„Essay“ – Versionsunterschied
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''Dieser Artikel ist über eine Abhandlung in der Literatur. Für den gleichnamigen Fachbegriff in der Philatelie siehe [[Essay (Philatelie)]].'' |
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Ein '''Essay''', seltener: '''Essai''' (m., selten n.; über französisch ''essai'' von mittellateinisch ''exagium'', »Probe«, »Versuch«) ist eine kurze, geistreiche Abhandlung, in der ein Autor persönlich gehaltene Betrachtungen zu kulturellen oder gesellschaftlichen Phänomenen liefert. Während der Verfasser einer wissenschaftlichen Untersuchung sein Thema systematisch aufarbeiten und eine umfassende Darstellung liefern sollte, wird der Verfasser eines Essays durchblicken lassen, dass er sein Thema als eine Herausforderung für seine stilistischen und gedanklichen Fähigkeiten sieht. |
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Der oder das<ref name="duden">https://www.duden.de/rechtschreibung/Essay</ref> '''Essay''' (Plural: ''Essays''), auch ''Essai'' geschrieben, ist eine [[Abhandlung]], in der wissenschaftliche, kulturelle oder gesellschaftliche Themen betrachtet werden, und zwar in einer Form, die in der Hauptsache noch ein [[Sachtext]] ist, doch auch rhetorisch überzeugend und unterhaltsam sein will. Im Mittelpunkt steht oft die persönliche Auseinandersetzung des Autors mit einem Thema. Damit ist der Essay nicht auf formale Kriterien [[Wissenschaftliche Methodik|wissenschaftlicher Methodik]] angewiesen, sondern beruht auf den subjektiven Erfahrungen und Urteilen des '''Essayisten'''. |
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Den Essay als literarische Form oder [[Gattung]] verdanken wir dem französischen Autor [[Michel de Montaigne]] (1532–1592). Montaigne ging davon aus, dass er als Mensch nur subjektiv sein kann. Der [[Scholastik|scholastischen]] Abhandlung mit ihrem Absolutheitsanspruch stellte er seine Aufzeichnungen persönlicher Erfahrungen entgegen. Die katholische Kirche nahm an Montaignes Essays Anstoß und setzte sie auf den [[Indizierung|Index]]: das Bekenntnis zur [[Subjektivität]] und der [[Zweifel]] an der Existenz absoluter Wahrheit widersprachen der offiziellen Lehrmeinung. |
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Ähnliche Textarten sind das [[Traktat]], der Aufsatz und die [[Causerie]]; verwandte [[journalistische Darstellungsform]]en sind die [[Glosse (Journalismus)|Glosse]], die [[Kolumne]], der [[Kommentar (Journalismus)|journalistische Kommentar]] und der [[Leitartikel]]. Der [[Aphorismus]] ist eine Kurzform, die oft etwas Ähnliches wie der Essay anstrebt. |
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== Etymologie == |
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Einige weitere bekannte Autoren von Essays sind [[Gotthold Ephraim Lessing]], [[Anna Seghers|Netty Reiling (Anna Seghers)]], [[Johann Gottfried von Herder]], [[Schlegel]], [[Søren Kierkegaard]], [[Arthur Schopenhauer]], [[Friedrich Nietzsche]], [[Karl Marx]], [[Georg Christoph Lichtenberg]], [[Heinrich von Kleist]], [[André Gide]], [[Ralph Waldo Emerson]], [[Jean-Paul Sartre]], [[Albert Camus]], [[Hugo von Hofmannsthal]], [[Gottfried Benn]], [[Walter Benjamin]], [[Ernst Jünger]], [[Karl Kraus]], [[Upton Sinclair]], [[Miguel de Unamuno]], [[José Ortega y Gasset]], [[Theodor W. Adorno]], [[Brigitte Kronauer]], [[Simon Vestdijk]] und [[Eugen Gottlob Winkler]]. |
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Der französische Ausdruck ''essai'' stammt wie der italienische ''saggio'' und der spanische ''ensayo'' von dem selten belegten spätlateinischen Substantiv ''exagium'' („das Wägen“, „das Gewicht“) ab, das insbesondere „die Schrotproben, welche die Kaiser des 5. Jahrhunderts sich von jedem neuen Münzschlag vorlegen ließen, 1/6 einer Unze, = 1 [[Solidus]]“<ref>''Pierer's Universal-Lexikon.'' 4. Auflage. 1857–1865.</ref> bezeichnet und von dem häufig belegten Verb ''exigere'' (u. a. „prüfen“, „untersuchen“, „beurteilen“, „abwiegen“, „erwägen“) abgeleitet ist. |
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== Entstehung == |
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Der Essay war auch die bevorzugte literarische Form der Moralisten und [[Aufklärung|Aufklärer]]. Die Enzyklopädisten adaptierten die ursprünglich literarisch-philosophische Form zu einem wissenschaftlichen Stil. Im Gegensatz zum [[Traktat]] oder zur wissenschaftlichen Abhandlung verzichtet ein Essay auf objektive Nachweise und definitive Antworten. |
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[[Datei:Montaigne-Dumonstier.jpg|mini|hochkant|Michel de Montaigne]] |
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[[Datei:Francis Bacon.jpg|mini|hochkant|Francis Bacon]] |
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Der Essay als literarische Form oder [[Gattung (Literatur)|Gattung]] geht zurück auf den französischen Autor [[Michel de Montaigne]] (1533–1592). Montaigne entwickelte den Essay aus den [[Adagia]] des [[Erasmus von Rotterdam]]. Was bei diesem noch eine Sammlung von Sprüchen, [[Aphorismus|Aphorismen]] und Weisheiten ist, versieht Montaigne nun mit Kommentaren und Kritik. Dabei stellt er, aus einer skeptischen Grundhaltung heraus, seine Erfahrungen und Abwägungen dem [[Scholastik|scholastischen]] Absolutheitsanspruch entgegen. |
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Montaigne tritt als ein Fragender auf, der nach Antworten sucht, doch manche Frage offen lässt. Ein guter Essay kann Fragen aufwerfen und neu stellen oder eine andere Sicht auf eine Problematik eröffnen. Erkenntnisse und Folgerungen werden oft nur so weit ausgeführt, dass der Leser sie assoziierend selbst erschließen kann, nicht als eine [[Dogma|dogmatische]] Lehrmeinung. |
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Montaignes Bekenntnis zur [[Subjektivität]] und sein [[Zweifel]] an der Existenz absoluter [[Wahrheit]] widersprachen der damaligen offiziellen Lehrmeinung des [[Heiliger Stuhl|Vatikans]]. Der Vatikan veröffentlichte 1559 erstmals einen [[Index Librorum Prohibitorum]]; Montaignes Essays (''Les essais'') wurden 1676 (also 84 Jahre nach seinem Tod) auf den Index gesetzt.<ref>[https://sourcebooks.fordham.edu/mod/indexlibrorum.asp Internet Modern History Sourcebook]</ref> |
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Ein Essay ist demzufolge immer subjektiv und bekennt sich auch dazu. Er zeichnet sich aus durch eine gewisse Leichtigkeit, stilistische Ausgefeiltheit, Verständlichkeit und einen nicht zu unterschätzenden Unterhaltungswert. Ein Essay ist befreit von zu vielen [[Zitat]]en, Fußnoten und Randbemerkungen. Fallweise verkommt der Essay auch zu einer stilisierten, ästhetisierten Plauderei. |
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⚫ | Sein Nachfolger, der Engländer [[Francis Bacon]], erweiterte die Gattung des Essays in Richtung einer belehrenden, moralisierenden Form mit [[Deduktion|deduktiver]] Beweisführung; in der Folge pendelt der Essay zwischen diesen beiden Ausrichtungen. So wurde der Essay auch zu einer beliebten literarischen Form von [[Moralistik|Moralisten]] und [[Aufklärung|Aufklärern]]. |
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Die [[Enzyklopädist (Encyclopédie)|Enzyklopädisten]] adaptierten die ursprünglich literarisch-philosophische Form zu einem wissenschaftlichen Stil. Im Gegensatz zum [[Traktat]] oder zur wissenschaftlichen Abhandlung verzichtet ein Essay auf objektive Nachweise und definitive Antworten. Das schließt aber keine Parteinahme aus, wie etwa in [[Virginia Woolf]]s Essay „Ein eigenes Zimmer“, in dem sie für Frauenrechte eintrat, oder [[Jonathan Lethem]], der in „Bekenntnisse eines Tiefstaplers“ für einen großzügigen Umgang mit dem Kopieren von Ideen plädierte. |
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Das Thema des Essays soll von Anfang an ganz klar ersichtlich sein, es begleitet den Leser wie ein roter Faden ungekünstelt durch den ganzen Text. Jeder neue Begriff wird eingeführt und vorgestellt. Handlungen werden chronologisch erzählt und Zitate deutlich als solche gekennzeichnet. Auch ist der Umfang eines Essays eher knapp, das macht ihn übersichtlich und gut verständlich. |
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In seinem Text ''Lebenslauf III'' deutete [[Walter Benjamin]] seine Essays so: „Ihre Aufgabe ist es, den Integrationsprozess der Wissenschaft […] durch eine Analyse des Kunstwerks zu fördern, die in ihm einen integralen, nach keiner Seite gebietsmäßig einzuschränkenden Ausdruck der religiösen, metaphysischen, politischen, wirtschaftlichen Tendenzen einer Epoche erkennt.“ |
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''Siehe auch:'' [[Causerie]] |
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Ein Essay ist eine Abhandlung, die eine literarische oder wissenschaftliche Frage in knapper und anspruchsvoller Form behandelt.<ref name="duden" /> Viele Essays zeichnen sich durch eine gewisse Leichtigkeit, stilistische Ausgefeiltheit, Verständlichkeit und Humor aus. Jeder neue Begriff wird eingeführt und vorgestellt. Handlungen werden chronologisch erzählt und Zitate deutlich gekennzeichnet; meist ist er aber befreit von vielen [[Zitat]]en, Fußnoten und Randbemerkungen. Zuweilen ist es auch schlicht eine stilisierte, ästhetisierte Plauderei. |
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Während der Autor einer wissenschaftlichen [[Analyse]] gehalten ist, sein Thema [[system]]atisch und umfassend darzustellen, wird ein Essay eher [[Dialektik|dialektisch]] verfasst: mit Strenge in der [[Methodik]], nicht aber in der Systematik. Essays sind Denkversuche, [[Deutung]]en – unbefangen, oft zufällig scheinend. Damit ein Essay überzeugen kann, sollte er im Gedanken scharf, in der Form klar und im Stil „geschmeidig“ sein (Siehe auch [[Sprachebene]], [[Stilistik]], [[rhetorische Figur]]). |
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* [[Essay (China)]], eine Gattung der chinesischen Literatur |
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* [[Hans Peter Balmer]]: ''Aphoristik, Essayistik, Moralistik''. In: Hans Vilmar Geppert, Hubert Zapf (Hrsg.), ''Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven.'' Bd. III, A. Francke, Tübingen 2007, S. 191–211. |
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[[ia:Essayo]] |
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* [[Max Bense]]: ''Über den Essay und seine Rede.'' In: Merkur 1, 1947, S. 414–424. |
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[[ja:随筆]] |
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* Bruno Berger: ''Der Essay. Form und Geschichte.'' Bern 1964. |
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[[nl:Essay]] |
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* Andreas Beyer: ''Lichtbild und Essay. Kunstgeschichte als Versuch''. In: Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann (Hrsg.): ''Essayismus um 1900.'' Universitätsverlag GmbH Winter, Heidelberg 2006, S. 37–48, ISBN 3-8253-5125-4. |
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[[pl:Esej]] |
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* [[Erwin Chargaff]]: ''Alphabetische Anschläge.'' Stuttgart 1989, darin: ''Versuch mit oft unzulänglichen Mitteln'', S. 223–230. |
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[[zh:杂文]] |
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* Michael Ewert: ''Vernunft, Gefühl und Phantasie, im schönsten Tanze vereint. Die Essayistik Georg Forsters.'' Königshausen & Neumann, Würzburg 1993, ISBN 3-88479-769-7. |
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* [[Petra Gehring]]: ''Der Essay – ein Verbindendes zwischen Philosophie und Literatur?'' In: [[Winfried Eckel]], Uwe Lindemann (Hrsg.): ''Text als Ereignis. Programme – Praktiken – Wirkungen.'' Berlin 2017, S. 157–175. |
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* Gerhard Haas: ''Essay.'' Stuttgart 1969. |
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* [[Osborne Bennett Hardison]], Jr.: ''Binding Proteus. An Essay on the Essay.'' In: The Sewanee Review 96.4, 1988, S. 610–632. Nachdruck in: Alexander J. Butrym (Hrsg.): ''Essays on the Essay: Redefining the Genre.'' The University of Georgia Press, Athens / London 1989, S. 11–28. |
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* Ludwig Rohner: ''Der deutsche Essay. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung.'' Luchterhand, Neuwied / Berlin 1966. |
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* [[Michael Rutschky]]: ''Wir Essayisten. Eine Selbstkritik.'' In: Ders.: ''Reise durch das Ungeschick. Und andere Meisterstücke.'' Haffmans, Zürich 1990, S. 199–220. |
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* Reto Rössler: ''Vom Versuch – Experiment und Essay. Bauteile zur Zirkulationsgeschichte einer impliziten Gattung der Aufklärung.'' Kulturverlag Kadmos, Berlin 2017, ISBN 978-3-86599-332-8 [= Studie des DFG-Projekts „Versuch“ und „Experiment“. Konzepte des Experimentierens zwischen Naturwissenschaft und Literatur (1700–1960) der Universität Innsbruck]. |
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* Michael Rutschky: ''Stichwort Essay: Unterscheidungen ignorieren.'' In: Hugo Dittberner (Hrsg.), ''Kunst ist Übertreibung. Wolfenbütteler Lehrstücke zum Zweiten Buch I.'' Wallstein, Göttingen 2003, S. 228–237. |
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* [[Christian Schärf]]: ''Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno.'' Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999, [https://digi20.digitale-sammlungen.de//de/fs1/object/display/bsb00049198_00001.html?prox=true&subjectSWD=%7BGeschichte%7D&context=&ngram=true&hl=scan&mode=simple (online)]. |
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* Friedhelm Schmidt-Welle: ''Von der Identität zur Diversität. Mexikanische Essayistik im 20. Jahrhundert.'' In: [[Walther L. Bernecker]] u. a. (Hrsg.): ''Mexiko heute.'' Vervuert, Frankfurt am Main 2004, S. 759–786. |
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* Peter M. Schon: ''Vorformen des Essays in Antike und Humanismus. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der ''Essais'' von Montaigne.'' Franz Steiner Verlag, Wiesbaden 1954 (Mainzer Romanistische Arbeiten, Bd. 1). |
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* Aurel Sieber: ''Epistemiken des Essayistischen.'' transcript Verlag, Bielefeld 2023, ISBN 978-3-8376-6591-8. |
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* [[Georg Stanitzek]]: ''Essay – BRD.'' Vorwerk 8, Berlin 2011. |
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* [[Andreas Martin Widmann]]: [https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-form-der-stunde ''Die Form der Stunde'']. In: Der Freitag, 26. Januar 2012, S. 15. |
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* [[Adam Zagajewski]] im Gespräch mit [[Basil Kerski]] und [[Sebastian Kleinschmidt]]: [https://sinn-und-form.de/?kat_id=18&titel_id=5650&tabelle=leseprobe ''Der Essay als Raum freien Denkens'']. In: ''[[Sinn und Form]]'' 4/2013, S. 508–518. |
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* [[Peter V. Zima]]: ''Essay / Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays. Von Montagne bis zur Postmoderne.'' Königshausen & Neumann, Würzburg 2012, ISBN 978-3-8260-4727-5. |
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== Weblinks == |
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== Einzelnachweise == |
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[[Kategorie:Michel de Montaigne]] |
Aktuelle Version vom 27. Januar 2025, 22:13 Uhr
Der oder das[1] Essay (Plural: Essays), auch Essai geschrieben, ist eine Abhandlung, in der wissenschaftliche, kulturelle oder gesellschaftliche Themen betrachtet werden, und zwar in einer Form, die in der Hauptsache noch ein Sachtext ist, doch auch rhetorisch überzeugend und unterhaltsam sein will. Im Mittelpunkt steht oft die persönliche Auseinandersetzung des Autors mit einem Thema. Damit ist der Essay nicht auf formale Kriterien wissenschaftlicher Methodik angewiesen, sondern beruht auf den subjektiven Erfahrungen und Urteilen des Essayisten.
Ähnliche Textarten sind das Traktat, der Aufsatz und die Causerie; verwandte journalistische Darstellungsformen sind die Glosse, die Kolumne, der journalistische Kommentar und der Leitartikel. Der Aphorismus ist eine Kurzform, die oft etwas Ähnliches wie der Essay anstrebt.
Etymologie
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der französische Ausdruck essai stammt wie der italienische saggio und der spanische ensayo von dem selten belegten spätlateinischen Substantiv exagium („das Wägen“, „das Gewicht“) ab, das insbesondere „die Schrotproben, welche die Kaiser des 5. Jahrhunderts sich von jedem neuen Münzschlag vorlegen ließen, 1/6 einer Unze, = 1 Solidus“[2] bezeichnet und von dem häufig belegten Verb exigere (u. a. „prüfen“, „untersuchen“, „beurteilen“, „abwiegen“, „erwägen“) abgeleitet ist.
Entstehung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Essay als literarische Form oder Gattung geht zurück auf den französischen Autor Michel de Montaigne (1533–1592). Montaigne entwickelte den Essay aus den Adagia des Erasmus von Rotterdam. Was bei diesem noch eine Sammlung von Sprüchen, Aphorismen und Weisheiten ist, versieht Montaigne nun mit Kommentaren und Kritik. Dabei stellt er, aus einer skeptischen Grundhaltung heraus, seine Erfahrungen und Abwägungen dem scholastischen Absolutheitsanspruch entgegen.
Montaigne tritt als ein Fragender auf, der nach Antworten sucht, doch manche Frage offen lässt. Ein guter Essay kann Fragen aufwerfen und neu stellen oder eine andere Sicht auf eine Problematik eröffnen. Erkenntnisse und Folgerungen werden oft nur so weit ausgeführt, dass der Leser sie assoziierend selbst erschließen kann, nicht als eine dogmatische Lehrmeinung.
Montaignes Bekenntnis zur Subjektivität und sein Zweifel an der Existenz absoluter Wahrheit widersprachen der damaligen offiziellen Lehrmeinung des Vatikans. Der Vatikan veröffentlichte 1559 erstmals einen Index Librorum Prohibitorum; Montaignes Essays (Les essais) wurden 1676 (also 84 Jahre nach seinem Tod) auf den Index gesetzt.[3]
Sein Nachfolger, der Engländer Francis Bacon, erweiterte die Gattung des Essays in Richtung einer belehrenden, moralisierenden Form mit deduktiver Beweisführung; in der Folge pendelt der Essay zwischen diesen beiden Ausrichtungen. So wurde der Essay auch zu einer beliebten literarischen Form von Moralisten und Aufklärern.
Die Enzyklopädisten adaptierten die ursprünglich literarisch-philosophische Form zu einem wissenschaftlichen Stil. Im Gegensatz zum Traktat oder zur wissenschaftlichen Abhandlung verzichtet ein Essay auf objektive Nachweise und definitive Antworten. Das schließt aber keine Parteinahme aus, wie etwa in Virginia Woolfs Essay „Ein eigenes Zimmer“, in dem sie für Frauenrechte eintrat, oder Jonathan Lethem, der in „Bekenntnisse eines Tiefstaplers“ für einen großzügigen Umgang mit dem Kopieren von Ideen plädierte.
In seinem Text Lebenslauf III deutete Walter Benjamin seine Essays so: „Ihre Aufgabe ist es, den Integrationsprozess der Wissenschaft […] durch eine Analyse des Kunstwerks zu fördern, die in ihm einen integralen, nach keiner Seite gebietsmäßig einzuschränkenden Ausdruck der religiösen, metaphysischen, politischen, wirtschaftlichen Tendenzen einer Epoche erkennt.“
Form
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die essayistische Methode ist eine experimentelle Art, sich dem Gegenstand der Überlegungen zu nähern und ihn aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Das Wichtigste ist jedoch nicht der Gegenstand der Überlegungen, sondern das Entwickeln der Gedanken vor den Augen des Lesers.
Ein Essay ist eine Abhandlung, die eine literarische oder wissenschaftliche Frage in knapper und anspruchsvoller Form behandelt.[1] Viele Essays zeichnen sich durch eine gewisse Leichtigkeit, stilistische Ausgefeiltheit, Verständlichkeit und Humor aus. Jeder neue Begriff wird eingeführt und vorgestellt. Handlungen werden chronologisch erzählt und Zitate deutlich gekennzeichnet; meist ist er aber befreit von vielen Zitaten, Fußnoten und Randbemerkungen. Zuweilen ist es auch schlicht eine stilisierte, ästhetisierte Plauderei.
Während der Autor einer wissenschaftlichen Analyse gehalten ist, sein Thema systematisch und umfassend darzustellen, wird ein Essay eher dialektisch verfasst: mit Strenge in der Methodik, nicht aber in der Systematik. Essays sind Denkversuche, Deutungen – unbefangen, oft zufällig scheinend. Damit ein Essay überzeugen kann, sollte er im Gedanken scharf, in der Form klar und im Stil „geschmeidig“ sein (Siehe auch Sprachebene, Stilistik, rhetorische Figur).
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Diatribe
- Essay (China), eine Gattung der chinesischen Literatur
- Essayfilm
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Theodor W. Adorno: Der Essay als Form. In: Ders.: Noten zur Literatur. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1988 (zuerst 1958), S. 9–49.
- Hans Peter Balmer: Aphoristik, Essayistik, Moralistik. In: Hans Vilmar Geppert, Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. III, A. Francke, Tübingen 2007, S. 191–211.
- Max Bense: Über den Essay und seine Rede. In: Merkur 1, 1947, S. 414–424.
- Bruno Berger: Der Essay. Form und Geschichte. Bern 1964.
- Andreas Beyer: Lichtbild und Essay. Kunstgeschichte als Versuch. In: Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann (Hrsg.): Essayismus um 1900. Universitätsverlag GmbH Winter, Heidelberg 2006, S. 37–48, ISBN 3-8253-5125-4.
- Erwin Chargaff: Alphabetische Anschläge. Stuttgart 1989, darin: Versuch mit oft unzulänglichen Mitteln, S. 223–230.
- Michael Ewert: Vernunft, Gefühl und Phantasie, im schönsten Tanze vereint. Die Essayistik Georg Forsters. Königshausen & Neumann, Würzburg 1993, ISBN 3-88479-769-7.
- Petra Gehring: Der Essay – ein Verbindendes zwischen Philosophie und Literatur? In: Winfried Eckel, Uwe Lindemann (Hrsg.): Text als Ereignis. Programme – Praktiken – Wirkungen. Berlin 2017, S. 157–175.
- Gerhard Haas: Essay. Stuttgart 1969.
- Osborne Bennett Hardison, Jr.: Binding Proteus. An Essay on the Essay. In: The Sewanee Review 96.4, 1988, S. 610–632. Nachdruck in: Alexander J. Butrym (Hrsg.): Essays on the Essay: Redefining the Genre. The University of Georgia Press, Athens / London 1989, S. 11–28.
- Ludwig Rohner: Der deutsche Essay. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung. Luchterhand, Neuwied / Berlin 1966.
- Ludwig Rohner: Deutsche Essays. Prosa aus zwei Jahrhunderten in 6 Bänden. dtv, München 1982 DNB 540088889, ISBN 3-423-06013-1 (Band 1).
- Michael Rutschky: Wir Essayisten. Eine Selbstkritik. In: Ders.: Reise durch das Ungeschick. Und andere Meisterstücke. Haffmans, Zürich 1990, S. 199–220.
- Reto Rössler: Vom Versuch – Experiment und Essay. Bauteile zur Zirkulationsgeschichte einer impliziten Gattung der Aufklärung. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2017, ISBN 978-3-86599-332-8 [= Studie des DFG-Projekts „Versuch“ und „Experiment“. Konzepte des Experimentierens zwischen Naturwissenschaft und Literatur (1700–1960) der Universität Innsbruck].
- Michael Rutschky: Stichwort Essay: Unterscheidungen ignorieren. In: Hugo Dittberner (Hrsg.), Kunst ist Übertreibung. Wolfenbütteler Lehrstücke zum Zweiten Buch I. Wallstein, Göttingen 2003, S. 228–237.
- Christian Schärf: Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999, (online).
- Friedhelm Schmidt-Welle: Von der Identität zur Diversität. Mexikanische Essayistik im 20. Jahrhundert. In: Walther L. Bernecker u. a. (Hrsg.): Mexiko heute. Vervuert, Frankfurt am Main 2004, S. 759–786.
- Peter M. Schon: Vorformen des Essays in Antike und Humanismus. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Essais von Montaigne. Franz Steiner Verlag, Wiesbaden 1954 (Mainzer Romanistische Arbeiten, Bd. 1).
- Aurel Sieber: Epistemiken des Essayistischen. transcript Verlag, Bielefeld 2023, ISBN 978-3-8376-6591-8.
- Georg Stanitzek: Essay – BRD. Vorwerk 8, Berlin 2011.
- Klaus Weissenberger (Hrsg.): Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nichtfiktionalen Kunstprosa. Niemeyer, Tübingen 1985.
- Andreas Martin Widmann: Die Form der Stunde. In: Der Freitag, 26. Januar 2012, S. 15.
- Adam Zagajewski im Gespräch mit Basil Kerski und Sebastian Kleinschmidt: Der Essay als Raum freien Denkens. In: Sinn und Form 4/2013, S. 508–518.
- Peter V. Zima: Essay / Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays. Von Montagne bis zur Postmoderne. Königshausen & Neumann, Würzburg 2012, ISBN 978-3-8260-4727-5.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ a b https://www.duden.de/rechtschreibung/Essay
- ↑ Pierer's Universal-Lexikon. 4. Auflage. 1857–1865.
- ↑ Internet Modern History Sourcebook