nicht verletzt haben, dann hat sie zudem Anspruch auf ein finanzielles Entgelt für ihre haushaltlichen Dienste während der Ehe.<ref>Rohe: ''Das Islamische Recht''. München 2011, S. 230.</ref>
[[Kategorie:Islamisches Recht]]


== Scharia in der Gegenwart ==
[[da:Sharia]]
Scharia wird unterschiedlich angewandt; je nach Land oder Region unterscheidet sich ihre Ausprägung.
[[en:Sharia]]

[[eo:Ŝario]]
Prinzipiell kann sich das Verhältnis von Staat und Religion rechtlich folgendermaßen gestalten:
[[es:Sharia]]
* Inkorporation „von oben“: Der Staat selbst erlässt religiös geprägtes Recht. In zahlreichen Staaten mit dem Islam als [[Staatsreligion]] bildet die Scharia von Verfassungs wegen die Grundlage der Gesetzgebung.
[[fr:Charia]]
* Delegation „von oben“: Der Staat verweist auf religiöse Normen und/oder Institutionen, sei es direkt fürs Inland, sei es indirekt für Fälle mit Auslandsbezug<ref>im europäischen Kollisionsrecht seltener geworden durch den Übergang von der [[Anknüpfung]] an die Staatsangehörigkeit zur Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt ([[Verordnung (EU) Nr. 1259/2010|Rom-III-VO]], [[Verordnung (EU) Nr. 650/2012 (Erbrechtsverordnung)|EuErbVO]]); instruktiv zur früheren Rechtslage Peter Scholz: ''Grundfälle zum IPR: [[Ordre public (Deutschland)|Ordre public]]-Vorbehalt und islamisch geprägtes Recht'', [[Zeitschrift für das Juristische Studium|ZJS]] 2010, [https://www.zjs-online.com/dat/artikel/2010_2_297.pdf 185], [https://www.zjs-online.com/dat/artikel/2010_3_324.pdf 325]</ref> ([[Internationales Privatrecht|IPR]], [[Internationales Zivilverfahrensrecht|IZPR]]). Das kann insbesondere bestimmte Teile des Zivilrechts betreffen (Familien-, Erb-, Personenrecht; [[Personalstatut]]); bisweilen wird auch nur eine religiöse Form der Eheschließung gestattet (z.&nbsp;B. [[Mufti]]-Ehe in der Türkei;<ref>türkisches Personenstandsgesetz (Gesetz Nr. 5490, [https://www.mevzuat.gov.tr/MevzuatMetin/1.5.5490.pdf#page=8 Nüfus Hizmetleri Kanunu]), Art.&nbsp;22 Abs.&nbsp;2; [[Bergmann (Familienrecht)|Bergmann]] aktuell: [https://www.vfst.de/bergmann-aktuell/nachrichten/vornahme-eheschlieungen-muftis-ermglicht-2017-10-26 ''Vornahme von Eheschließungen durch Muftis ermöglicht''] (26.&nbsp;Oktober 2017)</ref> vgl. [[Zivilehe]]).
[[gl:Shari'a]]
* Inkorporation/Delegation „von unten“: Die Rechtsbetroffenen nutzen die [[Vertragsfreiheit]] durch [[Privatautonomie|privatautonome]] Ausgestaltung vertraglicher Bestimmungen (Integration) oder durch [[Rechtswahl]]- oder [[Schiedsgerichtsbarkeit|Schiedsgerichts]]<nowiki />klauseln (Delegation),<ref>Franziska Hötte: [https://books.google.de/books?id=2uTjX7DBt4cC ''Religiöse Schiedsgerichtsbarkeit''] (2013)</ref> um ihren religiösen Rechtsvorstellungen Geltung zu verschaffen.
[[ja:シャリーア]]
* Nebeneinander: Das religiöse Recht steht unabhängig neben dem staatlichen (vom Staat akzeptiert oder informell). Siehe auch: [[Trennung zwischen Staat und religiösen Institutionen]].
[[nb:Sharia]]

[[nl:Sharia]]
Folgend einige Beispiele.
[[pl:Szariat]]

[[pt:Charia]]
=== Islamisch geprägte Staaten ===
[[ru:Шариат]]
[[Datei:A public demonstration in Maldive, calling for Sharia 2014.jpg|mini|Demonstration für die Einführung der Scharia auf den [[Malediven]] 2014 mit dem [[Schwarzes Banner|Schwarzen Banner]]]]
[[sv:Sharia]]

[[zh:沙里亞法規]]
Laut der jeweiligen Verfassung ist die Scharia Grundlage der Gesetzgebung in folgenden Staaten: [[Ägypten]] ({{§§|URL|2=https://www.constituteproject.org/constitution/Egypt_2014.pdf#page=6|3=Art.&nbsp;2}}), [[Bahrain]] ({{§§|URL|2=https://www.servat.unibe.ch/icl/ba00000_.html#A002_|3=Art.&nbsp;2}}), [[Irak]] ({{§§|URL|2=https://www.servat.unibe.ch/icl/iz00000_.html#A007_|3=Art.&nbsp;7}}), [[Iran]] ({{§§|URL|2=https://www.servat.unibe.ch/icl/ir00000_.html#A004_|3=Art.&nbsp;4}}), [[Jemen]] ({{§§|URL|2=https://www.servat.unibe.ch/icl/ym00000_.html#A003_|3=Art.&nbsp;3}}), [[Katar]] ({{§§|URL|2=https://www.servat.unibe.ch/icl/qa00000_.html#A001_|3=Art.&nbsp;1}}), [[Kuwait]] ({{§§|URL|2=https://www.servat.unibe.ch/icl/ku00000_.html#A002_|3=Art.&nbsp;2}}), [[Libyen]] ({{§§|URL|2=https://www.constituteproject.org/constitution/Libya_2011.pdf#page=3|3=Art.&nbsp;1}}), [[Mauretanien]] ({{§§|URL|2=https://www.servat.unibe.ch/icl/mr00000_.html|3=Präambel}}), [[Oman]] ({{§§|URL|2=https://www.servat.unibe.ch/icl/mu00000_.html#A002_|3=Art.&nbsp;2}}), [[Pakistan]] ({{§§|URL|2=http://www.pakistani.org/pakistan/constitution/part9.html|3=Sec.&nbsp;227}}), [[Staat Palästina|Palästina]] ({{§§|URL|2=https://www.constituteproject.org/constitution/Palestine_2005.pdf#page=4|3=Art.&nbsp;4}}), [[Saudi-Arabien]] ({{§§|URL|2=https://www.servat.unibe.ch/icl/sa00000_.html#A001_|3=Art.&nbsp;23}}), [[Vereinigte Arabische Emirate]] ({{§§|URL|2=https://www.constituteproject.org/constitution/United_Arab_Emirates_2004.pdf#page=4|3=Art.&nbsp;7}}). In [[Afghanistan]] ({{§§|URL|2=https://www.servat.unibe.ch/icl/af00000_.html#A003_|3=Art.&nbsp;3}}), auf den [[Malediven]] ({{§§|URL|2=https://storage.googleapis.com/presidency.gov.mv/Documents/ConstitutionOfMaldives.pdf#page=17|3=Art.&nbsp;10}}) und in [[Somalia]] ({{§§|URL|2=http://extwprlegs1.fao.org/docs/pdf/som127387.pdf#page=9|3=Art.&nbsp;2}}) darf die Gesetzgebung der Scharia nicht widersprechen. Hinzu kommen Teilgebiete von Staaten wie die nördlichen Bundesstaaten [[Scharia in Nigeria|Nigerias]], die indonesische Provinz [[Aceh]] oder die philippinische Region [[Bangsamoro]].

2010 begannen in vielen arabischen bzw. nordafrikanischen Ländern Revolutionen (zusammenfassend [[Arabischer Frühling]] genannt). Im Zuge dieser Revolutionen kam es in diesen Ländern zu Wahlen bzw. Verfassungsreferenden. In vielen Ländern wurde bzw. wird diskutiert, welche Rolle der Islam in Gesellschaft und Rechtssystem haben soll.

Allgemein verbreitet ist die Umsetzung im zivilrechtlichen Bereich beispielsweise in [[Algerien]], [[Indonesien]] und [[Ägypten]].<ref>Zur Entwicklung in Ägypten ab den 1950er Jahren siehe auch [[Sayyid Qutb]].</ref>

In einigen Staaten gilt die Scharia vollständig, etwa in [[Saudi-Arabien]] und [[Mauretanien]]. Zuweilen gilt die Scharia nur in islamisch dominierten Landesteilen ([[Nigeria]] oder [[Aceh]] ([[Indonesien]]), siehe auch [[Scharia-Konflikt in Nigeria|Scharia in Nigeria]]).

So wird zum Beispiel in Ländern wie [[Somalia]] und [[Sudan]], wo [[Hadd-Strafe]]n vollstreckt werden, auch die Schwangerschaft einer unverheirateten Frau oder einer Ehefrau, deren Ehemann abwesend ist, als Beweis für Unzucht genommen. In einigen Ländern werden selbst vergewaltigte Frauen aufgrund solcher „Beweisführung“ bestraft.

Die Bedeutung der Scharia nimmt seit etwa Mitte der 1970er Jahre in allen islamischen Ländern wieder kontinuierlich zu. Auch in der [[Laizismus|laizistischen]] Türkei mehren sich politisch einflussreiche Stimmen, die die Rückkehr zum islamischen Scharia-Recht fordern. Im Zuge der [[Revolution in Ägypten 2011|Revolution in Ägypten]] gab es im März 2011 [[Verfassungsreferendum in Ägypten 2011|ein Verfassungsreferendum]].

Demgegenüber finden jedoch auch immer mehr alternative Interpretationsansätze der Scharia in der islamischen Welt Gehör. Diese Intellektuellen fordern dazu auf, bei der Auslegung des Korans den historischen Kontext zu beachten. Beispiele sind [[Fazlur Rahman]] in Pakistan, Muhammad Schahrur in Syrien, [[Abdolkarim Soroush|Abdulkarim Sorusch]] im Iran, Muhammad Abed al-Jabri in Algerien, [[Hasan Hanafi|Hassan Hanafi]] in Ägypten und nicht zuletzt viele Theologen in der Türkei.<ref>Ömer Özsoy: ''Die fünf Aspekte der Scharia und die Menschenrechte'' in Forschung Frankfurt 1/2008. S. 27. {{Webarchiv |url=http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2008/5504/pdf/Scharia.pdf |text=Digitalisat |wayback=20200122133340}} (PDF; 4,6&nbsp;MB)</ref>

Die praktische Umsetzung des islamischen Rechts ist in den islamischen Ländern sehr unterschiedlich. In manchen Staaten gibt es eine [[Theokratie|theokratische]] Identität von offiziellem Recht und Scharia, in anderen wurde die Scharia abgeschafft, in manchen hat sie – im Sinne eines [[Rechtspluralismus]] – lediglich für einen Teil der Bevölkerung Gültigkeit.

==== Türkei ====
In der [[Türkei]] wurde die Scharia mit der Verfassung vom 20. April 1924 unter [[Mustafa Kemal Atatürk]] abgeschafft.

==== Tunesien ====
In [[Tunesien]] wurde sie mit der Verfassung vom 1. Juni 1959 abgeschafft. Lediglich Artikel 38 der tunesischen Verfassung schreibt fest, dass der Präsident ein Muslim sein muss.<ref>{{Webarchiv |url=http://confinder.richmond.edu/admin/docs/Tunisiaconstitution.pdf |text=The Constitution of Tunisia |wayback=20110131055916}} (PDF)</ref>

==== Malaysia ====
In [[Malaysia]] existiert ein duales Rechtssystem, in dem islamische Gerichtshöfe parallel zu zivilstaatlichen Institutionen operieren. Drei der 13 Bundesstaaten des Landes erlauben etwa die Auspeitschung nach den Regeln der Scharia, obwohl dies landesweit nach dem Kriminalstrafrecht verboten ist.<ref>[https://www.bloomberg.com/apps/news?pid=20601080&sid=aIn29x7Qm35g ''Malaysian Groups Condemn Caning of Women in Shariah Sex Case''.] Bloomberg.com, 18. Februar 2010</ref>

=== Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam ===
{{Hauptartikel|Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam}}

Im Jahr 1990 wurde bei der 19. Außenministerkonferenz der [[Organisation der Islamischen Konferenz]] (OIC) die ''[[Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam]]'' beschlossen, welche als Leitlinie der z.&nbsp;Zt. 57 islamischen Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der [[Menschenrechte]] gelten soll. In den abschließenden Artikeln 24 und 25 wird die religiös legitimierte islamische Gesetzgebung, die Scharia, als einzige Grundlage zur Interpretation dieser Erklärung festgelegt.<ref>Text der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam (englisch). {{Webarchiv |url=http://www.oic-oci.org/english/conf/fm/19/19%20icfm-political-en.htm#RESOLUTION%20NO.%2049/19-P |text=Digitalisat |wayback=20070610071820}}</ref>

Die Erklärung wird von Islam-Vertretern als islamisches Gegenstück zur [[Allgemeine Erklärung der Menschenrechte|Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte]] der UNO gesehen, von der sie jedoch erheblich abweicht, da sie die Scharia zur Grundlage der Menschenrechte erklärt.

=== Scharia und westliche Staaten ===
In westlichen Industriestaaten sowie in sonstigen nicht islamisch geprägten Ländern der Welt kann die Scharia –&nbsp;vermittelt über das jeweilige [[Internationales Privatrecht|Internationale Privatrecht]] des Landes&nbsp;– Rechtswirkung entfalten. Allerdings findet die Geltung etwa in Deutschland ihre Grenzen im [[Ordre public]]: So werden Normen, die mit rechtlichen Grundvorstellungen unvereinbar sind, nicht angewendet.<ref>[https://www.nd-aktuell.de/artikel/181949.scharia-in-deutschland.html ''Scharia in Deutschland? FAKTENcheck: Islamisches Recht''.] In: ''[[Neues Deutschland]]'', 16. Oktober 2010.</ref>

{{Siehe auch|Religionspolitik#Auseinandersetzungen um den Geltungsanspruch von Scharia-Normen|titel1=„Auseinandersetzungen um den Geltungsanspruch von Scharia-Normen“ im Artikel: Religionspolitik}}

Grundlage für rituelle Vorschriften ist das ''[[Fiqh al-aqallīyāt]]'' (die „Jurisprudenz der Minderheiten“), welches eine Erleichterung für im Westen lebende Muslime erreichen möchte.

==== Deutschland ====
Religiöse Schiedsgerichte, wie es sie z.&nbsp;B. in Großbritannien gibt, sind in Deutschland verboten. In bestimmten Fällen, wie z.&nbsp;B. bei der Auflösung einer im Ausland gegründeten Ehe, können Aspekte des Scharia-Rechtsystems angewandt werden, solange das Ergebnis keinen Widerspruch zur deutschen Rechtsordnung darstellt. Die rechtliche Grundlage hierfür ergibt sich aus dem [[Internationales Privatrecht (Deutschland)|internationalen Privatrecht]], welches das Zusammenstoßen zweier nationaler Rechtssysteme regeln soll.<ref>{{Internetquelle |autor=Barbara Schneider |url=https://www.welt.de/politik/deutschland/article13845521/Scharia-haelt-Einzug-in-deutsche-Gerichtssaele.html |titel=Scharia hält Einzug in deutsche Gerichtssäle |werk=[[Die Welt|Welt Online]] |datum=2012-02-01 |abruf=2019-11-07}}</ref><ref>{{Internetquelle |url=https://www.bundestag.de/resource/blob/414598/e0ddb4d67852477b0536cd9662f4b8d9/WD-3-406-08-pd-data.pdf |titel=Scharia und Grundrechte von Frauen in der Bundesrepublik |werk=Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages |hrsg=Deutscher Bundestag |datum=2008 |format=PDF |sprache=de |abruf=2020-09-02}}</ref>

In Deutschland wurde 2007 ein Gerichtsurteil einer Familienrichterin am [[Amtsgericht Frankfurt am Main]] diskutiert, welches den Antrag einer Frau auf eine beschleunigte Scheidung von ihrem gewalttätigen marokkanischen Mann ablehnte und dies unter anderem mit Zitaten aus dem Koran begründet haben soll.<ref>{{Literatur |Autor=WELT |Titel=Richterin verweist auf Züchtigungsrecht im Koran |Sammelwerk=Die Welt |Datum=2007-03-21 |Online=https://www.welt.de/welt_print/article772369/Richterin-verweist-auf-Zuechtigungsrecht-im-Koran.html |Abruf=2020-10-02}}</ref> Es sei im marokkanischen Kulturkreis üblich, dass der Mann gegenüber der Frau ein [[Körperstrafe|Züchtigungsrecht]] ausübe; damit habe die Frau bei der Heirat rechnen müssen. Die Richterin wurde anschließend infolge eines erfolgreichen [[Ablehnungsgesuch|Befangenheitsantrags]] von dem Fall abgezogen. Das Urteil wurde von vielen Politikern, Frauenrechtsorganisationen, dem [[Deutscher Juristinnenbund|deutschen Juristinnenbund]] und dem [[Zentralrat der Muslime in Deutschland|Zentralrat der Muslime]] scharf kritisiert.<ref>{{Internetquelle |url=https://www.saechsische.de/das-bizarre-recht-auf-pruegeln-1855071.html |titel=Das bizarre Recht auf Prügeln |werk=Sächsische.de |datum=2007-03-23 |sprache=de |abruf=2020-10-02}}</ref>

==== Großbritannien ====
In [[Vereinigtes Königreich|Großbritannien]] wird die Scharia nicht von den staatlichen Gerichten angewendet. Es gibt für bestimmte Fälle religiöse Schiedsgerichte, die auf freiwilliger Basis von den Parteien angerufen werden können. Dabei kommt die Scharia zur Anwendung, soweit sie nicht gegen [[Common Law]] verstößt.<ref>J. Waardenburg: ''Muslims and Others''. Walter de Gruyter, 2003, S. 316.</ref> Im Februar 2008 hat das Oberhaupt der anglikanischen Kirche, der Erzbischof von Canterbury [[Rowan Williams]], es gegenüber der [[British Broadcasting Corporation|BBC]]<ref>''England entrüstet über Scharia-Erzbischof''. heute.de</ref> als „unvermeidlich“ bezeichnet, dass Elemente der Scharia im britischen Common Law anerkannt werden. Durch eine „konstruktive Adaption“ von Scharia-Elementen könnten zum Beispiel muslimischen Frauen westliche Ehescheidungsregeln erspart werden. Dabei gehe es nicht darum, „Unmenschlichkeiten“ der Gesetzespraxis in einigen islamischen Ländern in den Westen zu übertragen. Williams’ Einlassungen stießen in Großbritannien und innerhalb der anglikanischen Kirche vielfach auf Entrüstung, dabei wurde unter anderem darauf verwiesen, dass es nicht unterschiedliche Rechtssysteme für verschiedene Bevölkerungsgruppen innerhalb Großbritanniens geben dürfe.

Eine gegenteilige Meinung vertritt der ehemalige anglikanische [[Liste der Bischöfe von Rochester|Bischof von Rochester]] [[Michael Nazir-Ali]], der selbst wegen Morddrohungen pakistanischer Muslime nach Großbritannien geflohen ist.<ref>[https://www.kath.net/news/19144 Bischof Nazir-Ali spricht trotz Todesdrohungen weiter über den Islam.] [[Kath.net]], 25. Februar 2008.</ref> Die von den britischen [[Privatrecht|Zivilgerichten]] ergangenen Scheidungsurteile haben aus der Sicht der islamischen Rechtsprechung keine Gültigkeit. Ahmad al-Dubayan, der Vorsitzende des Rates für Schariagerichte in Großbritannien ''([[Islamischer Scharia-Rat|Islamic Sharia Council]])'', sagte 2016, dass die Situation mit den sich immer weiter verbreitenden Schariagerichten ein großes Problem sei. Er wisse nicht, wie viele dieser Gerichte es in der Zwischenzeit in Großbritannien gebe. Der Innenausschuss im britischen Unterhaus begann eine Ermittlung hinsichtlich der Ausbreitung des islamischen Rechts. Muslimische Verbände kritisierten dieses Vorgehen unmittelbar nach Bekanntwerden als Einmischung in die Religionsfreiheit.<ref>Joe Barnes: [https://www.express.co.uk/news/uk/728176/sharia-courts-uk-muslim-sharia-law-home-affair-select-committee-naz-shah Muslims 'have the right’ to use Sharia law in Britain, says activist], Daily Express 3. November 2016</ref><ref>Leda Reynolds: [https://www.express.co.uk/news/uk/732064/Sharia-court-told-rape-victim-return-attacker-husband Sharia court told rape victim to return to her attacker husband | UK | News |], Daily Express 14. November 2016</ref>

==== Griechenland ====
In [[Griechenland]] gilt für die muslimische Minderheit ([[Pomaken]] und [[Balkan-Türken#Türken in Griechenland (Westthrakien)|Türken in Westthrakien]]) in Angelegenheiten, die den persönlichen Status und das Familienrecht betreffen, die Scharia, sofern die Angehörigen der Minderheit ihre Angelegenheiten nach der Scharia anstelle des griechischen Rechts geregelt haben möchten. Das geht auf den [[Vertrag von Sèvres (Griechenland – Schutz von Minderheiten)|Vertrag von Sèvres]] zurück.

==== Kanada ====
Der [[Kanada|kanadische]] ''Arbitration Act'' (1991)<ref>https://www.ontario.ca/laws/docs/elaws_statutes_91a17_ev001.doc https://exhibits.library.utoronto.ca/exhibits/show/canadianlawandidentity/cdnlawreligion/cdnlawreligionarb</ref> erlaubte es Christen, Juden und Muslimen in der Provinz [[Ontario]], häusliche Dispute (wie Scheidungs-, Vormundschafts- und Erbschaftsklagen) vor einem religiösen [[Schiedsgerichtsbarkeit|Schiedsgericht]] zu verhandeln, wenn alle Parteien damit einverstanden waren. Die Urteile dieser Schiedsgerichte waren, sofern sie nicht geltendem kanadischen Recht widersprachen, rechtskräftig. Damit wurde die Scharia in Ontario in Spezialfällen von muslimischen Gerichten angewendet. Im September 2005 wurde der ''Arbitration Act'' (auch wegen internationaler Proteste durch [[Frauenrecht]]sorganisationen) derart geändert, dass Entscheidungen auf Grund von religiösen Gesetzen nicht mehr möglich sind.<ref>{{Webarchiv |url=http://www.attorneygeneral.jus.gov.on.ca/english/about/pubs/boyd/executivesummary.pdf |text=Abänderung des Arbitration Act |wayback=20110304031003}} (PDF; 236&nbsp;kB) [https://maryamnamazie.com/international-campaign-against-the-sharia-court-in-canada/ Maryam Namazie]</ref>

==== USA ====
In den [[Vereinigte Staaten|Vereinigten Staaten]] (Rechtssystem: [[Common Law]], das sich vor allem auf frühere Präzedenzfälle stützt und daher von einzelnen Richtern leichter beeinflusst werden kann), haben 2010 die Bundesstaaten [[Tennessee]] und [[Louisiana]] die Anwendung der Scharia gesetzlich untersagt. In den Bundesstaaten [[Florida]], [[Mississippi (Bundesstaat)|Mississippi]], [[Utah]] konnte solch eine gesetzliche Untersagung nicht durchgesetzt werden. In zwölf Bundesstaaten gibt es Anfang 2011 Gesetzesinitiativen, die die Anwendung der Scharia unterbinden sollen.<ref>Tim Murphy: [https://motherjones.com/mojo/2011/02/has-your-state-banned-sharia-map ''Map: Has Your State Banned Sharia?''] motherjones.com, 11. Februar 2011.</ref>

==== Kontroversen ====
In [[Dänemark]] verfolgt eine islamistische Gruppe namens „Ruf zum Islam“ das Ziel, in muslimischen Wohngegenden in [[Kopenhagen]] Scharia-Zonen einzurichten, in denen eine „Moralpolizei“ das Verbot von Alkohol, Glücksspiel und Nachtleben überwacht.<ref name="Die Welt 31.10.2011">[[Henryk M. Broder]]: [https://www.welt.de/debatte/henryk-m-broder/article13688685/Islamische-Moralpolizisten-fordern-Scharia-Zonen.html ''Islamische Moralpolizisten fordern „Scharia-Zonen“''.] [[Die Welt|Welt Online]], 31. Oktober 2011, Kommentar; abgerufen am 4. April 2012.</ref><ref>{{ZDFmediathek |ID=1502162 |Titel=heute: Gilt bald die Scharia in Dänemark? |Typ=video |Abruf=2014-02-09 |Offline=2014-02-09}}</ref> Ähnliche Lobbygruppen soll es inzwischen auch in Großbritannien, Belgien, Frankreich und Spanien geben.<ref name="Die Welt 31.10.2011" />

In den Niederlanden führten 2006 Bemerkungen des damaligen niederländischen Justizministers [[Piet Hein Donner]] zu Aufsehen, er könne sich die Einführung der [[Islam in den Niederlanden|Scharia in den Niederlanden]] gut vorstellen, wenn die Mehrheit der Wähler dafür wäre.<ref>''Donner naïef in uitspraken sharia.'' Radio Nederland, 13. September 2006 {{Webarchiv |url=http://www.wereldomroep.nl/actua/nl/nederlandsepolitiek/act20060913_donner |text=Donner naïef in uitspraken sharia |wayback=20070516020816}}</ref> Ein Symposium an der Universität [[Tilburg]] widmete sich dem Thema ''Sharia in Europe'' am 3. Mai 2007 und lud dazu u.&nbsp;a. die palästinensisch-amerikanische Islamwissenschaftlerin Maysam al-Faruqi von der Georgetown University in Washington, D.C., ein. Al-Faruqi erachtet Scharia und niederländisches Recht als kompatibel miteinander: „Beide Rechtssysteme können mühelos nebeneinander bestehen“.<ref>[http://nieuwreligieuspeil.net/node/736 ''Sharia kan zonder probleem in Nederland worden ingevoerd.''] Nieuw Religieus Peil, 13. Mai 2007.</ref>

Kritiker halten der Anwendung der Scharia in westlichen Ländern entgegen, dass die Scharia nicht mit der [[Allgemeine Erklärung der Menschenrechte|Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte]] vereinbar sei. Der [[Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte|Europäische Gerichtshof für Menschenrechte]] in [[Straßburg]] (EGMR) urteilte in mehreren Verfahren, dass die Scharia „inkompatibel mit den fundamentalen Prinzipien in der [[Demokratie]]“ sei.<ref>So etwa in: Case Of Refah Partİsİ (The Welfare Party) And Others V. Turkey (Applications nos. 41340/98, 41342/98, 41343/98 and 41344/98), Judgment, Strasbourg, 13 February 2003, No. 123 (siehe S. 39): „The Court concurs in the Chamber’s view that sharia is incompatible with the fundamental principles of democracy, as set forth in the Convention“; vgl. Alastair Mowbray: „Cases, Materials, and Commentary on the European Convention on Human Rights“, OUP Oxford, 29. März 2012, S. 744, [https://books.google.de/books?id=XWyq09yJho8C&pg=PA744&lpg=PA744&dq=%E2%80%9EThe+Court+concurs+in+the+Chamber+view+that+sharia+is+incompatible+with+the+fundamental+principles+of+democracy,+as+set+forth+in+the+Convention%E2%80%9C&source=bl&ots=p8xgHpB1fF&sig=ACfU3U3hm72526PFBMwxY5mdPmiKppHIjg&hl=en&sa=X&ved=2ahUKEwjKwLTX08nxAhV7gv0HHfxuC5MQ6AEwAHoECAYQAQ#v=onepage&q=%E2%80%9EThe%20Court%20concurs%20in%20the%20Chamber%20view%20that%20sharia%20is%20incompatible%20with%20the%20fundamental%20principles%20of%20democracy%2C%20as%20set%20forth%20in%20the%20Convention%E2%80%9C&f=false Google-Books-Archivierung]; siehe auch {{Webarchiv |url=https://www.legislationline.org/documents/action/popup/id/15827 |text=„The European Court of Human Rights in the case of Refah Partisi (the Welfare Party) and Others v. Turkey“ |wayback=20210709184803}}, 13. Feb. 2003, Ziffer 123 u. weitere Ziffern im gleichen Dokument</ref><ref>Siehe auch sueddeutsche.de, 14. Sept. 2017: [https://www.sueddeutsche.de/1.3666617 ''Gegen Scheidungen nach Scharia-Recht'']</ref>

Der Politologe [[Bassam Tibi]] untersucht die Fragestellung, ob es eine spezifische arabische oder islamische Demokratie gibt. Aus seiner Sicht ist die ''[[Islamismus|islamistische]]'' Scharia ein [[Totalitarismus|totalitäres]] Konzept. Die Politisierung und „Schariasierung“ des Islam sei nicht vereinbar mit der Demokratie. Er nennt es „das Paradox der demokratischen Scharia“. Auf der anderen Seite gebe es im Islam bestimmte Reformen, die eine Quelle der demokratischen Legitimität sein könnten.<ref>[[Bassam Tibi]]: ''Islamism and Islam''. Yale University Press, (2012), S. 114</ref>

== Siehe auch ==
* [[Rechtssystem Saudi-Arabiens]]
* [[Islamisches Bankwesen]]
* [[Siyar]] (Kriegs- und Fremdenrecht)
* [[Homosexualität im Islam]]
* [[Christenverfolgung#Islamische Welt|Christenverfolgung in der islamischen Welt]]

== Literatur ==
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* [[Gotthelf Bergsträsser]]: ''Grundzüge des islamischen Rechts.'' Bearbeitet und hrsg. von [[Joseph Schacht]], Berlin u.&nbsp;a. 1935.
* [[Hans-Georg Ebert]], [[Julia Heilen]]: ''Islamisches Recht. Ein Lehrbuch.'' 1. Auflage, Edition Hamouda, Leipzig 2016, ISBN 978-3-95817-024-7.
* [[Werner Ende]], [[Udo Steinbach]]: ''Der Islam in der Gegenwart. Entwicklung und Ausbreitung. Kultur und Religion. Staat, Politik und Recht.'' 5., neubearbeitete Auflage. Beck, München 2005, ISBN 3-406-53447-3.
* [[Wael B. Hallaq]]: ''The origins and evolution of Islamic law.'' Cambridge 2005, ISBN 0-521-80332-2.
* [[Olaf Köndgen]]: ''A Bibliography of Islamic Criminal Law.'' Brill, Leiden 2022, ISBN 978-90-04-44750-9.
* [[Rüdiger Lohlker]]: ''Islamisches Recht.'' facultas wuv/ UTB, Wien/ Stuttgart 2011, ISBN 978-3-8252-3562-8.
* [[Tilman Nagel]]: ''Das islamische Recht. Eine Einführung.'' Westhofen 2001, ISBN 3-936136-00-9.
* [[Miklós Murányi]]: ''Fiqh.'' In: ''Grundriss der Arabischen Philologie.'' Band II: ''Literaturwissenschaft.'' (Hrsg. Helmut Gätje), Dr. Ludwig Reichert Verlag, Wiesbaden 1987, ISBN 3-88226-145-5, S. 298–325.
* [[Said Ramadan]]: ''Das islamische Recht. Theorie und Praxis.'' Wiesbaden 1980, ISBN 3-447-02078-4.
* [[Mathias Rohe]]: ''Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart.'' 3. Auflage. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-57955-4.
* Josef J. Rivlin: ''Gesetz im Koran, Kultus und Ritus.'' Jerusalem 1934.
* [[Eduard Sachau]]: ''Das Recht der Scharia.'' Neuauflage. Frankfurt am Main 2004, {{DNB|972391916}}.
* Eduard Sachau: ''Muhammedanisches Recht nach schafiitischer Lehre.'' Stuttgart 1897. [http://www.archive.org/details/muhammedanische00sachgoog Digitalisat] bei [[archive.org]]
* [[Joseph Schacht]]: ''An introduction to Islamic law.'' Clarendon Press, Oxford 1964, (Princeton University Press, 1981, ISBN 0-691-10099-3).
* Rudolph Peters: ''Crime and Punishment in Islamic Law: Theory and Practice from the Sixteenth to the Twenty-first Century.'' Cambridge University Press, 2005, ISBN 978-0-521-79226-4.
* Jan Michiel Otto (Hrsg.): ''Sharia Incorporated: A Comparative Overview of the Legal Systems of Twelve Muslim Countries in Past and Present.'' Leiden University Press, Leiden 2010, ISBN 978-90-8728-057-4 (Print); ISBN 978-94-006-0017-1 (E-Book).
* Hatem Elliesie: ''Binnenpluralität des Islamischen Rechts – Diversität religiöser Normativität rechtsdogmatisch und -methodisch betrachtet''. In: ''SFB Governance Working Paper Series, Sonderforschungsbereich 700 „Governance in Räumen begrenzer Staatlichkeit“''. Nr. 54, Berlin 2014, {{ISSN|1863-6896}} ([https://web.archive.org/web/20141016010752/http://www.sfb-governance.de/publikationen/working_papers/wp54/SFB-Governance-Working-Paper-54.pdf Volltext als PDF]).

== Weblinks ==
{{Commonscat|Sharia|Scharia|audio=1|video=1}}
{{Wiktionary}}
{{Wikinews|Portal:Scharia|Scharia}}
* {{DNB-Portal|1151921939}}
* Hatem Elliesie: [https://www.sfb-governance.de/publikationen/working_papers/wp54/SFB-Governance-Working-Paper-54.pdf# ''Binnenpluralität des Islamischen Rechts: Diversität religiöser Normativität rechtsdogmatisch und -methodisch betrachtet''.] (SFB 700: Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit – Working Paper Nr. 54, April 2014), Freie Universität Berlin / Rule of Law Center des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung. {{ISSN|1863-6896}}
* [[Gudrun Krämer]]: [https://web.archive.org/web/20120111092443/http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/islamwiss/_media/Dateien/Kraemer_Skripte.pdf Kurzprotokoll: Islamisches Recht (Scharia)] (PDF; 188&nbsp;kB), Freie Universität Berlin.
* Mathias Rohe: [https://web.archive.org/web/20150125020351/http://www.zr2.jura.uni-erlangen.de/aktuelles/scharia.shtml ''Scharia in Deutschland''.] Universität Erlangen.
* Ulrich Rebstock: [https://web.archive.org/web/20120120052007/http://www.orient.uni-freiburg.de/fmoll/rebstock/islamrecht/rechtvor.doc ''Einführung in die Geschichte des islamischen Rechts'']. Universität Freiburg, Vorlesung WS 2005/06 (Word-Dokument)
* Christine Schirrmacher: [https://www.bpb.de/publikationen/VWBAUH,3,0,Frauen_unter_der_Scharia.html#art3 ''Frauen unter der Scharia''.] In: ''[[Aus Politik und Zeitgeschichte]]'', 48 (2004) ([[Bundeszentrale für politische Bildung]]).
* [https://web.archive.org/web/20110310074210/http://www.im.nrw.de/sch/595.htm Stellungnahme des Verfassungsschutzes zur Scharia.] Innenministerium Nordrhein-Westfalen.
* Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags: ORRn Elisabeth Delfs: {{Webarchiv |url=http://www.karinkortmann.de/downloads/aktuellerbegriff/Die_Anwendung_de_1229412194.pdf |text=Anwendung der Scharia in Deutschland |wayback=20170207032729}} (PDF; 76&nbsp;kB)
* Scharia im Strafrecht: [https://www.igfm.de/Auszuege-aus-den-Strafgesetzen-der-Islamischen-Republik-Iran.593.0.html ''Auszüge aus den Strafgesetzen der Islamischen Republik Iran''], Internationale Gesellschaft für Menschenrechte

== Anmerkungen ==
<references />

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[[Kategorie:Islamisches Recht|!]]
[[Kategorie:Islam und Politik]]
[[Kategorie:Politisches System]]

Aktuelle Version vom 23. Februar 2025, 10:45 Uhr

Die Scharia,[1] das islamische Recht, beschreibt (insbesondere im islamischen Rechtskreis) „die Gesamtheit aller religiösen und rechtlichen Normen, Mechanismen zur Normfindung und Interpretationsvorschriften des Islam“.[2] Ein einziger Gott (Allah) gilt in diesem Rechtssystem als der oberste Gesetzgeber (شارع Schāri‘, DMG šāriʿ, auch „Beginner“).[3] Sein Gesetz sei Grundlage der göttlichen Offenbarung im Koran. Bei der Scharia handele es sich allerdings nicht um ein kodifiziertes, unveränderliches Rechtssystem, sondern um „ein Regelwerk, welches sich stets im Wandel befindet“. Scharia lasse sich deshalb nur verstehen, wenn man die „Rechtsquellen- und Rechtsfindungslehre“ (uṣūl al-fiqh) statt „inhaltliche[r] Einzelregelungen“ betrachtet.[4]

Die Scharia leitet sich aus Interpretationen islamischer religiöser Texte ab, was bedeutet, dass es keinen Konsens darüber gibt, wie die Scharia wirklich umgesetzt werden sollte, wenn es um Staaten geht, die die Scharia als Teil ihrer Gesetzgebung haben. Länder wie Saudi-Arabien haben die Scharia als Hauptquelle der Gesetzgebung; da das Land jedoch auf dem Wahhabismus gegründet ist, setzt der Staat eine wörtliche Interpretation religiöser Texte um, während er sich weigert, sie zu kontextualisieren. Dies hat zu viel Kritik innerhalb der muslimischen Weltgemeinschaft geführt.[5]

  • Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit oder Mitglieder der OIC, in denen die Scharia keine Rolle im Rechtssystem spielt
  • Länder mit säkularem Rechtssystem, in denen die Scharia im Privatrecht (z. B. Ehe, Scheidung, Erbrecht, Sorgerecht) Anwendung findet
  • Länder mit Gültigkeit der Scharia
  • Länder mit regional unterschiedlicher Anwendung der Scharia
  • Das eingedeutschte Wort „Scharia“ wird auf die arabische Wurzel ŠRʿ (transliteriert aus arabisch شَرَعَ, DMG šaraʿa ‚anfangen, beginnen‘)[6] zurückgeführt. Ein Großteil arabischsprachiger Anhänger von Religionen des Nahen Ostens setzen diesen Begriff den Vorschriften einer prophetischen Religion gleich. Daraus entstanden Begriffe wie Scharīʿat Mūsā bzw. Scharīʿat al-Mūsā (das Gesetz/die Religion Mose),[7] Scharīʿat Madschūs (die zoroastristische Lehre) oder allgemein für Monotheisten als Bezeichnung für ihre Religionsvorschriften (Scharīʿatunā). Im Islam bezeichnet Scharia die „Regeln und Regulierungen, die das Leben von Muslimen bestimmen“ und Koran sowie Sunna entstammen.[8]

    Der Begriff Scharia hat, was den Islam angeht, seinen Ursprung im Koran. Erwähnt wird er dort jedoch nur an einer einzigen Stelle: Sure 45, Vers 18, wo er ursprünglich den Pfad in der Wüste bezeichnet, der zur Wasserquelle führt. Davon leiten Muslime einen göttlichen Ursprung der Scharia ab.

    „Wir haben doch (seinerzeit) den Kindern Israels die Schrift, Urteilsfähigkeit und Prophetie gegeben, ihnen (allerlei) gute Dinge beschert, sie vor den Menschen in aller Welt ausgezeichnet […] Hierauf (d. h. nach dem Zeitalter der Kinder Israels) haben wir dich in der Angelegenheit (?) auf einen (eigenen) Ritus festgelegt [ṯumma ǧaʿalnāka ʿalā šarīʿatin]. Folge nun ihm, und nicht den (persönlichen) Neigungen derer, die nicht Bescheid wissen!“

    Sure 45, Verse 16 und 18

    Die Verbform šaraʿa tritt im Korantext an zwei Stellen auf:

    „Und frag sie (d.h. die Kinder Israels bzw. die Juden) nach der Stadt, die am Meer (oder: Fluß) lag, (wie es damals zuging) als sie (d.h. die Bewohner der Stadt) (unser Gebot) hinsichtlich des Sabbats übertraten! (Damals) als ihre Fische am Tag, an dem sie Sabbat hatten, zu ihnen nach oben geschwommen (?) kamen [ḥītānuhum yauma sabtihim šurraʿan], jedoch dann, wenn sie nicht Sabbat feierten, (überhaupt) nicht kamen. So prüften (w. prüfen) wir sie (zur Vergeltung) dafür, daß sie gefrevelt hatten.“

    Sowie

    „Er hat euch als Religion verordnet [šaraʿa lakum], was er (seinerzeit) dem Noah anbefohlen hat, und was wir (nunmehr) dir (als Offenbarung) eingegeben, und was wir (vor dir) dem Abraham, Mose und Jesus anbefohlen haben (mit der Aufforderung) Haltet die (Vorschriften der) Religion und teilt euch darin (d.h. in der Religion) nicht (in verschiedene Gruppen)! Den Heiden (w. Denen, die (dem einen Gott andere Götter) beigesellen) kommt es (allerdings) schwer an, wozu du sie rufst. (Aber) Gott erwählt dazu, wen er will, und führt dazu (auf den rechten Weg) wer sich (ihm bußfertig) zuwendet.“

    Verwandt sind ferner die im Koran vorkommenden Wörter širʿ a (Sure 5, Vers 48) und šurraʿ (Sure 7, Vers 163).[9]

    In Ahmad ibn Hanbals Musnad tritt das Nomen „Scharia“ im Singular an einer Stelle auf. Dort heißt es, dass „die Gemeinschaft auf der Scharia (dem Weg/Pfad)“ bleiben solle. Im Plural tritt Scharia in Verbindung mit Islam (šarāʾiʿ al-islām) und Īmān (šarāʾiʿ al-īmān) sowie in der Aufzählung „der Glauben rührt aus den Pflichten, der Scharia, den Hudūd und der Sunna“ (inna li-l-īmān farāʾiḍ wa-šarāʾiʿ wa-ḥudūd wa-sunan) auf. Als Verb taucht scharaʿa an einer Stelle auf: „Gott hat für seinen Propheten Wege der Rechtleitung niedergelegt“ (šaraʿa li-nabi-hi sunan al-hudā).[10]

    Scharia ist ein Begriff, den neben dem Islam auch andere monotheistische Religionen im Nahen Osten verwendet haben. Hier einige Beispiele:

    „Die Scharia basiert auf dem Koran und auf der sich ab der Mitte des 7. Jahrhunderts herausbildenden Überlieferung vom normsetzenden Reden und Handeln Mohammeds“,[11] welches sich in der Sunna manifestiert. Dabei ist die Scharia keine kodifizierte Gesetzessammlung (wie etwa deutsche Gesetzestexte im Bürgerlichen Gesetzbuch oder im Strafgesetzbuch), sondern eine „Methode und Methodologie der Rechtsschöpfung“.[12]

    Handlungen muslimischer Gläubiger unterscheiden sich dabei in den fünf Beurteilungen

    • farḍ („Pflicht“) oder wādschib („obligatorisch“),
    • mandūb („empfohlen“), auch mustahabb („erwünscht“) oder sunna,
    • mubāh oder halāl („erlaubt“),
    • makrūh („verpönt“),
    • mahzūr oder harām („verboten“).[13][14]

    Eine weltliche Sanktion ist dabei nicht immer gegeben, für viele Handlungen müssen sich Muslime auch erst im Jenseits vor Gott verantworten.[15] Da der durchschnittliche Gläubige sich aber nicht in allen Belangen auskennen kann, hat er die Möglichkeit, islamische Rechtsgelehrte um ein Rechtsgutachten (arabisch Fatwa) zu fragen.[16]

    Im islamischen Normenfindungsprozess wird zwischen kultischen und rituellen Vorschriften (العبادات / al-ʿibādāt / ‚gottesdienstliche Handlungen‘) des Menschen einerseits und seine Beziehungen zu seinen Mitmenschen (al-muʿāmalāt / المعاملات / ‚gegenseitige Beziehungen‘) andererseits unterschieden.[17] Ein in europäischem Sinne festgelegtes „Familienrecht“, „Erbrecht“, „Strafrecht“ – oder andere – kennt das islamische Rechtssystem bzw. das ausschließlich von männlichen Geistlichen bestimmte islamische Recht nicht.[18] Seine Darstellung ist den Rechtsschulen in ihren Fiqh-Büchern, mit teilweise deutlich kontroversen Rechtsauffassungen, vorbehalten.[19]

    Diese Widersprüche soll ein Muslim akzeptieren. Das Forschen nach der Bedeutung und inneren Logik der göttlichen Gesetze ist nur zulässig, soweit Gott selbst den Weg dazu weist. Somit ist die religiöse Wertung aller Lebensverhältnisse die Grundtendenz der Scharia.[20]

    In Bezug auf den ethisch-religiösen Bereich ist laut Abū l-Hasan al-Aschʿarī die Scharia als „[…] die Gesamtheit der auf die Handlungen des Menschen bezüglichen Vorschriften Allāhs zu verstehen“. In diesem Kontext ist sie ethisch-religiös als Aspekt der göttlichen Ordnung, die das sittliche Verhalten der Menschen betreffen, zu verstehen.[21]

    Zur Übersetzung des hebräischen Wortes Tora verwendete der arabischsprachige Jude Saʿadia Gaon (882–942) „Scharia“ im Sinne von Gesetz, zum Beispiel in Ex 13,9 EU: (šarīʿat allāh für ‚das Gesetz Gottes‘) und in Dtn 4,44 EU: (hāḏihi š-šarīʿat..: „Dies ist das Gesetz des Brandopfers“). In Gaons Tafsīr aus dem 10. Jahrhundert beschreibt Scharia also stets eine Regel oder ein System von Regeln. Bemerkenswert ist dies, weil der Begriff Scharia verwendet wird, obwohl dafür an einigen Stellen auch das arabische Wort für Tora (at-taurāt) auftritt.[22]

    In seinem theologischen Werk Kitāb al-amānāt wa-l-iʿtiqādāt („Buch der Glaubensinhalte (wörtlich: Treuhänderschaften) und Überzeugungen“) bezeichnet der Begriff Scharia individuelle Rechte und Recht als ein von Gott offenbartes System. Gaon unterscheidet zudem zwischen rationalen und offenbarten Gesetzen. Das Verb scharaʿa mit Gott als Subjekt bezeichnet darüber hinaus an einer Stelle „ein Gesetz niederlegen“.[23]

    Der Jakobite ʿĪsā ibn Ishāq ibn Zurʿa (943–1008) benutzte in einem polemischen Werk gegen Juden das Wort Scharia als ein System von Gesetzen, das Propheten den Menschen bringen. Die christliche Religion und das Gesetz des Messias gibt er mit Scharīʿat al-Masīh und Sunnat al-Masīh wieder.[24]

    Scharia und Fiqh

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    Unter den „Wurzeln der Rechtsfindung“ (uṣūl al-fiqh) versteht man die Gesetzeswissenschaft im Islam, deren Gegenstand die Scharia ist. Sie entspricht der iuris prudentia (Rechtswissenschaft) der Römer und erstreckt sich auf alle Beziehungen des religiösen, bürgerlichen und staatlichen Lebens im Islam. Die religiösen Gesetze werden in den Büchern des Fiqh dargelegt und erörtert. Ibn Chaldūn erklärt dazu:

    „Der fiqh ist die Kenntnis der Bestimmungen (aḥkām) Gottes des Erhabenen zur Einordnung der Handlungen derjenigen, die diesen Bestimmungen jeweils unterworfen sind (al-mukallafīn), als geboten, verboten, empfohlen, missbilligt und schlicht erlaubt, die aus dem Koran, der Sunna und dem, was der Gesetzgeber (Gott) als weitere Quellen und Instrumente (adilla) zu ihrer Erkenntnis bereitgestellt hat, entnommen werden, und wenn die Bestimmungen durch diese Quellen und Auslegungsinstrumente herausgefunden werden, so nennt man sie fiqh.“[25]

    Fiqh ist kein starres Rechtssystem, das unwandelbar alle Zeiten überlebt hat und an allen Orten gültig ist. Islamwissenschaftler, Arabisten und Ethnologen (beispielsweise Gudrun Krämer,[26] Thomas Bauer,[27] Ingrid Thurner[28]) betonen immer wieder, dass Meinungspluralismus keineswegs in Widerspruch zur Scharia steht.

    Quellen des islamischen Rechts

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    Scharia als Grundlage des islamischen Rechts speist sich aus einer Vielzahl von Quellen. Koran und Hadīth sind von allen islamischen Strömungen als Quellen anerkannt, hinsichtlich der restlichen Quellen herrscht kein Konsens.

    Zwar ist der Koran die wichtigste Quelle islamischen Rechts. Allerdings enthält er nur einige Rechtsnormen, ferner einzelne Anweisungen, die lediglich als Grundlage einer allgemeinen, umfassenden Gesetzgebung gelten können. Laut Matthias Rohe weisen circa 500 Verse einen rechtlichen Bezug auf. Die meisten davon behandeln religiöse Ritualvorschriften (ʿibābāt) und nur einige Dutzend beschäftigen sich mit straf- und zivilrechtlichen Fragestellungen. Die letzte Kategorie lässt sich noch in Erb-, Ehe- und Familienrecht sowie einige Strafbestimmungen und die Almosensteuer untergliedern.[29]

    Da viele dieser Stellen im Koran aber nicht eindeutig sind, haben Exegeten die Verse in solche aufgeteilt, die keiner Auslegung bedürfen (muḥkam) und in solche, deren Bedeutung sich nicht von vornherein erschließt. Es bildete sich deshalb ein eigenes Genre heraus, welches sich mit der Auslegung des Korans beschäftigt: Tafsīr. In zwölfer-schiitischen Kreisen wird sogar angenommen, dass die Menschen nach der Entrückung des letzten Imām Muhammad al-Mahdī die genaue Bedeutung des Korans nicht mehr erfassen könnten. Schließlich könnten die wahre Bedeutung des Korans und seinen normativen Charakter nur die zwölf Imāme verstehen.[30]

    Die zweite wichtige Quelle des islamischen Rechts ist für Sunniten die Sunna Muhammads. Während sich das islamische Recht herausgebildet hat, galten und gelten noch heute für Sunniten die Überlieferungen über die Prophetengenossen ebenfalls als Teil der Sunna. Großteils werden im sunnitischen Islam heute nur noch diejenigen Überlieferungen Muhammads anerkannt, die er in seiner Funktion als Prophet und nicht als Mensch getätigt hat. Dafür gibt es mehrere Aussprüche Muhammads selbst, mit dem dieser selektive Gebrauch begründet wird. Beispielsweise heißt es in einem Hadīth: „In euren weltlichen Angelegenheiten wisst ihr besser Bescheid (als ich).“ Muslime kritisieren dennoch andere Muslime, dass manchen diese Trennung schwer falle.[31]

    Schiiten dagegen erkennen neben den Überlieferungen Mohammeds diejenigen der zwölf Imāme an.[32]

    Der Konsens (Idschmāʿ) konstituiert die erste Quelle des islamischen Rechts, die menschengemacht ist. Darunter versteht man den „Konsens aller relevanten Gelehrten in Übereinstimmung mit Koran und Sunna“.[33]

    Auch der Analogieschluss ist eine Quelle der Scharia.[34]

    Das „Für-besser-halten“ ist vor allem in der hanafitischen Rechtsschule ein beliebtes Instrument. Andere Rechtsschulen lehnen Istihsān mit Verweis auf Willkür ab, sehen es in manchen Fällen aber auch als zulässig an. Hanafiten gebrauchen ihn oft, um andere Rechtsquellen, vor allem den Qiyās, zu umgehen.[35]

    Der allgemeine Nutzen, auch al-masālih al-mursala, fand bei den Hanbaliten, den Malikiten und den Schafiiten Eingang. Istislāh ist ein Instrument, welches es dem Rechtsgelehrten erlaubt, bei seiner Entscheidung den allgemeinen Nutzen als Grund für seine Entscheidung anzugeben.[36]

    Madhhab as-Sahābī

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    „Die Auffassungen der (einzelnen) Prophetengenossen“ können in manchen Fällen ebenso Teil der Scharia sein und als Quelle für eine Entscheidung herangezogen werden.[37]

    Das Gewohnheitsrecht, auch ʿāda, ist anerkannt, sofern es Regeln innerhalb der Scharia nicht widerspricht. Durch die Integration lokaler Bräuche in das islamische Recht finden sich noch heute vor allem an den Rändern der islamischen Welt Beispiele, die wenig mit den Gepflogenheiten der Schariaanwender gemein haben. Dadurch wurde auch die Ausbreitung des Islams erleichtert.[38]

    Sadd ad-Darāʾiʿ

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    Alles, was zu Verbotenem führen kann, wird durch das „Versperren der Mittel“ ebenfalls verboten. Hanbaliten und Malikiten beziehen in ihre Beurteilung vor allem die Absicht (nīya) mit ein, während Hanafiten und Schafiiten die Mittel nur versperren, wenn ein Verbot mit großer Wahrscheinlichkeit vermieden werden soll.[39]

    Die Beibehaltung, auch Normen derer vor uns (šarʿ man qablanā), bezeichnet den Fortbestand einmal begründeter Rechtsverhältnisse. Denn nur so könne beispielsweise erworbenes Eigentum sicher sein.[40]

    Scharia und ihre Gültigkeit

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    Die Islamwissenschaftler Otto Spies und Erich Pritsch sehen in der Gültigkeit der Scharia einen grundsätzlichen Unterschied zum europäischen Recht:

    „Rechte und Ansprüche der Menschen erscheinen grundsätzlich nur als Reflexe religiöser Pflichten. Daher ist die Freiheit des Einzelnen im Scheriatrecht weit mehr eingeschränkt als im abendländischen Recht. Während hier alles erlaubt ist, was nicht gesetzlich verboten ist, verbietet der Islam alles, was nicht gesetzlich erlaubt ist. Er kennt daher auch nicht den unser heutiges Recht beherrschenden Grundsatz der Vertragsfreiheit; zulässig ist nur der Abschluss von Verträgen, die scheriatrechtlich erlaubt sind.“[41]

    Dieser Auffassung widerspricht Matthias Rohe:

    „[…] zwei wichtige gemeinsame Grundsätze. Erstens: Alles nicht Verbotene ist erlaubt […]. Zweitens: Ohne besondere Anordnung besteht keine Verpflichtung […]. Dies ist hervorzuheben, weil eine verbreitete, von unzutreffendem Vorverständnis geprägte Sicht fälschlich das Gegenteil behauptet.“[42]

    Rohe zitiert den Juristen der frühen Abbasidenzeit ʿĪsā ibn ʿAbān als Beispiel für eine von Spies und Pritsch vertretene Ansicht. Jedoch betont Rohe, dass diese Sichtweise nicht verbreitet sei.[43]

    Ausprägungen des islamischen Rechts

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    Die Scharia umfasst neben den Rechten von Muslimen auch Nicht-Muslime, die auf islamischem Territorium leben. Diese wurden zwar bis zu einem gewissen Grad beschützt, standen Muslimen jedoch nicht gleichberechtigt gegenüber. Die Benachteiligung von Nicht-Muslimen war von staatlicher Seite in vielen Fällen institutionalisiert. So durften sie keine hohen Staatsämter bekleiden und keinen Militärdienst absolvieren. Allerdings kam es zwischenzeitlich auch immer wieder zu Lockerungen solcher Vorschriften. In solchen Zeiten stiegen Nicht-Muslime oft in hohe Ämter auf.[44]

    Unterhaltsrecht

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    Laut Rohe spiegelt das islamische Unterhaltsrecht die Lebensbedingungen patriarchalischer Großfamilien wider. Deshalb sind traditionell Männer unterhaltspflichtig. Falls der Mann dieser Pflicht aus materiellen Gründen nicht nachkommen kann, ist die Frau gegenüber ihren Kindern dafür zuständig, für diese zu sorgen. Die nächste Instanz wäre dann – außer bei den Malikiten – die Großeltern. Sollte ein Mann seinen Pflichten während der Ehe nicht nachkommen, ist es der Frau erlaubt, die Scheidung einzureichen. In den meisten Fällen wird ihr dies auch erlaubt, wenn ein Dritter für den Unterhalt aufkommt. Vor allem für Männer aus ärmeren Schichten stellt dies nicht selten ein Problem dar.[45]

    Söhne haben bis zur Volljährigkeit einen Anspruch auf Unterhalt, Töchter bis zur Heirat und ab dem Tod ihres Ehemanns. Eltern, Großeltern und Enkel haben ebenfalls das Recht, einen Anspruch auf Unterhalt zu stellen, wenn sie ökonomisch nicht auf eigenen Beinen stehen. Entfernte Verwandte muss jedoch nur ein reicher Mann versorgen. Über die Höhe der Zahlungen herrscht kein Konsens. Laut den Fatāwā ʿĀlamgīrīya soll die Höhe jedoch am möglichen Erbanteil bemessen werden. Auch die Konkurrenz zwischen Kindern und Eltern des Unterhaltspflichtigen ist Thema vieler Debatten.[46]

    Im Falle einer Scheidung variierte die Höhe des Entgelts für die Frau stets. Meist wurde ihr jedoch mindestens das Brautgeld (mahr) zugesprochen. Falls die Scheidung von ihr ausgegangen ist, entfielen die Kosten für den Mann im Normalfall. Es gibt Beispiele in der Geschichte, die belegen, dass Frauen auch zur Scheidung gezwungen wurden.[47]

    Neuere Entwicklungen spiegeln teils noch immer patriarchalische Vorstellungen wider. In Ägypten hat beispielsweise der Sohn bis zu seiner Volljährigkeit einen Anspruch auf Unterhalt, während ihn die Tochter bis zur Ehe oder bis zum Eintritt ins Berufsleben hat. Sie ist jedoch weder verpflichtet zu heiraten noch zu arbeiten. In Marokko, Tunesien, Libyen und den Vereinigten Arabischen Emiraten jedoch muss eine vermögende Ehefrau ebenfalls zum Unterhalt beitragen.[48]

    Wenn sich ein Mann von seiner Frau scheiden lässt, muss er beispielsweise in Tunesien gemäß dem Lebensstandard während der Ehe weiterhin für seine Frau sorgen, bis sie wieder heiratet. In Ägypten hat die Frau einen Anspruch auf Unterhaltszahlungen für zwei Jahre, in Algerien kann der Mann, der sich willkürlich von seiner Frau geschieden hat, zu Zahlungen verurteilt werden. Dies trifft auch auf ihn zu, sollte die Frau sich berechtigterweise von ihm scheiden. Im Iran muss der Mann im Falle einer Scheidung der Frau das restliche Brautgeld, „Unterhalt und eine angemessene Ausstattung zur Verfügung“ stellen. Sollte die Frau sich weigern, dies anzunehmen und ihre ehelichen Pflichten nicht verletzt haben, dann hat sie zudem Anspruch auf ein finanzielles Entgelt für ihre haushaltlichen Dienste während der Ehe.[49]

    Scharia in der Gegenwart

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    Scharia wird unterschiedlich angewandt; je nach Land oder Region unterscheidet sich ihre Ausprägung.

    Prinzipiell kann sich das Verhältnis von Staat und Religion rechtlich folgendermaßen gestalten:

    • Inkorporation „von oben“: Der Staat selbst erlässt religiös geprägtes Recht. In zahlreichen Staaten mit dem Islam als Staatsreligion bildet die Scharia von Verfassungs wegen die Grundlage der Gesetzgebung.
    • Delegation „von oben“: Der Staat verweist auf religiöse Normen und/oder Institutionen, sei es direkt fürs Inland, sei es indirekt für Fälle mit Auslandsbezug[50] (IPR, IZPR). Das kann insbesondere bestimmte Teile des Zivilrechts betreffen (Familien-, Erb-, Personenrecht; Personalstatut); bisweilen wird auch nur eine religiöse Form der Eheschließung gestattet (z. B. Mufti-Ehe in der Türkei;[51] vgl. Zivilehe).
    • Inkorporation/Delegation „von unten“: Die Rechtsbetroffenen nutzen die Vertragsfreiheit durch privatautonome Ausgestaltung vertraglicher Bestimmungen (Integration) oder durch Rechtswahl- oder Schiedsgerichtsklauseln (Delegation),[52] um ihren religiösen Rechtsvorstellungen Geltung zu verschaffen.
    • Nebeneinander: Das religiöse Recht steht unabhängig neben dem staatlichen (vom Staat akzeptiert oder informell). Siehe auch: Trennung zwischen Staat und religiösen Institutionen.

    Folgend einige Beispiele.

    Islamisch geprägte Staaten

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    Demonstration für die Einführung der Scharia auf den Malediven 2014 mit dem Schwarzen Banner

    Laut der jeweiligen Verfassung ist die Scharia Grundlage der Gesetzgebung in folgenden Staaten: Ägypten (Art. 2), Bahrain (Art. 2), Irak (Art. 7), Iran (Art. 4), Jemen (Art. 3), Katar (Art. 1), Kuwait (Art. 2), Libyen (Art. 1), Mauretanien (Präambel), Oman (Art. 2), Pakistan (Sec. 227), Palästina (Art. 4), Saudi-Arabien (Art. 23), Vereinigte Arabische Emirate (Art. 7). In Afghanistan (Art. 3), auf den Malediven (Art. 10) und in Somalia (Art. 2) darf die Gesetzgebung der Scharia nicht widersprechen. Hinzu kommen Teilgebiete von Staaten wie die nördlichen Bundesstaaten Nigerias, die indonesische Provinz Aceh oder die philippinische Region Bangsamoro.

    2010 begannen in vielen arabischen bzw. nordafrikanischen Ländern Revolutionen (zusammenfassend Arabischer Frühling genannt). Im Zuge dieser Revolutionen kam es in diesen Ländern zu Wahlen bzw. Verfassungsreferenden. In vielen Ländern wurde bzw. wird diskutiert, welche Rolle der Islam in Gesellschaft und Rechtssystem haben soll.

    Allgemein verbreitet ist die Umsetzung im zivilrechtlichen Bereich beispielsweise in Algerien, Indonesien und Ägypten.[53]

    In einigen Staaten gilt die Scharia vollständig, etwa in Saudi-Arabien und Mauretanien. Zuweilen gilt die Scharia nur in islamisch dominierten Landesteilen (Nigeria oder Aceh (Indonesien), siehe auch Scharia in Nigeria).

    So wird zum Beispiel in Ländern wie Somalia und Sudan, wo Hadd-Strafen vollstreckt werden, auch die Schwangerschaft einer unverheirateten Frau oder einer Ehefrau, deren Ehemann abwesend ist, als Beweis für Unzucht genommen. In einigen Ländern werden selbst vergewaltigte Frauen aufgrund solcher „Beweisführung“ bestraft.

    Die Bedeutung der Scharia nimmt seit etwa Mitte der 1970er Jahre in allen islamischen Ländern wieder kontinuierlich zu. Auch in der laizistischen Türkei mehren sich politisch einflussreiche Stimmen, die die Rückkehr zum islamischen Scharia-Recht fordern. Im Zuge der Revolution in Ägypten gab es im März 2011 ein Verfassungsreferendum.

    Demgegenüber finden jedoch auch immer mehr alternative Interpretationsansätze der Scharia in der islamischen Welt Gehör. Diese Intellektuellen fordern dazu auf, bei der Auslegung des Korans den historischen Kontext zu beachten. Beispiele sind Fazlur Rahman in Pakistan, Muhammad Schahrur in Syrien, Abdulkarim Sorusch im Iran, Muhammad Abed al-Jabri in Algerien, Hassan Hanafi in Ägypten und nicht zuletzt viele Theologen in der Türkei.[54]

    Die praktische Umsetzung des islamischen Rechts ist in den islamischen Ländern sehr unterschiedlich. In manchen Staaten gibt es eine theokratische Identität von offiziellem Recht und Scharia, in anderen wurde die Scharia abgeschafft, in manchen hat sie – im Sinne eines Rechtspluralismus – lediglich für einen Teil der Bevölkerung Gültigkeit.

    In der Türkei wurde die Scharia mit der Verfassung vom 20. April 1924 unter Mustafa Kemal Atatürk abgeschafft.

    In Tunesien wurde sie mit der Verfassung vom 1. Juni 1959 abgeschafft. Lediglich Artikel 38 der tunesischen Verfassung schreibt fest, dass der Präsident ein Muslim sein muss.[55]

    In Malaysia existiert ein duales Rechtssystem, in dem islamische Gerichtshöfe parallel zu zivilstaatlichen Institutionen operieren. Drei der 13 Bundesstaaten des Landes erlauben etwa die Auspeitschung nach den Regeln der Scharia, obwohl dies landesweit nach dem Kriminalstrafrecht verboten ist.[56]

    Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam

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    Im Jahr 1990 wurde bei der 19. Außenministerkonferenz der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam beschlossen, welche als Leitlinie der z. Zt. 57 islamischen Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Menschenrechte gelten soll. In den abschließenden Artikeln 24 und 25 wird die religiös legitimierte islamische Gesetzgebung, die Scharia, als einzige Grundlage zur Interpretation dieser Erklärung festgelegt.[57]

    Die Erklärung wird von Islam-Vertretern als islamisches Gegenstück zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO gesehen, von der sie jedoch erheblich abweicht, da sie die Scharia zur Grundlage der Menschenrechte erklärt.

    Scharia und westliche Staaten

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    In westlichen Industriestaaten sowie in sonstigen nicht islamisch geprägten Ländern der Welt kann die Scharia – vermittelt über das jeweilige Internationale Privatrecht des Landes – Rechtswirkung entfalten. Allerdings findet die Geltung etwa in Deutschland ihre Grenzen im Ordre public: So werden Normen, die mit rechtlichen Grundvorstellungen unvereinbar sind, nicht angewendet.[58]

    Grundlage für rituelle Vorschriften ist das Fiqh al-aqallīyāt (die „Jurisprudenz der Minderheiten“), welches eine Erleichterung für im Westen lebende Muslime erreichen möchte.

    Religiöse Schiedsgerichte, wie es sie z. B. in Großbritannien gibt, sind in Deutschland verboten. In bestimmten Fällen, wie z. B. bei der Auflösung einer im Ausland gegründeten Ehe, können Aspekte des Scharia-Rechtsystems angewandt werden, solange das Ergebnis keinen Widerspruch zur deutschen Rechtsordnung darstellt. Die rechtliche Grundlage hierfür ergibt sich aus dem internationalen Privatrecht, welches das Zusammenstoßen zweier nationaler Rechtssysteme regeln soll.[59][60]

    In Deutschland wurde 2007 ein Gerichtsurteil einer Familienrichterin am Amtsgericht Frankfurt am Main diskutiert, welches den Antrag einer Frau auf eine beschleunigte Scheidung von ihrem gewalttätigen marokkanischen Mann ablehnte und dies unter anderem mit Zitaten aus dem Koran begründet haben soll.[61] Es sei im marokkanischen Kulturkreis üblich, dass der Mann gegenüber der Frau ein Züchtigungsrecht ausübe; damit habe die Frau bei der Heirat rechnen müssen. Die Richterin wurde anschließend infolge eines erfolgreichen Befangenheitsantrags von dem Fall abgezogen. Das Urteil wurde von vielen Politikern, Frauenrechtsorganisationen, dem deutschen Juristinnenbund und dem Zentralrat der Muslime scharf kritisiert.[62]

    Großbritannien

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    In Großbritannien wird die Scharia nicht von den staatlichen Gerichten angewendet. Es gibt für bestimmte Fälle religiöse Schiedsgerichte, die auf freiwilliger Basis von den Parteien angerufen werden können. Dabei kommt die Scharia zur Anwendung, soweit sie nicht gegen Common Law verstößt.[63] Im Februar 2008 hat das Oberhaupt der anglikanischen Kirche, der Erzbischof von Canterbury Rowan Williams, es gegenüber der BBC[64] als „unvermeidlich“ bezeichnet, dass Elemente der Scharia im britischen Common Law anerkannt werden. Durch eine „konstruktive Adaption“ von Scharia-Elementen könnten zum Beispiel muslimischen Frauen westliche Ehescheidungsregeln erspart werden. Dabei gehe es nicht darum, „Unmenschlichkeiten“ der Gesetzespraxis in einigen islamischen Ländern in den Westen zu übertragen. Williams’ Einlassungen stießen in Großbritannien und innerhalb der anglikanischen Kirche vielfach auf Entrüstung, dabei wurde unter anderem darauf verwiesen, dass es nicht unterschiedliche Rechtssysteme für verschiedene Bevölkerungsgruppen innerhalb Großbritanniens geben dürfe.

    Eine gegenteilige Meinung vertritt der ehemalige anglikanische Bischof von Rochester Michael Nazir-Ali, der selbst wegen Morddrohungen pakistanischer Muslime nach Großbritannien geflohen ist.[65] Die von den britischen Zivilgerichten ergangenen Scheidungsurteile haben aus der Sicht der islamischen Rechtsprechung keine Gültigkeit. Ahmad al-Dubayan, der Vorsitzende des Rates für Schariagerichte in Großbritannien (Islamic Sharia Council), sagte 2016, dass die Situation mit den sich immer weiter verbreitenden Schariagerichten ein großes Problem sei. Er wisse nicht, wie viele dieser Gerichte es in der Zwischenzeit in Großbritannien gebe. Der Innenausschuss im britischen Unterhaus begann eine Ermittlung hinsichtlich der Ausbreitung des islamischen Rechts. Muslimische Verbände kritisierten dieses Vorgehen unmittelbar nach Bekanntwerden als Einmischung in die Religionsfreiheit.[66][67]

    In Griechenland gilt für die muslimische Minderheit (Pomaken und Türken in Westthrakien) in Angelegenheiten, die den persönlichen Status und das Familienrecht betreffen, die Scharia, sofern die Angehörigen der Minderheit ihre Angelegenheiten nach der Scharia anstelle des griechischen Rechts geregelt haben möchten. Das geht auf den Vertrag von Sèvres zurück.

    Der kanadische Arbitration Act (1991)[68] erlaubte es Christen, Juden und Muslimen in der Provinz Ontario, häusliche Dispute (wie Scheidungs-, Vormundschafts- und Erbschaftsklagen) vor einem religiösen Schiedsgericht zu verhandeln, wenn alle Parteien damit einverstanden waren. Die Urteile dieser Schiedsgerichte waren, sofern sie nicht geltendem kanadischen Recht widersprachen, rechtskräftig. Damit wurde die Scharia in Ontario in Spezialfällen von muslimischen Gerichten angewendet. Im September 2005 wurde der Arbitration Act (auch wegen internationaler Proteste durch Frauenrechtsorganisationen) derart geändert, dass Entscheidungen auf Grund von religiösen Gesetzen nicht mehr möglich sind.[69]

    In den Vereinigten Staaten (Rechtssystem: Common Law, das sich vor allem auf frühere Präzedenzfälle stützt und daher von einzelnen Richtern leichter beeinflusst werden kann), haben 2010 die Bundesstaaten Tennessee und Louisiana die Anwendung der Scharia gesetzlich untersagt. In den Bundesstaaten Florida, Mississippi, Utah konnte solch eine gesetzliche Untersagung nicht durchgesetzt werden. In zwölf Bundesstaaten gibt es Anfang 2011 Gesetzesinitiativen, die die Anwendung der Scharia unterbinden sollen.[70]

    In Dänemark verfolgt eine islamistische Gruppe namens „Ruf zum Islam“ das Ziel, in muslimischen Wohngegenden in Kopenhagen Scharia-Zonen einzurichten, in denen eine „Moralpolizei“ das Verbot von Alkohol, Glücksspiel und Nachtleben überwacht.[71][72] Ähnliche Lobbygruppen soll es inzwischen auch in Großbritannien, Belgien, Frankreich und Spanien geben.[71]

    In den Niederlanden führten 2006 Bemerkungen des damaligen niederländischen Justizministers Piet Hein Donner zu Aufsehen, er könne sich die Einführung der Scharia in den Niederlanden gut vorstellen, wenn die Mehrheit der Wähler dafür wäre.[73] Ein Symposium an der Universität Tilburg widmete sich dem Thema Sharia in Europe am 3. Mai 2007 und lud dazu u. a. die palästinensisch-amerikanische Islamwissenschaftlerin Maysam al-Faruqi von der Georgetown University in Washington, D.C., ein. Al-Faruqi erachtet Scharia und niederländisches Recht als kompatibel miteinander: „Beide Rechtssysteme können mühelos nebeneinander bestehen“.[74]

    Kritiker halten der Anwendung der Scharia in westlichen Ländern entgegen, dass die Scharia nicht mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vereinbar sei. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) urteilte in mehreren Verfahren, dass die Scharia „inkompatibel mit den fundamentalen Prinzipien in der Demokratie“ sei.[75][76]

    Der Politologe Bassam Tibi untersucht die Fragestellung, ob es eine spezifische arabische oder islamische Demokratie gibt. Aus seiner Sicht ist die islamistische Scharia ein totalitäres Konzept. Die Politisierung und „Schariasierung“ des Islam sei nicht vereinbar mit der Demokratie. Er nennt es „das Paradox der demokratischen Scharia“. Auf der anderen Seite gebe es im Islam bestimmte Reformen, die eine Quelle der demokratischen Legitimität sein könnten.[77]

    Commons: Scharia – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
    Wiktionary: Scharia – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
     Wikinews: Scharia – in den Nachrichten
    1. arabisch شريعة Schariʿa, DMG Šarīʿa, im Sinne von „Weg zur Tränke, Weg zur Wasserquelle, deutlicher, gebahnter Weg“; auch: „[religiöses] Gesetz“, „Ritus“; (persisch شريعت, DMG Šarī‘at; türkisch Şeriat), abgeleitet aus dem arabischen Verb شرع scharaʿa, DMG šaraʿa ‚den Weg weisen, vorschreiben‘
    2. Mathias Rohe: Das Islamische Recht. Beck, München 2011, S. 9 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
    3. Vgl. H. Wehr: Arabisches Wörterbuch. Wiesbaden 1968, S. 424.
    4. Mathias Rohe: Das Islamische Recht. Beck, München 2011, S. 5–6 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
    5. Analyses - Wahhabism | PBS - Saudi Time Bomb? | FRONTLINE | PBS. Abgerufen am 26. März 2022.
    6. Vgl. H. Wehr: Arabisches Wörterbuch. Wiesbaden 1968, S. 424.
    7. Vgl. Die Zehn Gebote.
    8. N. Calder: S̲h̲arīʿa. In: EI² Online.
    9. Andreas Neumann: Rechtsgeschichte, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Islam. Hamburg 2012, ISBN 978-3-8300-5142-8, S. 5–6.
    10. Calder: S̲h̲arīʿa, in EI² Online; vgl. Hadith Nr. 4355.
    11. Tilman Nagel: Kann es einen säkularisierten Islam geben? In: Reinhard C. Meier-Walser, Rainer Glagow (Hrsg.): Die islamische Herausforderung – eine kritische Bestandsaufnahme von Konfliktpotenzialen (= aktuelle Analysen. Band 26). Hanns-Seidel-Stiftung e. V., Akademie für Politik und Zeitgeschehen, München 2001, ISBN 3-88795-241-3, S. 9–21, hier: S. 15. Digitalisat (Memento vom 9. Februar 2018 im Internet Archive)
    12. Peter Heine: Ein System großer Flexibilität – Der Begriff „Scharia“ provoziert ständige Missverständnisse. In: Herder Korrespondenz. Band 65, Nr. 12, 2011, S. 613–617. Digitalisat (Memento vom 10. Februar 2018 im Internet Archive)
    13. Heine: Ein System großer Flexibilität – Der Begriff „Scharia“ provoziert ständige Missverständnisse. Digitalisat (Memento vom 10. Februar 2018 im Internet Archive)
    14. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 10.
    15. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 10.
    16. Heine: Ein System großer Flexibilität – Der Begriff „Scharia“ provoziert ständige Missverständnisse. Digitalisat (Memento vom 10. Februar 2018 im Internet Archive)
    17. Heine: Ein System großer Flexibilität – Der Begriff „Scharia“ provoziert ständige Missverständnisse. Digitalisat (Memento vom 10. Februar 2018 im Internet Archive)
    18. Natalie Amiri: Zwischen den Welten. Von Macht und Ohnmacht im Iran. Aufbau, Berlin 2021, ISBN 978-3-351-03880-9; Taschenbuchausgabe ebenda 2022, ISBN 978-3-7466-4030-3, S. 81.
    19. A. J. Wensinck, J. H. Kramers (Hrsg.): Handwörterbuch des Islam. Brill, Leiden 1941, S. 674.
    20. A. J. Wensinck, J. H. Kramers (Hrsg.): Handwörterbuch des Islam. Leiden 1941, S. 674–676.
    21. Carl Heinz Ratschow: Ethik der Religionen. Ein Handbuch. (1980), S. 185.
    22. Calder: S̲h̲arīʿa in EI² Online.
    23. Calder: S̲h̲arīʿa in EI² Online.
    24. Calder: S̲h̲arīʿa in EI² Online.
    25. Ibn Ḫaldūn: al-Muqaddima. Band 2. Dimašq, Dār al-Balḫī 2004, S. 185,Textarchiv – Internet Archive. Die deutsche Übersetzung entstammt Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 12.
    26. Gudrun Krämer: Demokratie im Islam. Der Kampf für Toleranz und Freiheit in der arabischen Welt. C. H. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-62126-0.
    27. Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Verlag der Religionen im Insel Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-458-71033-2.
    28. Ingrid Thurner: 1001 Wege der Rechtsfindung. In: Wiener Zeitung, 16. Februar 2013.
    29. Matthias Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 48–49.
    30. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 49.
    31. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 52–53.
    32. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 53.
    33. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 58.
    34. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 62.
    35. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 64–66.
    36. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 66.
    37. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 67.
    38. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 68.
    39. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 71.
    40. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 72.
    41. O. Spies, E. Pritsch: Klassisches islamisches Recht. In: Bertold Spuler (Hrsg.): Handbuch der Orientalistik. Erste Abteilung: Der Nahe und der Mittlere Osten. Ergänzungsband III: Orientalisches Recht. Brill, Leiden/Köln 1964, S. 222.
    42. Matthias Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 43.
    43. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 43–44.
    44. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 154.
    45. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 97–98.
    46. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 98.
    47. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 94–95.
    48. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 229.
    49. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 230.
    50. im europäischen Kollisionsrecht seltener geworden durch den Übergang von der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit zur Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt (Rom-III-VO, EuErbVO); instruktiv zur früheren Rechtslage Peter Scholz: Grundfälle zum IPR: Ordre public-Vorbehalt und islamisch geprägtes Recht, ZJS 2010, 185, 325
    51. türkisches Personenstandsgesetz (Gesetz Nr. 5490, Nüfus Hizmetleri Kanunu), Art. 22 Abs. 2; Bergmann aktuell: Vornahme von Eheschließungen durch Muftis ermöglicht (26. Oktober 2017)
    52. Franziska Hötte: Religiöse Schiedsgerichtsbarkeit (2013)
    53. Zur Entwicklung in Ägypten ab den 1950er Jahren siehe auch Sayyid Qutb.
    54. Ömer Özsoy: Die fünf Aspekte der Scharia und die Menschenrechte in Forschung Frankfurt 1/2008. S. 27. Digitalisat (Memento vom 22. Januar 2020 im Internet Archive) (PDF; 4,6 MB)
    55. The Constitution of Tunisia (Memento vom 31. Januar 2011 im Internet Archive) (PDF)
    56. Malaysian Groups Condemn Caning of Women in Shariah Sex Case. Bloomberg.com, 18. Februar 2010
    57. Text der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam (englisch). Digitalisat (Memento vom 10. Juni 2007 im Internet Archive)
    58. Scharia in Deutschland? FAKTENcheck: Islamisches Recht. In: Neues Deutschland, 16. Oktober 2010.
    59. Barbara Schneider: Scharia hält Einzug in deutsche Gerichtssäle. In: Welt Online. 1. Februar 2012, abgerufen am 7. November 2019.
    60. Scharia und Grundrechte von Frauen in der Bundesrepublik. (PDF) In: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages. Deutscher Bundestag, 2008, abgerufen am 2. September 2020.
    61. WELT: Richterin verweist auf Züchtigungsrecht im Koran. In: Die Welt. 21. März 2007 (welt.de [abgerufen am 2. Oktober 2020]).
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    70. Tim Murphy: Map: Has Your State Banned Sharia? motherjones.com, 11. Februar 2011.
    71. a b Henryk M. Broder: Islamische Moralpolizisten fordern „Scharia-Zonen“. Welt Online, 31. Oktober 2011, Kommentar; abgerufen am 4. April 2012.
    72. Video heute: Gilt bald die Scharia in Dänemark? in der ZDFmediathek, abgerufen am 9. Februar 2014. (offline)
    73. Donner naïef in uitspraken sharia. Radio Nederland, 13. September 2006 Donner naïef in uitspraken sharia (Memento vom 16. Mai 2007 im Internet Archive)
    74. Sharia kan zonder probleem in Nederland worden ingevoerd. Nieuw Religieus Peil, 13. Mai 2007.
    75. So etwa in: Case Of Refah Partİsİ (The Welfare Party) And Others V. Turkey (Applications nos. 41340/98, 41342/98, 41343/98 and 41344/98), Judgment, Strasbourg, 13 February 2003, No. 123 (siehe S. 39): „The Court concurs in the Chamber’s view that sharia is incompatible with the fundamental principles of democracy, as set forth in the Convention“; vgl. Alastair Mowbray: „Cases, Materials, and Commentary on the European Convention on Human Rights“, OUP Oxford, 29. März 2012, S. 744, Google-Books-Archivierung; siehe auch „The European Court of Human Rights in the case of Refah Partisi (the Welfare Party) and Others v. Turkey“ (Memento vom 9. Juli 2021 im Internet Archive), 13. Feb. 2003, Ziffer 123 u. weitere Ziffern im gleichen Dokument
    76. Siehe auch sueddeutsche.de, 14. Sept. 2017: Gegen Scheidungen nach Scharia-Recht
    77. Bassam Tibi: Islamism and Islam. Yale University Press, (2012), S. 114