„Ne bis in idem“ – Versionsunterschied
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{{lang|la|'''''Ne bis in idem'''''}} ‚nicht zweimal in derselben Sache‘, oder {{lang|la|'''''bis de eadem re ne sit actio'''''}} ‚zweimal sei zur selben Sache keine Verhandlung‘, ist die [[Latein im Recht|lateinische]] Formulierung eines Rechtsgrundsatzes des [[Römisches Recht|Römischen Rechts]],<ref>{{Internetquelle |autor=Araceli Turmo |url=https://www.europeanpapers.eu/en/system/files/pdf_version/EP_eJ_2020_3_15_Articles_SS2_7_Araceli_Turmo_00429_0.pdf |titel=Ne bis in idem in European Law: A Difficult Exercise in Constitutional Pluralism |werk=europeanpapers.eu |format=PDF |sprache=Englisch |abruf=2023-01-26}}</ref> dessen Kerngedanke schon beim [[athen]]ischen Redner [[Demosthenes]] (* 384 v. Chr.; † 322 v. Chr.) in seiner ''Einrede gegen Nausimachos und Xenopeithes'' (Παραγραφή προς Ναυσίμαχον και Ξενοπείθην) nachzuweisen ist (D. 38,4 [985]): Ὅτι δ᾽ οὐκ ἐῶσιν οἱ νόμοι περὶ τῶν οὕτω πραχθέντων αὖθις δικάζεσθαι, νομίζω μὲν ἅπαντας ὑμᾶς εἰδέναι (Dass die Gesetze es nicht zulassen, über das, was so ausgehandelt worden ist, erneut gerichtlich zu urteilen, wisst ihr, glaube ich, alle.)<ref>https://el.wikisource.org/wiki/Παραγραφή_προς_Ναυσίμακον_και_Ξενοπείθην#p4</ref>. |
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'''Ne bis in idem''' ist ein [[Rechtswissenschaft|juristischer]] Grundsatz und bedeutet, dass ein Täter nicht zweimal wegen derselben Tat vor [[Gericht]] gestellt werden darf. Dies bedeutet, dass eine Verurteilung oder ein Freispruch grundsätzlich eine [[prozessuale Tat]] endgültig rechtlich bewertet. So kann ein Täter, der wegen eines [[Totschlag]]s verurteilt wurde, nicht nach Abschluss des Verfahrens noch einmal wegen [[Mord]]es an derselben Person angeklagt werden, wenn die Mordmerkmale später erst festgestellt wurden. |
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Der Rechtsgrundsatz beschreibt einen Teilaspekt der materiellen Rechtskraft: Ein mit [[Rechtsmittel]]n nicht mehr anfechtbares [[Urteil (Recht)|Urteil]] klärt einen bestimmten Sachverhalt im Umfang des [[Tenor (Urteil)|Tenors]] abschließend. Der Sachverhalt darf dann grundsätzlich nicht mehr zum Gegenstand einer neuen richterlichen Entscheidung gegen den Betroffenen gemacht werden. Mit dieser Bedeutung als Wiederholungsverbot gilt er in allen Rechtsbereichen. Viele Staaten haben unter Vorrangstellung der materiellen Gerechtigkeit gegenüber der formellen unter bestimmten Voraussetzungen – zum Beispiel bei nachträglichem [[Geständnis]] des Täters – Einschränkungen dieses Grundsatzes vorgenommen. In [[Indien]] und [[Mexiko]] ist der Grundsatz bislang uneingeschränkt gültig, da er [[verfassungsrecht]]lich abgesichert ist. |
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Ausnahmen von diesem in Artikel 103 Absatz 3 des [[Grundgesetz]]es festgelegten Grundsatz sind nur in eng begrenzten Fällen möglich, in der Regel nämlich nur dann, wenn ein Verfahren wiederaufgenommen wird. Dafür sieht die [[Strafprozessordnung]] - erst recht zu Lasten des Angeklagten - sehr enge Voraussetzungen vor. |
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Im [[Strafrecht]] ist ''ne bis in idem'' als '''Verbot der Doppelbestrafung''' (genauer: Verbot der Mehrfachbestrafung) ein fundamentaler Grundsatz eines jeden fairen [[Strafprozess]]es. Er findet sich in unterschiedlichen Gestaltungen in allen modernen (Straf-)[[Rechtsordnung]]en wieder. |
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Der ''Ne-bis-in-idem''-Grundsatz wird jedoch auf zwischenstaatlicher Ebene (mit Nicht-EU-Ländern) anders behandelt. Hier kann sehr wohl die Tat sowohl im Land des Tatortes als auch in Deutschland selbst abgeurteilt werden. Das [[Schengener Durchführungsübereinkommen]] (SDÜ) hat jedoch in den Art. 54 ff. ein Verbot der Doppelbestrafung innerhalb der EU-Staaten vorgesehen. |
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Das Verbot der Doppelbestrafung stellt für den Einzelnen ein [[Subjektives Recht#Im öffentlichen Recht|subjektiv-öffentliches Recht]] dar. Die Terminologie ist nicht immer einheitlich, überwiegend wird vom ''ne bis in idem'' als [[Grundrecht]] oder in [[Deutschland]] jedenfalls [[Grundrechtsgleiches Recht|grundrechtsgleichem Recht]] ([[Justizgrundrecht]]) gesprochen, geregelt in {{Art.|103|gg|juris}} Abs. 3 GG. Wegen der Bedeutung für das [[rechtsstaat]]liche Strafverfahren ist auch der Begriff des Justiz- oder Prozessgrundrechts gebräuchlich. |
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== Regelungen in Deutschland == |
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Obwohl der Grundsatz in Deutschland in allen Rechtsbereichen gilt,<ref>Vgl. zum deutschen Zivilverfahrensrecht z. B. {{Rspr|BGHZ 93, 287}}</ref> wird er überwiegend im [[Strafrecht (Deutschland)|straf-]] und [[Polizei- und Ordnungsrecht|ordnungsrechtlichen]] Kontext verwendet. Er hat durch die Regelung in {{Art.|103|gg|juris}} Abs. 3 [[Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland|Grundgesetz]] Verfassungsrang. |
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Das Institut des Strafklageverbrauchs steht aufgrund seines Verfassungsrangs typischerweise im Spannungsfeld konkurrierender Verfahrensziele. Einerseits soll die materielle Richtigkeit eines Urteils gewährleistet sein, andererseits sollen Rechtskraft und Rechtssicherheit (Verfahrensabschluss) geboten sein. Dazu wird der Sachverhalt im Rahmen des [[Amtsermittlungsgrundsatz]]es umfassend ermittelt, dies aber über die funktional völlig unterschiedenen Organe der Rechtspflege ([[Akkusationsprinzip|Staatsanwaltschaft und Gericht]]). Gleichzeitig aber soll der Verfahrensstoff eng begrenzt sein, damit der Angeklagte auch geschützt werden kann. |
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Für den Bereich des Strafrechts gilt demnach, dass eine angeklagte [[prozessuale Tat]] durch ein [[Rechtskraft (Deutschland)|rechtskräftiges]] Urteil grundsätzlich endgültig rechtlich bewertet ist. Der Tatvorwurf (das heißt der der Anklage zugrundeliegende Sachverhalt) ist damit für weitere Prozesse nicht mehr verwertbar – es liegt insofern ein [[Strafklageverbrauch]] vor. So kann ein Täter, der rechtskräftig wegen eines [[Totschlag (Deutschland)|Totschlags]] verurteilt wurde, nicht nach Abschluss des Verfahrens noch einmal wegen [[Mord (Deutschland)|Mordes]] an derselben Person verurteilt werden, wenn die Mordmerkmale erst später festgestellt werden. Der Grundsatz gilt allerdings immer nur in Bezug auf eine konkrete Tat. Er bedeutet nicht, dass beispielsweise ein Bankräuber nicht verurteilt werden kann, wenn er dieselbe Bank später ein weiteres Mal überfällt, oder dass ein wegen einer Tat unschuldig Verurteilter einen „Freischuss“ bekommt, die Tat dann nachträglich zu begehen. Dies wäre dann eine andere Tat – nicht die, für die er verurteilt wurde. |
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Im [[Ordnungswidrigkeit]]enrecht ist der [[Bußgeldbescheid]] ein Verfolgungshindernis für ein erneutes Ordnungswidrigkeitenverfahren für dieselbe Tat, siehe {{§|84|owig|juris}} Abs. 1 [[OWiG]] (nicht aber für ein Strafverfahren). Ist im Ordnungswidrigkeitenverfahren allerdings ein bereits rechtskräftiges Urteil ergangen, steht dieses auch der strafrechtlichen Verfolgung entgegen, siehe § 84 Abs. 2 OWiG. |
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Der Grundsatz ''ne bis in idem'' reicht aber nach der Rechtsprechung des [[Bundesgerichtshof]]s und des [[Bundesverfassungsgericht]]s über ein bloßes Verbot der Doppelbestrafung hinaus. Es schließt grundsätzlich insbesondere eine erneute [[Strafverfolgung]] derselben Tat auch bei erfolgtem [[Freispruch]] aus, denn der Betroffene soll durch diesen auch vor den existentiellen Unsicherheiten eines zweiten Strafverfahrens in derselben Sache geschützt werden.<ref>BGH, Beschluss vom 9. Dezember 1953, [https://research.wolterskluwer-online.de/document/50c3bcaa-ecaa-4e51-a9cf-f26611eafa13 Az. GS St 2/53], Rn. 18 ff.</ref><ref>BVerfG, Urteil vom 31. Oktober 2023, Az. {{Rspr|2 BvR 900/22}}, Rn. 60–74.</ref> |
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Das Nichtvorliegen eines [[Strafklageverbrauch]]s – insoweit als Negativmerkmal – im Sinne von [[Artikel 103 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland|Art. 103]] Abs. 3 GG ''({{lang|la|ne bis in idem}})'' hingegen stellt demnach eine elementare [[Verfahrensvoraussetzung]] mit materiellem Einschlag (Abstellen auf den Aspekt der [[Prozessuale Tat|prozessualen Tat]]) dar, wonach eine abgeurteilte [[Straftat (Deutschland)|Tathandlung]] eben prinzipiell – wenn das [[Sachurteil|Urteil]] [[Formelles Recht|formell]] ordentlich zustande gekommen ist – ein für alle Mal Schluss sein lässt („[[Rechtsfrieden]]“). |
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Zu unterscheiden ist zwischen: |
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* '''unbeschränktem Strafklageverbrauch''' zum Beispiel durch |
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** [[Sachurteil]] über dieselbe prozessuale Tat; |
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** [[Prozessurteil]] über dieselbe prozessuale Tat ({{§|260|stpo|juris|text=§ 260 Abs. 3 StPO}}), falls darin von einem unbehebbaren Verfahrenshindernis ausgegangen wird; |
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* '''beschränktem Strafklageverbrauch''' zum Beispiel bei |
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** [[Einstellung des Strafverfahrens (Deutschland)|Einstellung]] nach {{§|153a|stpo|juris|text=§ 153a Abs. 1 Nr. 5 StPO}} mit Auflagenerfüllung; |
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** erfolgloser [[Klageerzwingungsverfahren|Klageerzwingung]]; |
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** Ablehnungsbeschluss bezüglich Verfahrenseröffnung ({{§|211|stpo|juris|text=§ 211 StPO}}); |
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** Erlassablehnung eines [[Strafbefehlsverfahren (Deutschland)|Strafbefehls]] durch den Richter ({{§|408|stpo|juris|text=§ 408 Abs. 2 StPO}}); |
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** Absehen von Verfolgung ({{§|153|stpo|juris|text=§ 153 Abs. 1 StPO}}); |
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** Einstellung nach {{§|153|stpo|juris|text=§ 153 Abs. 2 StPO}}; |
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** Einstellung nach {{§|154|stpo|juris|text=§ 154 Abs. 1 StPO}} (die zwar keinen Strafklageverbrauch im eigentlichen Sinne begründet, aber nach umfänglichen Ermittlungen mit vergleichbarer Wirkung ein Vertrauen in den Verfahrensabschluss schafft, das nicht ohne sachlichen Grund enttäuscht werden darf).<ref>{{Internetquelle |url=https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2022/05/rk20220519_2bvr111021.html |titel=BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 2022 – 2 BvR 1110/21 |datum=2022-05-19 |abruf=2022-07-27}}</ref> |
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Nicht zu einem Strafklageverbrauch führen in der Regel ausländische Urteile außerhalb der [[Europäische Union|EU]], es sei denn, es bestehen internationale Abkommen der beteiligten Länder hierüber. |
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Ausnahmen vom {{lang|la|''ne-bis-in-idem''}}-Grundsatz sind nur in äußerst eng begrenzten Fällen möglich, sofern ein Verfahren [[Wiederaufnahme des Verfahrens|wiederaufgenommen]] wird. Dafür eröffnet die [[Strafprozessordnung (Deutschland)|Strafprozessordnung Deutschlands]] (StPO) – allem voran zum Nachteil des Angeklagten (weil auch nur solchenfalls ein Verstoß gegen den ''ne-bis-in-idem''-Grundsatz in Betracht kommt) – lediglich einen kurzen [[Enumerationsprinzip|enumerativen]] Katalog auf Grund von Verfahrensfehlern ({{§|362|StPO|dejure|text=§ 362 Nrn. 1–4 StPO}}). |
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{{Hauptartikel|Wiederaufnahme des Verfahrens #Gescheiterte Reform aus dem Jahr 2021}} |
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Zudem bestand seit 30. Dezember 2021 eine neue Gesetzeslage, welche für einige [[Enumerationsprinzip|abschließend]] aufgezählte [[Straftatbestand|Tatbestände]] eine Rechtskraftdurchbrechung ([[Wiederaufnahme des Verfahrens|Wiederaufnahme]]) ebenso zuungunsten des Freigesprochenen bei neuen Beweisen ermöglichte, vgl. {{§|362|StPO|dejure|text=§ 362 Nr. 5 StPO}}<ref>{{Internetquelle |autor=Thomas Fischer |url=https://www.lto.de/recht/feuilleton/f/wiederaufnahme-eine-frage-an-fischer-bverfg-unertraeglich/ |titel=Ist die Wiederaufnahme trotz Freispruch verfassungsgemäß? |werk=LTO.de |datum=2022-08-06 |abruf=2022-08-07}}</ref> (siehe den Fall ''[[Frederike von Möhlmann]]''). Diese Änderung der Strafprozessordnung wurde vom [[Bundesverfassungsgericht]] am 31. Oktober 2023 für verfassungswidrig und damit nichtig erklärt.<ref>BVerfG, Urteil vom 31. Oktober 2023, Az. {{Rspr|2 BvR 900/22}}.</ref><ref>[https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2023/bvg23-094.html ''Die gesetzliche Regelung zur Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Freigesprochenen in § 362 Nr. 5 StPO ist verfassungswidrig''], Pressemitteilung Nr. 94/2023 vom 31. Oktober 2023.</ref><ref>[https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/bundesverfassungsgericht-wiederaufnahme-strafverfahren-100.html Bundesverfassungsgericht - Richter kippen Reform der Strafprozessordnung] in www.tagesschau.de vom 31. Oktober 2023</ref> |
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== Regelungen im europäischen Strafrecht == |
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Innerhalb des europäischen Strafrechts ist der Grundsatz des ''ne bis in idem'' in verschiedenen zwischenstaatlichen Übereinkommen normiert. Die wichtigste Regelung findet sich mittlerweile in Artikel 54 des [[Schengener Abkommen|Schengener Durchführungsübereinkommens]] (SDÜ). Allerdings ist Deutschland gemäß Art. 55 SDÜ in Verbindung mit einer entsprechenden Erklärung bei der Ratifikation an Art. 54 SDÜ nicht gebunden, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde liegt, ganz oder teilweise im Inland begangen worden ist. |
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Ebenso findet sich der Grundsatz in Artikel 4 des 7. Zusatzprotokolls zur [[Europäische Menschenrechtskonvention|EMRK]] und in Art. 50 der [[Charta der Grundrechte der Europäischen Union|Europäischen Grundrechtecharta]]. Darüber hinaus ist der {{lang|la|''ne-bis-in-idem''}}-Grundsatz in ständiger Rechtsprechung des [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] auch als allgemeiner ungeschriebener [[Rechtsgrundsatz]] des [[Gemeinschaftsrecht]]s anerkannt. |
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== Regelungen im US-Strafrecht == |
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Im US-Strafrecht kann niemand, der von einer Jury von zwölf Geschworenen freigesprochen worden ist, für ein und dieselbe Straftat in derselben Gerichtsbarkeit erneut angeklagt werden. Die Staatsanwaltschaft hat bei einem [[Freispruch]] keine Revisionsmöglichkeiten, selbst wenn der Freigesprochene die Tat danach offen zugibt. Allerdings darf unabhängig von einem Prozess auf [[Bundesstaat der Vereinigten Staaten|Bundesstaats-]], das heißt [[Gliedstaat|Einzelstaatsebene]] (''state'') auch die [[Bundesregierung (Vereinigte Staaten)|Bundesregierung]] (''federal government'') Anklage erheben. |
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== Regelungen im britischen Strafrecht == |
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Die vorstehende Regelung ''rule against double jeopardy'' („Gesetz gegen doppelte Gefährdung“) galt allgemein im anglo-amerikanischen Strafrecht. Das angelsächsische Strafrecht hatte jahrhundertelang die Rechtskraft eines ergangenen Urteils über die materielle Gerechtigkeit gestellt und gemeint, dass selbst bei erwiesener Täterschaft durch Sachbeweis oder sogar Geständnis kein neues Verfahren durchgeführt werden dürfe. Eine zweite Strafanklage war daher unzulässig, wenn sie Delikte zur Aburteilung bringen wollte, die mit den bereits zuvor verhandelten Straftaten in allen rechtlichen und tatsächlichen Elementen identisch oder deren Unrechtselemente darin zumindest mit enthalten waren, denn dann hätten diese Delikte bereits zuvor mit abgeurteilt werden können (''per verdict of guilty of a lesser offence''). Das führte dann dazu, dass in einem spektakulären Prozess mangels Beweises fälschlich freigesprochene Täter ihre Geschichte für viel Geld an große Zeitungen verkauften, ohne ein erneutes Strafverfahren befürchten zu müssen: Reich und berühmt durch Fehlurteil, das ging im Laufe der Zeit gegen das gewandelte allgemeine [[Rechtsgefühl]]. Es wurde mit der Zeit insbesondere im Fall [[Brian Donald Hume]] als so empörend empfunden, dass eine mehr der deutschen Regelung des {{§|362|stpo|juris}} StPO entsprechende Neuregelung 1996 auch in Großbritannien eingeführt und damit sukzessiv eine Durchbrechung der Rechtskraft zuungunsten des fälschlicherweise Freigesprochenen vorgenommen wurde. Zunächst wurden Rechtsmittelrechte der Staatsanwaltschaft eingeführt. 1996 und 2003 wurde die Möglichkeit der Wiederaufnahme zuungunsten eines rechtskräftig Freigesprochenen eingeführt, wenn der (Teil-)Freispruch auf gravierenden Verfahrensmanipulationen beruht (''„tainted acquittal exception“'') oder die Tat nachträglich durch neue „zwingende“ Belastungsbeweise nachweisbar geworden war (''„new and compelling evidence exception“''). Durch den „Criminal Justice Act 2003“ für England und Wales (und nur in einem geringeren Umfang auch für Schottland und Nordirland) ist nunmehr bei nachträglichem Geständnis ebenfalls eine Wiederaufnahme ''in malam partem'' möglich. Dahinter steht der Gedanke: Wenn ein Täter von sich aus gesteht, dann reiße er selbst den Vorhang, der die Tat verschleierte, weg und brauche nicht den Schutz des Doppelverfolgungsverbotes in derselben Sache. Jetzt ist es nicht mehr möglich, Justiz und Opfer durch ein nachträgliches Geständnis zu verhöhnen und damit auch noch Geld zu verdienen. So kam es 2006 im Fall R. v. Dunlop das erste Mal im Anschluss an ein glaubhaftes Geständnis zur Korrektur eines rechtskräftig ergangenen Freispruchs. |
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Hat ein rechtskräftig Verurteilter eine Strafe verbüßt, darf ihm ebenfalls nicht wieder der Prozess für ein und dieselbe Straftat gemacht werden. |
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== Literatur == |
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* {{Literatur |
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|Autor=[[Martin Böse]] |
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|Titel=Der Grundsatz »ne bis in idem« in der Europäischen Union (Art. 54 SDÜ) |
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|Sammelwerk=[[Goltdammer’s Archiv für Strafrecht]] (GA) |
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|Band=Band 150, 2. Teilband |
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|Datum=2003 |
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|ISSN=0017-1956 |
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|Seiten=744–763}} |
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* {{Literatur |
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|Autor=Ortlieb Fliedner |
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|Titel=Die verfassungsrechtlichen Grenzen mehrfacher staatlicher Bestrafungen aufgrund desselben Verhaltens – Ein Beitrag zur Auslegung des Art. 103 Abs. 3 GG |
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|Sammelwerk=[[Archiv des öffentlichen Rechts|AöR]] |
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|Band=99 |
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|Datum=1974 |
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|ISSN=0003-8911 |
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|Seiten=242 ff}} |
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* [[Klaus Ferdinand Gärditz]]: ''Ne bis in idem als Justizgrundrecht''. In: ''JURA – [[Juristische Ausbildung (Zeitschrift)|Juristische Ausbildung]]'', Band 45, Heft 3, 2023. S. 277–291. |
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* {{Literatur |
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|Autor=[[Max Kaser]], [[Karl Hackl (Rechtshistoriker)|Karl Hackl]] |
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|Titel=Das römische Zivilprozessrecht |
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|Auflage=2 |
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|Verlag=C.H. Beck |
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|Ort=München |
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|Datum=1996 |
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|ISBN=3-406-40490-1}} |
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* {{Literatur |
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|Autor=Roland M. Kniebühler |
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|Titel=Transnationales 'ne bis in idem' |
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|Verlag=Duncker & Humblot |
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|Ort=Berlin |
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|Datum=2005 |
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|ISBN=978-3-428-11900-4}} |
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* {{Literatur |
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|Autor=Tilman Reichling |
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|Titel=Europäische Dimensionen des ‚ne bis in idem‘-Grundsatzes – Auslegungsprobleme des Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens |
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|Sammelwerk=Studentische Zeitschrift für Rechtswissenschaft (StudZR) |
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|Datum=2006 |
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|Seiten=447–469, |
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|Online=https://studzr.de/medien/beitraege/2006/3/pdf/StudZR_2006-3_Reichling_europ_Dimensionen_ne-bis-in-idem.pdf |
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|Format=PDF |
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|KBytes=}} |
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== Weblinks == |
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* [https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv021378.html BVerfGE 21, 378] – Beschluss vom 2. Mai 1967 zum Verhältnis von Disziplinarstrafen zu Kriminalstrafen |
|||
* [https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/eugh/04/c-436-04.php EuGH C-436/04 – Urteil der Zweiten Kammer vom 9. März 2006 (van Esbroeck)] – Art. 54 SDÜ; Staatenübergreifendes Verbot der Doppelbestrafung wegen „derselben Tat“ |
|||
* Martin Böse: [https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/12-01/index.php?sz=6 ''Der Grundsatz „ne bis in idem“ und der Europäische Haftbefehl: europäischer ordre public vs. gegenseitige Anerkennung''] |
|||
* [[Nina Nestler]]: [https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/13-09/index.php?sz=7 ''Das Ende des Vollstreckungselements im (teil-)europäischen Doppelbestrafungsverbot?''] |
|||
* Frank Meyer: [https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/14-07/index.php?sz=6 ''Transnationaler ne-bis-in-idem-Schutz nach der GRC Zum Fortbestand des Vollstreckungselements aus Sicht des EuGH''] |
|||
* Christoph Burchard: [https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/15-01/index.php?sz=7 ''„Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ – und als einziger! – Zuständigkeitskonzentrationen durch das europäische ne bis in idem bei beschränkt rechtskräftigen Entscheidungen''] |
|||
* [https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/bverfg/02/2-bvr-2001-02.php BVerfG 2 BvR 2001/02 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 3. September 2004 (OLG Frankfurt/Main/LG Kassel)] – Verbot doppelter Strafverfolgung |
|||
* [https://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk20071204_2bvr003806.html BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), Nichtannahmebeschluss vom 4. Dezember 2007, 2 BvR 38/06] – kein zwischenstaatliches Doppelbestrafungsverbot |
|||
* Ole-Steffen Lucke: [https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/14-10/index.php?sz=10 ''Das Verbot paralleler strafrechtlicher Ermittlungsverfahren bzw. die (zeitlich begrenzte) Sperrwirkung der Einleitungsentscheidung''] |
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== Einzelnachweise == |
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<references /> |
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{{Rechtshinweis}} |
{{Rechtshinweis}} |
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{{Normdaten|TYP=s|GND=4130616-8|LCCN=sh85039181|NDL=00564319|REMARK=Ansetzungsform GND: „Strafklageverbrauch“.}} |
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[[Kategorie:Allgemeine Strafrechtslehre]] |
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[[Kategorie:Strafverfahrensrecht]] |
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[[Kategorie:Strafprozessrecht]] |
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[[en: double jeopardy]] |
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[[Kategorie:Lateinische Phrase]] |
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[[Kategorie:Rechtsregel]] |
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[[Kategorie:Rechtsstaat]] |
Aktuelle Version vom 2. November 2023, 21:28 Uhr
Ne bis in idem ‚nicht zweimal in derselben Sache‘, oder bis de eadem re ne sit actio ‚zweimal sei zur selben Sache keine Verhandlung‘, ist die lateinische Formulierung eines Rechtsgrundsatzes des Römischen Rechts,[1] dessen Kerngedanke schon beim athenischen Redner Demosthenes (* 384 v. Chr.; † 322 v. Chr.) in seiner Einrede gegen Nausimachos und Xenopeithes (Παραγραφή προς Ναυσίμαχον και Ξενοπείθην) nachzuweisen ist (D. 38,4 [985]): Ὅτι δ᾽ οὐκ ἐῶσιν οἱ νόμοι περὶ τῶν οὕτω πραχθέντων αὖθις δικάζεσθαι, νομίζω μὲν ἅπαντας ὑμᾶς εἰδέναι (Dass die Gesetze es nicht zulassen, über das, was so ausgehandelt worden ist, erneut gerichtlich zu urteilen, wisst ihr, glaube ich, alle.)[2].
Der Rechtsgrundsatz beschreibt einen Teilaspekt der materiellen Rechtskraft: Ein mit Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbares Urteil klärt einen bestimmten Sachverhalt im Umfang des Tenors abschließend. Der Sachverhalt darf dann grundsätzlich nicht mehr zum Gegenstand einer neuen richterlichen Entscheidung gegen den Betroffenen gemacht werden. Mit dieser Bedeutung als Wiederholungsverbot gilt er in allen Rechtsbereichen. Viele Staaten haben unter Vorrangstellung der materiellen Gerechtigkeit gegenüber der formellen unter bestimmten Voraussetzungen – zum Beispiel bei nachträglichem Geständnis des Täters – Einschränkungen dieses Grundsatzes vorgenommen. In Indien und Mexiko ist der Grundsatz bislang uneingeschränkt gültig, da er verfassungsrechtlich abgesichert ist.
Im Strafrecht ist ne bis in idem als Verbot der Doppelbestrafung (genauer: Verbot der Mehrfachbestrafung) ein fundamentaler Grundsatz eines jeden fairen Strafprozesses. Er findet sich in unterschiedlichen Gestaltungen in allen modernen (Straf-)Rechtsordnungen wieder.
Das Verbot der Doppelbestrafung stellt für den Einzelnen ein subjektiv-öffentliches Recht dar. Die Terminologie ist nicht immer einheitlich, überwiegend wird vom ne bis in idem als Grundrecht oder in Deutschland jedenfalls grundrechtsgleichem Recht (Justizgrundrecht) gesprochen, geregelt in Art. 103 Abs. 3 GG. Wegen der Bedeutung für das rechtsstaatliche Strafverfahren ist auch der Begriff des Justiz- oder Prozessgrundrechts gebräuchlich.
Regelungen in Deutschland
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Obwohl der Grundsatz in Deutschland in allen Rechtsbereichen gilt,[3] wird er überwiegend im straf- und ordnungsrechtlichen Kontext verwendet. Er hat durch die Regelung in Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz Verfassungsrang.
Das Institut des Strafklageverbrauchs steht aufgrund seines Verfassungsrangs typischerweise im Spannungsfeld konkurrierender Verfahrensziele. Einerseits soll die materielle Richtigkeit eines Urteils gewährleistet sein, andererseits sollen Rechtskraft und Rechtssicherheit (Verfahrensabschluss) geboten sein. Dazu wird der Sachverhalt im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes umfassend ermittelt, dies aber über die funktional völlig unterschiedenen Organe der Rechtspflege (Staatsanwaltschaft und Gericht). Gleichzeitig aber soll der Verfahrensstoff eng begrenzt sein, damit der Angeklagte auch geschützt werden kann.
Für den Bereich des Strafrechts gilt demnach, dass eine angeklagte prozessuale Tat durch ein rechtskräftiges Urteil grundsätzlich endgültig rechtlich bewertet ist. Der Tatvorwurf (das heißt der der Anklage zugrundeliegende Sachverhalt) ist damit für weitere Prozesse nicht mehr verwertbar – es liegt insofern ein Strafklageverbrauch vor. So kann ein Täter, der rechtskräftig wegen eines Totschlags verurteilt wurde, nicht nach Abschluss des Verfahrens noch einmal wegen Mordes an derselben Person verurteilt werden, wenn die Mordmerkmale erst später festgestellt werden. Der Grundsatz gilt allerdings immer nur in Bezug auf eine konkrete Tat. Er bedeutet nicht, dass beispielsweise ein Bankräuber nicht verurteilt werden kann, wenn er dieselbe Bank später ein weiteres Mal überfällt, oder dass ein wegen einer Tat unschuldig Verurteilter einen „Freischuss“ bekommt, die Tat dann nachträglich zu begehen. Dies wäre dann eine andere Tat – nicht die, für die er verurteilt wurde.
Im Ordnungswidrigkeitenrecht ist der Bußgeldbescheid ein Verfolgungshindernis für ein erneutes Ordnungswidrigkeitenverfahren für dieselbe Tat, siehe § 84 Abs. 1 OWiG (nicht aber für ein Strafverfahren). Ist im Ordnungswidrigkeitenverfahren allerdings ein bereits rechtskräftiges Urteil ergangen, steht dieses auch der strafrechtlichen Verfolgung entgegen, siehe § 84 Abs. 2 OWiG.
Der Grundsatz ne bis in idem reicht aber nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts über ein bloßes Verbot der Doppelbestrafung hinaus. Es schließt grundsätzlich insbesondere eine erneute Strafverfolgung derselben Tat auch bei erfolgtem Freispruch aus, denn der Betroffene soll durch diesen auch vor den existentiellen Unsicherheiten eines zweiten Strafverfahrens in derselben Sache geschützt werden.[4][5]
Das Nichtvorliegen eines Strafklageverbrauchs – insoweit als Negativmerkmal – im Sinne von Art. 103 Abs. 3 GG (ne bis in idem) hingegen stellt demnach eine elementare Verfahrensvoraussetzung mit materiellem Einschlag (Abstellen auf den Aspekt der prozessualen Tat) dar, wonach eine abgeurteilte Tathandlung eben prinzipiell – wenn das Urteil formell ordentlich zustande gekommen ist – ein für alle Mal Schluss sein lässt („Rechtsfrieden“).
Zu unterscheiden ist zwischen:
- unbeschränktem Strafklageverbrauch zum Beispiel durch
- Sachurteil über dieselbe prozessuale Tat;
- Prozessurteil über dieselbe prozessuale Tat (§ 260 Abs. 3 StPO), falls darin von einem unbehebbaren Verfahrenshindernis ausgegangen wird;
und
- beschränktem Strafklageverbrauch zum Beispiel bei
- Einstellung nach § 153a Abs. 1 Nr. 5 StPO mit Auflagenerfüllung;
- erfolgloser Klageerzwingung;
- Ablehnungsbeschluss bezüglich Verfahrenseröffnung (§ 211 StPO);
- Erlassablehnung eines Strafbefehls durch den Richter (§ 408 Abs. 2 StPO);
- Absehen von Verfolgung (§ 153 Abs. 1 StPO);
- Einstellung nach § 153 Abs. 2 StPO;
- Einstellung nach § 154 Abs. 1 StPO (die zwar keinen Strafklageverbrauch im eigentlichen Sinne begründet, aber nach umfänglichen Ermittlungen mit vergleichbarer Wirkung ein Vertrauen in den Verfahrensabschluss schafft, das nicht ohne sachlichen Grund enttäuscht werden darf).[6]
Nicht zu einem Strafklageverbrauch führen in der Regel ausländische Urteile außerhalb der EU, es sei denn, es bestehen internationale Abkommen der beteiligten Länder hierüber.
Ausnahmen vom ne-bis-in-idem-Grundsatz sind nur in äußerst eng begrenzten Fällen möglich, sofern ein Verfahren wiederaufgenommen wird. Dafür eröffnet die Strafprozessordnung Deutschlands (StPO) – allem voran zum Nachteil des Angeklagten (weil auch nur solchenfalls ein Verstoß gegen den ne-bis-in-idem-Grundsatz in Betracht kommt) – lediglich einen kurzen enumerativen Katalog auf Grund von Verfahrensfehlern (§ 362 Nrn. 1–4 StPO).
Zudem bestand seit 30. Dezember 2021 eine neue Gesetzeslage, welche für einige abschließend aufgezählte Tatbestände eine Rechtskraftdurchbrechung (Wiederaufnahme) ebenso zuungunsten des Freigesprochenen bei neuen Beweisen ermöglichte, vgl. § 362 Nr. 5 StPO[7] (siehe den Fall Frederike von Möhlmann). Diese Änderung der Strafprozessordnung wurde vom Bundesverfassungsgericht am 31. Oktober 2023 für verfassungswidrig und damit nichtig erklärt.[8][9][10]
Regelungen im europäischen Strafrecht
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Innerhalb des europäischen Strafrechts ist der Grundsatz des ne bis in idem in verschiedenen zwischenstaatlichen Übereinkommen normiert. Die wichtigste Regelung findet sich mittlerweile in Artikel 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ). Allerdings ist Deutschland gemäß Art. 55 SDÜ in Verbindung mit einer entsprechenden Erklärung bei der Ratifikation an Art. 54 SDÜ nicht gebunden, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde liegt, ganz oder teilweise im Inland begangen worden ist.
Ebenso findet sich der Grundsatz in Artikel 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK und in Art. 50 der Europäischen Grundrechtecharta. Darüber hinaus ist der ne-bis-in-idem-Grundsatz in ständiger Rechtsprechung des EuGH auch als allgemeiner ungeschriebener Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannt.
Regelungen im US-Strafrecht
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im US-Strafrecht kann niemand, der von einer Jury von zwölf Geschworenen freigesprochen worden ist, für ein und dieselbe Straftat in derselben Gerichtsbarkeit erneut angeklagt werden. Die Staatsanwaltschaft hat bei einem Freispruch keine Revisionsmöglichkeiten, selbst wenn der Freigesprochene die Tat danach offen zugibt. Allerdings darf unabhängig von einem Prozess auf Bundesstaats-, das heißt Einzelstaatsebene (state) auch die Bundesregierung (federal government) Anklage erheben.
Regelungen im britischen Strafrecht
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die vorstehende Regelung rule against double jeopardy („Gesetz gegen doppelte Gefährdung“) galt allgemein im anglo-amerikanischen Strafrecht. Das angelsächsische Strafrecht hatte jahrhundertelang die Rechtskraft eines ergangenen Urteils über die materielle Gerechtigkeit gestellt und gemeint, dass selbst bei erwiesener Täterschaft durch Sachbeweis oder sogar Geständnis kein neues Verfahren durchgeführt werden dürfe. Eine zweite Strafanklage war daher unzulässig, wenn sie Delikte zur Aburteilung bringen wollte, die mit den bereits zuvor verhandelten Straftaten in allen rechtlichen und tatsächlichen Elementen identisch oder deren Unrechtselemente darin zumindest mit enthalten waren, denn dann hätten diese Delikte bereits zuvor mit abgeurteilt werden können (per verdict of guilty of a lesser offence). Das führte dann dazu, dass in einem spektakulären Prozess mangels Beweises fälschlich freigesprochene Täter ihre Geschichte für viel Geld an große Zeitungen verkauften, ohne ein erneutes Strafverfahren befürchten zu müssen: Reich und berühmt durch Fehlurteil, das ging im Laufe der Zeit gegen das gewandelte allgemeine Rechtsgefühl. Es wurde mit der Zeit insbesondere im Fall Brian Donald Hume als so empörend empfunden, dass eine mehr der deutschen Regelung des § 362 StPO entsprechende Neuregelung 1996 auch in Großbritannien eingeführt und damit sukzessiv eine Durchbrechung der Rechtskraft zuungunsten des fälschlicherweise Freigesprochenen vorgenommen wurde. Zunächst wurden Rechtsmittelrechte der Staatsanwaltschaft eingeführt. 1996 und 2003 wurde die Möglichkeit der Wiederaufnahme zuungunsten eines rechtskräftig Freigesprochenen eingeführt, wenn der (Teil-)Freispruch auf gravierenden Verfahrensmanipulationen beruht („tainted acquittal exception“) oder die Tat nachträglich durch neue „zwingende“ Belastungsbeweise nachweisbar geworden war („new and compelling evidence exception“). Durch den „Criminal Justice Act 2003“ für England und Wales (und nur in einem geringeren Umfang auch für Schottland und Nordirland) ist nunmehr bei nachträglichem Geständnis ebenfalls eine Wiederaufnahme in malam partem möglich. Dahinter steht der Gedanke: Wenn ein Täter von sich aus gesteht, dann reiße er selbst den Vorhang, der die Tat verschleierte, weg und brauche nicht den Schutz des Doppelverfolgungsverbotes in derselben Sache. Jetzt ist es nicht mehr möglich, Justiz und Opfer durch ein nachträgliches Geständnis zu verhöhnen und damit auch noch Geld zu verdienen. So kam es 2006 im Fall R. v. Dunlop das erste Mal im Anschluss an ein glaubhaftes Geständnis zur Korrektur eines rechtskräftig ergangenen Freispruchs.
Hat ein rechtskräftig Verurteilter eine Strafe verbüßt, darf ihm ebenfalls nicht wieder der Prozess für ein und dieselbe Straftat gemacht werden.
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Martin Böse: Der Grundsatz »ne bis in idem« in der Europäischen Union (Art. 54 SDÜ). In: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht (GA). Band 150, 2. Teilband, 2003, ISSN 0017-1956, S. 744–763.
- Ortlieb Fliedner: Die verfassungsrechtlichen Grenzen mehrfacher staatlicher Bestrafungen aufgrund desselben Verhaltens – Ein Beitrag zur Auslegung des Art. 103 Abs. 3 GG. In: AöR. Band 99, 1974, ISSN 0003-8911, S. 242 ff.
- Klaus Ferdinand Gärditz: Ne bis in idem als Justizgrundrecht. In: JURA – Juristische Ausbildung, Band 45, Heft 3, 2023. S. 277–291.
- Max Kaser, Karl Hackl: Das römische Zivilprozessrecht. 2. Auflage. C.H. Beck, München 1996, ISBN 3-406-40490-1.
- Roland M. Kniebühler: Transnationales 'ne bis in idem'. Duncker & Humblot, Berlin 2005, ISBN 978-3-428-11900-4.
- Tilman Reichling: Europäische Dimensionen des ‚ne bis in idem‘-Grundsatzes – Auslegungsprobleme des Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens. In: Studentische Zeitschrift für Rechtswissenschaft (StudZR). 2006, S. 447–469, (studzr.de [PDF]).
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- BVerfGE 21, 378 – Beschluss vom 2. Mai 1967 zum Verhältnis von Disziplinarstrafen zu Kriminalstrafen
- EuGH C-436/04 – Urteil der Zweiten Kammer vom 9. März 2006 (van Esbroeck) – Art. 54 SDÜ; Staatenübergreifendes Verbot der Doppelbestrafung wegen „derselben Tat“
- Martin Böse: Der Grundsatz „ne bis in idem“ und der Europäische Haftbefehl: europäischer ordre public vs. gegenseitige Anerkennung
- Nina Nestler: Das Ende des Vollstreckungselements im (teil-)europäischen Doppelbestrafungsverbot?
- Frank Meyer: Transnationaler ne-bis-in-idem-Schutz nach der GRC Zum Fortbestand des Vollstreckungselements aus Sicht des EuGH
- Christoph Burchard: „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ – und als einziger! – Zuständigkeitskonzentrationen durch das europäische ne bis in idem bei beschränkt rechtskräftigen Entscheidungen
- BVerfG 2 BvR 2001/02 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 3. September 2004 (OLG Frankfurt/Main/LG Kassel) – Verbot doppelter Strafverfolgung
- BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), Nichtannahmebeschluss vom 4. Dezember 2007, 2 BvR 38/06 – kein zwischenstaatliches Doppelbestrafungsverbot
- Ole-Steffen Lucke: Das Verbot paralleler strafrechtlicher Ermittlungsverfahren bzw. die (zeitlich begrenzte) Sperrwirkung der Einleitungsentscheidung
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Araceli Turmo: Ne bis in idem in European Law: A Difficult Exercise in Constitutional Pluralism. (PDF) In: europeanpapers.eu. Abgerufen am 26. Januar 2023 (englisch).
- ↑ https://el.wikisource.org/wiki/Παραγραφή_προς_Ναυσίμακον_και_Ξενοπείθην#p4
- ↑ Vgl. zum deutschen Zivilverfahrensrecht z. B. BGHZ 93, 287
- ↑ BGH, Beschluss vom 9. Dezember 1953, Az. GS St 2/53, Rn. 18 ff.
- ↑ BVerfG, Urteil vom 31. Oktober 2023, Az. 2 BvR 900/22, Rn. 60–74.
- ↑ BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 2022 – 2 BvR 1110/21. 19. Mai 2022, abgerufen am 27. Juli 2022.
- ↑ Thomas Fischer: Ist die Wiederaufnahme trotz Freispruch verfassungsgemäß? In: LTO.de. 6. August 2022, abgerufen am 7. August 2022.
- ↑ BVerfG, Urteil vom 31. Oktober 2023, Az. 2 BvR 900/22.
- ↑ Die gesetzliche Regelung zur Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Freigesprochenen in § 362 Nr. 5 StPO ist verfassungswidrig, Pressemitteilung Nr. 94/2023 vom 31. Oktober 2023.
- ↑ Bundesverfassungsgericht - Richter kippen Reform der Strafprozessordnung in www.tagesschau.de vom 31. Oktober 2023