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„Schelmenroman“ – Versionsunterschied

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Der '''Schelmenroman''' oder '''pikarischer/pikaresker Roman''' schildert aus der Perspektive seines Helden, wie sich dieser in einer Reihe von Abenteuern durchs Leben schlägt. Der Schelm stammt aus den unteren gesellschaftlichen Schichten, ist deshalb ungebildet aber "bauernschlau". Er hat keinen Einfluss auf die Geschehnisse um ihn herum, schafft es aber immer wieder, sich aus allen brenzligen Situationen herauszuretten.
Der '''Schelmenroman''' oder '''pikarischer/pikaresker Roman''' (aus dem [[Spanische Sprache|Spanischen]]: ''[[pícaro]]'' = [[Schelm]]), dessen Ursprung im 16. Jahrhundert in Spanien liegt, schildert aus der Perspektive seines Helden, wie sich dieser in einer Reihe von Abenteuern durchs Leben schlägt. Der Schelm stammt aus den unteren gesellschaftlichen Schichten,<ref name=":1">{{Literatur |Autor=J. A. Garrido Ardila |Titel=Introduction: Transnational Picaresque |Sammelwerk=[[Philological Quarterly]] |Band=89 |Nummer=1 |Datum=2010}}</ref> ist deshalb ungebildet, aber „[[Bauernschläue|bauernschlau]]“. In der Absicht, die soziale [[Stigmatisierung]] aufgrund seiner niederen Geburt zu überwinden, ist er ständig auf der Suche nach Aufstiegsmöglichkeiten und greift dabei nicht selten auf kriminelle Mittel zurück.<ref name=":1" /> Er durchläuft alle gesellschaftlichen Schichten und wird zu deren Spiegel. Der Held hat keinen Einfluss auf die Geschehnisse um ihn herum, schafft es aber immer wieder, sich aus allen brenzligen Situationen zu retten.


Traditionellerweise ist der Schelmenroman eine (fiktive) Autobiographie. Sie beginnt oft mit einer Desillusionierung des Helden, der die Schlechtigkeit der Welt erst hier erkennt. Er begibt sich, sei es freiwillig, sei es unfreiwillig, auf Reisen. Die dabei erlebten Abenteuer sind episodenhaft, d.h. sie hängen nicht voneinander ab und können beliebig erweitert werden, was bei Übersetzungen oft der Fall war. Das Ende ist meist eine "Bekehrung" des Schelms, nach der er zu einem geregelten Leben findet. Es besteht auch die Möglichkeit einer Flucht aus der Welt, also aus der Realität.
Traditionell ist der Schelmenroman eine (fingierte) [[Autobiographie]] mit satirischen Zügen, die bestimmte Missstände in der Gesellschaft thematisiert.<ref name=":1" /> Sie beginnt oft mit einer Desillusionierung des Helden, der die Schlechtigkeit der Welt erst hier erkennt. Er begibt sich, sei es freiwillig, sei es unfreiwillig, auf Reisen. Die dabei erlebten Abenteuer sind episodenhaft, d.&nbsp;h., sie hängen nicht voneinander ab und können beliebig erweitert werden, was bei Übersetzungen oft der Fall war. Das Ende ist meist eine „Bekehrung“ des Schelms, nach der er zu einem geregelten Leben findet. Es besteht auch die Möglichkeit einer Flucht aus der Welt, also aus der Realität.

== Zum Begriff des Picaro ==
{{Hauptartikel|Picaro}}
Das titelgebende Wort bedeutet so viel wie „gemeiner Kerl von üblem Lebenswandel“, kann aber auch für „Küchenjunge“ stehen.<ref name=":3">{{Literatur |Autor=Carolin Struwe |Titel=Episteme des Pikaresken. Modellierungen von Wissen im frühen deutschen Pikaroroman |Verlag=Walter de Gruyter |Ort=Berlin / Boston |Datum=2016 |Online=https://books.google.at/books?id=X5VlCwAAQBAJ&lpg=PT464&dq=gemeiner%20Kerl%20von%20%C3%BCblem%20Lebenswandel&hl=de&pg=PT464#v=onepage&q&f=false}}</ref> Die frühen Übersetzungen unterscheiden sich stark, da ''pícaro'' im Englischen mit ''rogue'' („Schurke, Schelm“) und im Deutschen mit ''Landstörtzer'' („Landstreicher“) wiedergegeben wurde.<ref name=":3" /> Erst im 18. Jahrhundert bürgerte sich der Begriff „Schelm“ ein, als er seine ursprünglich negative [[Konnotation]] verloren hatte.

Die Helden der Pikaroromane sind jedoch nicht ausschließlich Männer. Bereits im Jahr 1605 schreibt [[López de Ubeda]] den Roman ''La pícara Justina'' über eine weibliche Hauptfigur. Das Motiv wird von [[Alonso Jerónimo de Salas Barbadillo]] in ''La Patrona de Madrid restituida'' (1609) und ''La Hija de Celestina'' (1612) sowie im Roman ''La ingeniosa Elena'' (1612) aufgegriffen. Auch [[Alonso de Castillo Solórzano]] schreibt in ''La niña de los embustes'' (1632) und ''La garduña de Sevilla y anzuelo de las bolsas'' (1629) über weibliche Helden.


== Vorläufer ==
== Vorläufer ==
Für einige Romane, die entstanden sind, bevor sich der Schelmenroman als Gattung etablierte, hat sich nachträglich die Bezeichnung „Schelmenroman“ durchgesetzt. So gilt etwa Encolpius, ein fahrender Schüler (''scholasticus'') und Hauptfigur im ''[[Satyricon (Petron)|Satyricon]]'' des [[Titus Petronius|Petronius]] (1. Jh. n. Chr.) als Schelm, obwohl der Erzählstil im Gegensatz zu späteren Schelmenromanen an der Menippeischen [[Satire]] orientiert ist.<ref>{{Literatur |Autor=Richard Mellein |Hrsg=Thomas Paulsen |Titel=Petronius |Sammelwerk=Kindler kompakt. Literatur der Antike |Reihe=Kindler kompakt |Verlag=J.B. Metzler |Ort=Stuttgart |Datum=2017 |ISBN=978-3-476-04362-7 |Seiten=170}}</ref>
Keine Schelmenromane im engeren Sinn, aber mit ähnlicher Thematik sind:

*[[Gaius Petronius Arbiter|Petronius]]: [[Satyricon (Petron)|Satyricon]] (1. Jh. n. Chr.)
Von ''Metamorphosen oder Der goldene Esel'' (um 170 n. Chr.), einem in elf Büchern erschienenen Roman des [[Apuleius]], sind Einflüsse auf ''[[Der abenteuerliche Simplicissimus]]'' (1668) und ''Gil Blas'' (1715–1735) feststellbar.<ref name=":0">{{Literatur |Autor=Richard Mellein, [[Peter Kuhlmann (Altphilologe)|Peter Kuhlmann]] |Hrsg=Thomas Paulsen |Titel=Lucius Apuleius |Sammelwerk=Kindler kompakt. Literatur der Antike |Reihe=Kindler kompakt |Verlag=J.B. Metzler |Ort=Stuttgart |Datum=2017 |ISBN=978-3-476-04362-7 |Seiten=191}}</ref> Auch ''[[Don Quijote]]'' von [[Miguel de Cervantes]], dessen Einstufung als Schelmenroman umstritten ist, orientiert sich zum Teil am Roman des Apuleius.<ref name=":0" />
*[[Apuleius|Lucius Apuleius]]: [[Der goldene Esel|Metamorphosen oder Der goldene Engel]] (um 170 n. Chr.)

*die arabischen [[Makame]]n (Schelmengeschichten, seit dem 10. Jahrhundert)
Die frühe Verwendung von typischen Elementen des Schelmenromans lässt sich auch im asiatischen Raum beobachten. Beispielsweise neigen die Helden der [[Makame]]n von [[Badi' az-Zaman al-Hamadhani]] und [[Al-Hariri]] (10. Jahrhundert) zu schelmischen Taten, weshalb die kurzen, oft gesellschaftskritischen Erzählungen als pikaresk bezeichnet werden können.<ref>{{Literatur |Autor=Johann Christoph Bürgel |Titel=Gesellschaftskritik im Schelmengewand. Überlegungen zu den Makamen al Hamadhanis und al-Hairis |TitelErg=[[Walter Dostal]] zum 65. Geburtstag |Sammelwerk=Asiatische Studien |WerkErg=Zeitschrift der Schweizerischen Asiengesellschaft |Band=45 |Nummer=2 |Verlag=Peter Lang |Ort=Bern / Frankfurt am Main / New York / Paris / Wien |Datum=1991 |Seiten=228}}</ref> Bei dem chinesischen Volksbuch [[Die Räuber vom Liang-Schan-Moor]] (13. Jahrhundert) fällt die episodenhafte Struktur auf, die [[Wilhelm Grube]] (der den Titel allerdings als ''Die Geschichte des Flussufers'' übersetzt) an den deutschen Schelmenroman erinnert.<ref>{{Literatur |Autor=Wilhelm Grube |Titel=Geschichte der chinesischen Litteratur |Verlag=C. F. Amelangs Verlag |Ort=Leipzig |Datum=1902 |Seiten=418 |Online=https://archive.org/details/geschichtederch01unkngoog/page/n437/mode/2up}}</ref>
*[[Die Räuber vom Liang Schang Moor]] (chinesisches Volksbuch, 13. Jahrhundert)

*[[Volksbuch]] vom [[Till Eulenspiegel|Eulenspiegel]] (1510/11)
Das [[Volksbuch]] über [[Till Eulenspiegel]], dessen Erstveröffentlichung auf 1510 /1511 geschätzt wird,<ref>{{Internetquelle |url=https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/bote.html |titel=Bote, Hermann |werk=Projekt Gutenberg |hrsg=Projekt Gutenberg-DE |abruf=2020-06-16}}</ref> bildet die Grundlage für spätere literarische Auseinandersetzungen (insbesondere in der Schelmen- und [[Narrenliteratur]]<ref>M. J. Aichmayr: ''Der Symbolgehalt der Eulenspiegel-Figur im Kontext der europäischen Narren- und Schelmenliteratur.'' Kümmerle Verlag, Göppingen 1991 (= ''[[Göppinger Arbeiten zur Germanistik]].'' Band 541), ISBN 3-87452-782-4.</ref>) mit der Figur des Eulenspiegel.


== Der Pikaroroman ==
== Der Pikaroroman ==
=== Entstehung in Spanien ===
Der Schelmenroman stammt aus Spanien aus dem 16. Jahrhundert. Der erste frühe Vertreter ist der 1554 anonym herausgegebene "[[Lazarillo de Tormes]]". Die Hauptfigur ist ein '''''picaro'''''. Dieses spanische Wort bedeutet soviel wie "gemeiner Kerl von üblem Lebenswandel". Die frühen deutschen Übersetzungen und Schelmenromane gaben den ''picaro'' mit "Landstörtzer" wieder, was "Landstreicher" bedeutet. Erst im 18. Jahrhundert bürgerte sich der Begriff "Schelm" ein, als er seine ursprünglich negative [[Konnotation]] verloren hatte, siehe auch [[Schelm]].
Der Schelmenroman stammt aus dem Spanien des 16. Jahrhunderts. [[Rainer Warning]] betrachtet ihn als ein Phänomen des spanischen Spätbarocks, das als „epochal wie räumlich begrenztes Korpus“ zu verstehen sei.<ref>{{Literatur |Autor=Rainer Warning |Hrsg=Jan Mohr, Carolin Struwe, Michael Waltenberger |Titel=Narrative Arbeit am Mythos vom göttlichen Schelm. Quevedos "Buscón" |Sammelwerk=Pikarische Erzählverfahren. Zum Roman des 17. und 18. Jahrhunderts |Reihe=Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext |BandReihe=206 |Verlag=Walter de Gruyter |Ort=Berlin / Boston |Datum=2016 |ISBN=978-3-11-051618-0 |Seiten=38}}</ref>


[[Américo Castro]] stellt fest, dass die Verfasser der spanischen Picaroromane häufig ''[[converso]]s'', also zum Christentum übergetretene [[Juden]] oder [[Mauren]], waren.<ref name=":4">{{Literatur |Autor=Rainer Warning |Hrsg=Jan Mohr, Carolin Struwe, Michael Waltenberger |Titel=Narrative Arbeit am Mythos vom göttlichen Schelm. Quevedos "Buscón" |Sammelwerk=Pikarische Erzählverfahren. Zum Roman des 17. und 18. Jahrhunderts |Reihe=Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext |BandReihe=206 |Verlag=Walter de Gruyter |Ort=Berlin / Boston |Datum=2016 |ISBN=978-3-11-051618-0 |Seiten=39}}</ref> Da die spanische Gesellschaft solche ''conversos'' häufig verdächtigte, nur zum Schein konvertiert zu sein, waren sie meist Außenseiter und nutzten ihr Schreibtalent, um der Gesellschaft einen Spiegel ihrer Schlechtigkeit vorzuhalten.<ref name=":4" /> Dem widerspricht Warning, der den Anteil der ''conversos'' unter den Autoren des Pikaroromans für weit weniger signifikant hält als Castro.<ref name=":4" />
Mit [[Mateo Alemán]]s "Guzmán de Alfarache" (1599) wird der Schelmenroman in Spanien populär und findet viele Nachahmer. [[López de Ubeda]] schreibt über eine weibliche Hauptfigur "La picara Justina" (1605), [[Miguel de Cervantes]] verfasst 1613 die [[Novelle (Literatur)|Novelle]] "Rinconete y Cortadillo". Weitere Vertreter des Genres sind "Marcos de Obregón" (1618) von [[Vicente Espinel]] und die "Historia de la vida del Buscón" (1626) von [[Francisco de Quevedo]].


Der erste frühe Vertreter ist der 1554 anonym erschienene ''[[Lazarillo de Tormes]]'', über dessen Autor nahezu nichts bekannt ist.<ref name=":5">{{Literatur |Autor=Rainer Warning |Hrsg=Jan Mohr, Carolin Struwe, Michael Waltenberger |Titel=Narrative Arbeit am Mythos vom göttlichen Schelm. Quevedos "Buscón" |Sammelwerk=Pikarische Erzählverfahren. Zum Roman des 17. und 18. Jahrhunderts |Reihe=Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext |BandReihe=206 |Verlag=Walter de Gruyter |Ort=Berlin / Boston |Datum=2016 |ISBN=978-3-11-051618-0 |Seiten=40 f.}}</ref> Der Roman, dessen Hauptfigur ein ''pícaro'' (Schelm)<ref>{{Internetquelle |url=https://de.pons.com/%C3%BCbersetzung/spanisch-deutsch/p%C3%ADcaro |titel=Pícaro |werk=PONS {{!}} Spanisch-Deutsch |hrsg=PONS GmbH |datum=2020 |abruf=2020-06-21}}</ref> ist, war ein so großer Erfolg, dass innerhalb eines Jahres vier verschiedene Neuauflagen gedruckt wurden.<ref>{{Literatur |Autor=Alexander Samson |Hrsg=J. A. Garrido Ardila |Titel=Lazarillo de Tormes and the dream of a world without poverty |Sammelwerk=The Picaresque Novel in Western Literature. From the Sixteenth Century to the Neopicaresque |Verlag=Cambridge University Press |Ort=Cambridge |Datum=2015}}</ref> Allerdings kritisierten einige Romanisten, darunter [[Marcel Bataillon]], dass Lazarillo die kriminelle Ader fehle, die einen typischen Schelm ausmacht.<ref>{{Literatur |Autor=Michael Nerlich |Hrsg=Fritz Schalk |Titel=Plädoyer für Lázaro. Bemerkungen zu einer „Gattung“ |Sammelwerk=Romanische Forschungen |Band=80 |Verlag=Klostermann |Ort=Frankfurt am Main |Datum=1968 |Seiten=355 f.}}</ref> Dies veranlasste wiederum [[Michael Nerlich]] im Jahr 1968 zu einem ''Plädoyer für Lázaro'', in dessen Untertitel er jedoch den Begriff „Gattung“ in Anführungszeichen setzt.
Die Verfasser der spanischen Picaroromane waren häufig ''[[Converso|conversos]]'', d.h. vom Judentum zum Christentum Übergetretene, die in der spanischen Gesellschaft Außenseiter waren. Ihre Romane lassen sich als Kritik an den herrschenden Zuständen lesen.


Mit [[Mateo Alemán]], dem Autor des ''Guzmán de Alfarache'' (1599), bedient sich erstmals nachweislich ein ''converso'' (wenn auch laut Warning nur über Vorfahren)<ref name=":5" /> des Genres. Das Werk macht den Schelmenroman in Spanien populär und findet viele Nachahmer. Miguel de Cervantes verfasst 1613 die [[Novelle]] ''Rinconete y Cortadillo''. Don Quijote enthält pikareske Episoden, kann aber nicht genuin als Schelmenroman gesehen werden. Ein weiterer Vertreter des Genres ist die ''[[Historia de la vida del Buscón]]'' (1626) von [[Francisco de Quevedo]].
Der spanische Schelmenroman findet bald in ganz Europa Nachahmer. In Frankreich z. B. [[Charles Sorel]]s "Francion" (1622-33). In Deutschland erscheinen Übersetzungen, die oft erweitert werden. In der [[Barockliteratur]] ist der Schelmenroman neben dem [[höfisch galanter Roman| höfisch galantem]] und dem [[Schäferroman]], eine der drei [[Roman]]formen.


Als Sonderfall kann der 1618 erschienene Roman ''Marcos de Obregón'' von [[Vicente Espinel]] gelten, dessen gleichnamiger Held aus gutem Hause stammt, seine Mitmenschen häufig moralisierend zurechtweist und sich nur in wenigen Szenen wie ein typischer ''pícaro'' verhält.<ref name=":2">{{Literatur |Autor=Jürgen Jacobs |Titel=Der Pícaro im bürgerlichen Zeitalter. Zu Ludwig Tiecks Übersetzung des Marcos de Obregón und zu seiner Novelle Wunderlichkeiten |Sammelwerk=Arcadia. Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft |Band=24 |Nummer=3 |Verlag=[[Walter de Gruyter (Verlag)|Walter de Gruyter]] |Datum=1989 |Seiten=365}}</ref> Dies ist nach [[Jürgen Jacobs]] wohl auch der Grund, warum [[Ludwig Tieck]] im Jahr 1827 eine von seiner Tochter [[Dorothea Tieck]] angefertigte und von ihm selbst ausführlich kommentierte Übersetzung des Romans publizierte.<ref>{{Literatur |Autor=Jürgen Jacobs |Titel=Der Pícaro im bürgerlichen Zeitalter. Zu Ludwig Tiecks Übersetzung des Marcos de Obregón und zu seiner Novelle Wunderlichkeiten |Sammelwerk=Arcadia. Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft |Band=24 |Nummer=3 |Verlag=Walter de Gruyter |Datum=1989 |Seiten=364}}</ref> Durch Tiecks Auswahl einer „harmonisierenden“ Variante des Schelmenromans fand dieses Genre, das mit dem bürgerlichen Geist des frühen 19. Jahrhunderts so gar nicht vereinbar ist, dennoch Eingang in die deutsche Literaturszene der [[Romantik]].<ref name=":2" />
Prägend für den '''deutschen Schelmenroman''' war Aegidius Albertinus´ Bearbeitung des "Guzmán de Alfarache" (Der Landstörtzer Guzman von Alfarache, 1615). Der wichtigste nicht-spanische Schelmenroman ist "[[Der abenteuerliche Simplicissimus]]" (1668) von [[Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen]]. Grimmelshausen schrieb noch weitere Romane, die thematisch an den "Simplicissimus" anknüpfen, man nennt sie die "Simplicianischen Schriften". "Die "Landstörtzerin Courasche" (1670) ist hier besonder zu erwähnen. Weitere Vertreter des Genres sind:


=== Verbreitung in Europa ===
*[[Johann Beer]]: Der Simplicianische Welt-Kucker (1677)
Der spanische Schelmenroman findet bald in ganz Europa Nachahmer. In England z.&nbsp;B. [[Thomas Nashe]]s ''The Unfortunate Traveller'' (1594), in Frankreich z.&nbsp;B. [[Charles Sorel]]s ''Francion'' (1622–1633). In Deutschland erscheinen Übersetzungen, die oft erweitert werden. In der [[Barockliteratur]] ist der Schelmenroman neben dem [[höfisch galanter Roman|höfisch galanten]] und dem [[Schäferroman]] eine der drei [[Roman]]formen.
*[[Georg Daniel Speer]]: Der Ungarische oder Dacianische Simplicissimus (1683)

*[[Christian Reuter]]: Schellmuffsky (1696)
Prägend für den deutschen Schelmenroman war die lose auf dem Original und dessen Fortsetzung durch [[Juan Martí]] basierende Übertragung des ''Guzmán de Alfarache'' von [[Aegidius Albertinus]], die 1615 unter dem Titel ''Der Landstörtzer'' erschien.<ref name=":9">{{Literatur |Autor=Jürgen Jacobs |Titel=Der deutsche Schelmenroman. Eine Einführung |Hrsg= |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag=Artemis Verlag |Ort=München / Zürich |Datum=1983 |ISBN=3760813062 |Seiten=39 f.}}</ref> Albertinus, der die [[Gegenreformation]] unterstützte, kürzte den Text um einige Handlungsstränge, wertete die Rollen einzelner Figuren um und führte die über den Text verstreuten Reflexionen des bekehrten Guzmán in einem belehrenden Schlussteil zusammen.<ref name=":9" /> Trotzdem hatte die Übertragung einigen Erfolg und beeinflusste mehrere deutschsprachige Autoren, die später selbst Schelmenromane veröffentlichten.<ref name=":10">{{Literatur |Autor=Jürgen Jacobs |Titel=Der deutsche Schelmenroman. Eine Einführung |Hrsg= |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag=Artemis Verlag |Ort=München / Zürich |Datum=1983 |ISBN=3-7608-1306-2 |Seiten=41}}</ref> Zu diesen zählte auch Hieronymus Dürer, dessen 1668 erschienener Text ''Lauf der Welt und Spiel des Glücks'' als erster deutschsprachiger Schelmenroman gilt.<ref name=":10" /> Im selben Jahr erschien auch ''Der abenteuerliche Simplicissimus'' von [[Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen]], der oft zu den wichtigsten nicht-spanischen Schelmenromanen gezählt wird.<ref name=":6">{{Literatur |Autor=Ernest Schonfield |Hrsg=[[Godela Weiss-Sussex]], Robert Gillett |Titel=Brecht and the Modern Picaresque |Sammelwerk=„Verwisch Die Spuren!“ Bertolt Brecht’s Work and Legacy. A Reassessment |Datum=2008 |Seiten=57}}</ref> Da Simplicissimus jedoch nicht die typischen Charakteristika eines ''pícaro'' (niedere Geburt, Streben nach sozialem Aufstieg und ans Kriminelle grenzende Streiche) aufweist, ist diese Zuordnung umstritten.<ref name=":1" /> Einige Germanisten, darunter Jürgen Jacobs, sehen den Roman eher als „produktive Aufnahme der pikaresken Muster“.<ref name=":10" /> Ähnlich verhält es sich mit [[Christian Reuter]]s Reise- und Lügenroman [[Schelmuffsky]] von 1696/97.


== Nachfolger ==
== Nachfolger ==
Nach dem 17. Jahrhundert erschienene Romane bedienen sich zwar auch manchmal schelmischer Protagonisten, werden aber nicht mehr zu den Schelmenromanen im engeren Sinn gerechnet. Ähnlichkeiten bestehen in der [[Ich-Erzähler|Ich-Erzählung]], im [[Retrospektive|retrospektiven Erzählen]] und in der Wahl der [[Froschperspektive]].<ref name=":11">Pavel Mazura: Zwei Beispiele des Schelmenromans in deutscher Literatur, Diplomarbeit, Brno 2010, S. 17–31</ref> Zudem wird den Figuren oft eine „Narren- oder Zwergmaske“ aufgesetzt, unter der sie sich frei von sozialen Konventionen bewegen und so ihr scheinbar rechtschaffenes Umfeld demaskieren können.<ref name=":11" />

=== 18. Jahrhundert ===
Im 18. Jahrhundert gewann der [[Abenteuerroman]] zunehmend an Beliebtheit und auch literarische Schelmenfiguren wie Quevedos ''Buscón'' wurden in Neuauflagen als Abenteurer vermarktet.<ref name=":12">{{Literatur |Autor=Jürgen Jacobs |Titel=Der deutsche Schelmenroman. Eine Einführung |Hrsg= |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag=Artemis Verlag |Ort=München / Zürich |Datum=1983 |ISBN=3-7608-1306-2 |Seiten=75}}</ref> So erhielt beispielsweise die deutsche Übersetzung von [[Alain-René Lesage]]s Roman ''Gil Blas'' (1726) den Untertitel ''Der spanische Robinson'' und weist sich damit als (vermutlich zu kommerziellen Zwecken vom Verleger inszenierte) [[Robinsonade]] aus.<ref name=":12" />

Dennoch wurde ''Gil Blas'' ebenso wie einige Werke von [[Henry Fielding]] häufig zu den Nachfolgern des Schelmenromans gezählt.<ref name=":6" /> Insbesondere bei ''Gil Blas'' ist zwischen dem ersten Teil und den beiden Fortsetzungen des Romans eine Abwendung des Autors vom Pikaresken zu beobachten: Während der erste Teil durch seine „lockere Episodenreihung, die Linearität in der Zeit, die Identität von Abenteuer und Kapitel, autobiographische Ich-Form und Retrospektive“<ref name=":8">{{Literatur |Autor=Winfried Wehle |Hrsg=[[Olaf Deutschmann]], [[Hans Flasche]], [[Rudolf Grossmann (Romanist)|Rudolf Grossmann]], [[Wido Hempel]], [[Erich Köhler (Romanist)|Erich Köhler]], [[Margot Kruse]], [[Walter Pabst]], [[Hermann Tiemann]] |Titel=Zufall und epische Integration. Wandel des Erzählmodells und Sozialisation des Schelms in der Histoire de Gil Blas de Santillane |Sammelwerk=[[Romanistisches Jahrbuch]] |Band=23 |Verlag=Walter de Gruyter |Ort=Berlin / New York |Datum=1972-12 |ISSN=1613-0413 |Seiten=109 f.}}</ref> sowie den „satirisch-entlarvende[n] Gang“<ref name=":8" /> des Protagonisten durch die Gesellschaft als typisches Beispiel für einen Schelmenroman erscheint, werden laut [[Winfried Wehle]] genau diese Charakteristika in den Fortsetzungen vernachlässigt. Bildung wird im zweiten und dritten Teil zum Mittel, mit dem der frühere Schelm seine Ziele (auch diese sind für das Genre untypisch, da er immer höhere Ämter anstrebt) erreicht.<ref name=":8" />

Im deutschen Sprachraum greift [[Johann Gottfried Schnabel]] in seinen Romanen ''[[Insel Felsenburg]]'' (1731–43) und ''Der im Irrgarten der Liebe herum taumelnde Cavalier'' (1738) auf die Tradition des Schelmenromans zurück. In beiden Fällen gibt es allerdings Argumente dagegen: Bei der ''Insel Felsenburg'' sind nur die Geschehnisse in der äußeren Welt, nicht aber jene auf der Insel selbst von pikaresken Elementen gekennzeichnet<ref>{{Literatur |Autor=Janet Bertsch |Titel=The Whole Story. Language, Narrative and Salvation in Bunyan, Defoe, Grimmelshausen and Schnabel |TitelErg=Submitted in fulfilment of the requirements for the degree of Doctor of Philosophy, University of London |Ort=London |Datum=2000 |Seiten=49}}</ref> und im ''Cavalier'' dient das Pikareske lediglich zum Schutz des „schlecht kaschierten Darstellungsinteresses“, nämlich der unzensierten Schilderung lasziver Abenteuer.<ref name=":13">{{Literatur |Autor=Jürgen Jacobs |Titel=Der deutsche Schelmenroman. Eine Einführung |Hrsg= |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag=Artemis Verlag |Ort=München / Zürich |Datum=1983 |ISBN=3-7608-1306-2 |Seiten=80}}</ref> Auch in der 1794 erschienenen ''Biographie eines Pudels'' von [[Gottlieb Konrad Pfeffel]] ist der Hauptzweck die Unterhaltung der Leser, obwohl sich mitunter eine Annäherung an das „schelmenhafte Erzählparadigma“<ref>{{Literatur |Autor=Frederike Middelhoff |Titel=Literarische Autozoographien. Figurationen des autobiographischen Tieres im langen 19. Jahrhundert |Reihe=Cultural Animal Studies |BandReihe=7 |Verlag=[[J.B. Metzler]] |Ort=Stuttgart |Datum=2020 |ISBN=978-3-476-05512-5 |Seiten=255}}</ref> feststellen lässt.

=== 19. Jahrhundert ===
Das 19. Jahrhundert brachte den Schelmenroman nach [[Russland]]. Zwar kann ''Der Spötter'' (1766) von [[Michail Čulkov]] als früher Vertreter der Gattung gelten, aber sein Erscheinen blieb weitgehend folgenlos für die pikareske Tradition Russlands.<ref name=":15">{{Literatur |Autor=Gautam Chakrabarti |Titel=Enigmatic Subversions of the Picaresque |Hrsg=Jens Elze |Sammelwerk=Das Enigma des Pikaresken. The Enigma of the Picaresque |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag=Winter |Ort=Heidelberg |Datum=2018 |Reihe=Germanistisch-Romanische Monatsschrift |BandReihe=Beiheft 87 |ISBN= |Seiten=112 f.}}</ref> Erst der 1814 erschienene Roman ''Ein russischer Gil Blas'' von [[Wassili Trofimowitsch Nareschny]] stieß eine länger anhaltende Rezeption an.<ref>{{Literatur |Autor=Jürgen Jacobs |Titel=Der deutsche Schelmenroman. Eine Einführung |Hrsg= |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag=Artemis Verlag |Ort=München / Zürich |Datum=1983 |ISBN=3-7608-1306-2 |Seiten=85}}</ref> Insbesondere ''[[Die toten Seelen]]'' von [[Nikolai Wassiljewitsch Gogol]] werden häufig als pikaresk bezeichnet. Dem Schriftsteller [[John Cournos]] zufolge habe Gogol seine Erzählweise zum Teil aus spanischen, zum Teil aus britischen Schelmenromanen entlehnt und daraus seine Version der „russischen Seele“ geschaffen.<ref name=":15" />

Im Deutschland des 19. Jahrhunderts hingegen entwickelte sich der Schelmenroman immer mehr zu einer Randerscheinung. Wie Jürgen Jacobs feststellt, ging mit der Herausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft eine Abkehr vom Schelmenroman zugunsten der „Bildungs- und Entwicklungsgeschichten“ einher, in denen der Protagonist „eine Versöhnung von Ich und Welt“ anstrebt.<ref>{{Literatur |Autor=Jürgen Jacobs |Titel=Der Pícaro im bürgerlichen Zeitalter. Zu Ludwig Tiecks Übersetzung des Marcos de Obregón und zu seiner Novelle Wunderlichkeiten |Sammelwerk=Arcadia. Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft |Band=24 |Nummer=3 |Verlag=Walter de Gruyter |Datum=1989 |Seiten=363}}</ref> Dennoch erschienen im 19. Jahrhundert einige Übersetzungen der spanischen Schelmenromane, darunter [[Dorothea Tieck]]s ''Leben und Begebenheiten des Escudero Marcos Obregon oder Autobiographie des spanischen Dichters Vicente Espinel'' (1827).

Aufgrund seiner episodischen Struktur und der häufig präsenten Gesellschaftssatire wurde auch [[Heinrich Heine]]s ''Aus den Memoiren des Herrn v. Schnabelewopski'' (1834) zu den Schelmenromanen gezählt. Das entspricht auch der frühen Rezeption des Textes durch den Literarhistoriker [[Wolfgang Menzel (Literaturhistoriker)|Wolfgang Menzel]], der den ''Schnabelewopski'' mit dem „Geist der älteren spanischen Romane“ verglich.<ref name=":16">{{Literatur |Autor=Jürgen Jacobs |Titel=Der deutsche Schelmenroman. Eine Einführung |Hrsg= |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag=Artemis Verlag |Ort=München / Zürich |Datum=1983 |ISBN=3-7608-1306-2 |Seiten=86 f.}}</ref> Dennoch zeigt Heines träger, genussorientierter Protagonist wenig von der kriminell orientierten Eigeninitiative des spanischen Pikaro, weshalb der Text nicht als typischer Schelmenroman gelten kann. Jürgen Jacobs spricht in diesem Zusammenhang von einer „Neubelebung des pikaresken Erzählens“.<ref name=":16" />

=== 20. Jahrhundert ===
Im 20. Jahrhundert gewann das pikareske Erzählen wieder an Beliebtheit, was häufig auf das erhöhte Krisenbewusstsein nach den beiden Weltkriegen zurückgeführt wird.<ref name=":17">{{Literatur |Autor=Jürgen Jacobs |Titel=Der deutsche Schelmenroman. Eine Einführung |Hrsg= |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag=Artemis Verlag |Ort=München / Zürich |Datum=1983 |ISBN=3-7608-1306-2 |Seiten=108 f.}}</ref> Dennoch ist eine Zuordnung zur Gattung des Schelmenromans in vielen Fällen problematisch. Oft werden einzelne Eigenschaften der Pikaro-Gestalt herausgegriffen, die im Text eine bestimmte Funktion erfüllen. Ein prominentes Beispiel dafür ist ''[[Der brave Soldat Schwejk]]'' (1920/1923) von [[Jaroslav Hašek]], der ähnlich dem ''Simplicissimus'' eine schelmisch-kritische Perspektive auf den Krieg einnimmt.<ref name=":7">{{Literatur |Autor=Werner Wintersteiner |Titel=“Nichts als der Tod und die Satire”. Grimmelshausens Kriegskritik aus heutiger Perspektive |Hrsg=Tobias Bulang, Sabine Seelbach, Ulrich Seelbach |Sammelwerk=Daphnis |Band=47 |Nummer=1–2 |Verlag=Brill {{!}} Rodopi |Datum=2019-03 |ISSN=1879-6583 |Seiten=371}}</ref> [[Albert Vigoleis Thelen]] hingegen betont in seinem Roman ''[[Die Insel des zweiten Gesichts]]'' (1953) die Nähe des Schelmenromans zur Autobiographie. Da er seinem Protagonisten den eigenen Namen gibt, aber dennoch eine fiktive Ebene einführt, lässt sich der Text als [[Autofiktion]] beschreiben.<ref name=":17" />

Eine Schelmenfigur im ursprünglichen Sinn, die sich durch „moralische Fragwürdigkeit und Durchtriebenheit“<ref name=":17" /> auszeichnet, taucht jedoch erst in [[Thomas Mann]]s Romanfragment ''[[Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull]]'' (1954) wieder auf. Thomas Mann war sich dieser Ähnlichkeit zum spanischen ''pícaro'' durchaus bewusst und förderte durch entsprechende Kommentare zum Buch dessen Rezeption als Schelmenroman.<ref name=":14">{{Literatur |Autor=Jürgen Jacobs |Titel=Der deutsche Schelmenroman. Eine Einführung |Hrsg= |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag=Artemis Verlag |Ort=München / Zürich |Datum=1983 |ISBN=3-7608-1306-2 |Seiten=98}}</ref> Allerdings ist dies nicht die einzige Deutungsmöglichkeit, da der Roman mit verschiedenen Gattungscharakteristika spielt und „ein sehr komplexes Verhältnis zur Tradition besitzt, das sich nicht durch Verwendung eines bestimmten Etiketts befriedigend umschreiben lässt“.<ref name=":14" />

Eine weitere und neben Felix Krull wohl die bekannteste Schelmenfigur des 20. Jahrhunderts ist Oskar Matzerath aus dem 1959 erschienenen Roman ''[[Die Blechtrommel]]'' von [[Günter Grass]]. Die pikaresken Elemente beschränken sich jedoch hauptsächlich auf die Erzählform, während Oskar selbst kein typischer Schelm ist.<ref name=":18">{{Literatur |Autor=Jürgen Jacobs |Titel=Der deutsche Schelmenroman. Eine Einführung |Hrsg= |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag=Artemis Verlag |Ort=München / Zürich |Datum=1983 |ISBN=3-7608-1306-2 |Seiten=120 f.}}</ref> Dennoch wird der Text allgemein als „originelle und äußerst vitale Verwandlung und Fortsetzung“ der pikaresken Tradition betrachtet.<ref name=":18" />


* [[Peter-Paul Zahl]]: ''[[Die Glücklichen]]'' (1979)
Spätere Romane bedienen sich auch oft schelmischer Protagonisten, werden aber nicht mehr zu den Schelmenromanen im engeren Sinn gerechnet. Motive und Parallelen finden sich im 18. Jahrhundert bei [[Daniel Defoe]] ([[Moll Flanders]], 1722), [[Alain René Lesage]] (Gil Blas, 1715-35), [[Henry Fielding]], [[Tobias Smollett]] u. a. Für den deutschen Sprachraum sind [[Johann Gottfried Schnabel]] und [[Gottlieb Konrad Pfeffel]] zu nennen.


=== 21. Jahrhundert ===
Im 19. Jahrhundert sind es zum Beispiel [[Heinrich Heine]]s "Aus den Memoiren des Herrn v. Schnabelewopski" (1834), [[James Fenimore Cooper]] und [[Mark Twain]] ("Die Abenteuer von [[Huckleberry Finn]]" 1884).
Auch im 21. Jahrhundert lassen sich vereinzelt Anspielungen auf den Schelmenroman feststellen, etwa bei folgenden Texten:
* [[Radek Knapp]]: ''[[Herrn Kukas Empfehlungen (Roman)|Herrn Kukas Empfehlungen]]'' (1999)
* [[Umberto Eco]]: ''[[Baudolino]]'' (2000)
* Alexej Slapovsky: ''Der Tag des Geldes'' (2000)
* [[Andrea Camilleri]]: ''[[König Zosimo]]'' (2001)
* [[Christoph Simon]]: ''[[Planet Obrist]]'' (2005)
* [[Jonas Jonasson]]: ''[[Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand]]'' (2009)
* [[Patrick Tschan]]: ''Polarrot'' (2012)
* [[Albert Sánchez Piñol]]: ''Der Untergang Barcelonas'' (2012)
* [[Jonas Jonasson]]: ''[[Die Analphabetin, die rechnen konnte]]'' (2013)
* [[Ingo Schulze (Autor)|Ingo Schulze]]: ''Peter Holtz. Sein glückliches Leben von ihm selbst erzählt'' (2017)<ref>{{Internetquelle |url=http://www.ardmediathek.de/radio/ARD-Radiofestival-2017-Gespr%C3%A4ch/Der-Schriftsteller-Ingo-Schulze-im-Gespr/ARD-Radiofestival/Audio?bcastId=43536760&documentId=45787430 |titel=Der Schriftsteller Ingo Schulze im Gespräch mit Alf Mentzer |archiv-url=https://web.archive.org/web/20170909233718/http://www.ardmediathek.de/radio/ARD-Radiofestival-2017-Gespr%C3%A4ch/Der-Schriftsteller-Ingo-Schulze-im-Gespr/ARD-Radiofestival/Audio?bcastId=43536760&documentId=45787430 |archiv-datum=2017-09-09 |abruf=2017-09-09 |offline=1}}</ref>
* [[Simon Urban]]: ''Wie alles begann und wer dabei umkam'' (2021)<ref>{{Internetquelle |url=https://www.fr.de/kultur/literatur/simon-urban-wie-alles-begann-und-wer-dabei-umkam-todesurteil-fuer-die-boese-oma-90200537.html|titel=„Wie alles begann und wer dabei umkam“. Todesurteil für die böse Oma |abruf=2021-02-16}}</ref>


== Englischer Pikarismus ==
Im 20. Jahrhundert sind folgende Werke vom Schelmenroman beeinflusst:
In Großbritannien reicht die pikareske Erzähltradition auf die Texte von [[George Whetstone]] und [[Thomas Nashe]] zurück, die im 16. Jahrhundert das britische „low life“ beschrieben.<ref name=":13" /> Das Genre entwickelte sich zunächst unabhängig von der spanischen Tradition, bis [[Richard Head]] und [[Francis Kirkman]] mit ''The English Rogue'' (1665) auch auf die spanischen Schelmenromane Bezug nahmen.<ref name=":13" /> Dennoch etablierte sich der Begriff des „englischen Pikarismus“, den [[Daniel Defoe]] mit seinem 1722 erschienenen Roman ''[[Moll Flanders]]'' nachhaltig prägte.<ref name=":13" /> Auch [[Tobias Smollett]] wird häufig zu den Vertretern des englischen Pikarismus gezählt.<ref name=":1" />
*[[Josef Winckler]]: [[Der tolle Bomberg]] (1922)
*[[Jaroslav Hašek]]: [[Der brave Soldat Schwejk]] (1920/23)
*[[Ilja Ehrenburg]]: [[Das bewegte leben des Lasik Roitschwanz]] (1928)
*[[John Steinbeck]]: [[Die Schelme von Tortilla Flat]] (1935)
*[[Halldór Laxness]]: [[Die Islandglocke]] (1943-46)
*[[Giovanni Guareschi]]: [[Don Camillo und Peppone]] (1948)
*[[Albert Vigoleis Thelen]]: [[Die Insel des zweiten Gesichts]] (1953)
*[[Thomas Mann]]: [[Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull]] (1954)
*[[Günter Grass]]: [[Die Blechtrommel]] (1959)
*[[Heinrich Böll]]: [[Ansichten eines Clowns]] (1963)
*[[Richard Fariña]]: Been Down So Long It Looks Like up to Me (1966)
*[[Günter Kunert]]: Im Namen der Hüte (1967)
*[[Gerold Späth]]: Unschlecht (1970), u. a.
*[[August Kühn]]: Jahrgang 22 (1977)
*[[Irmtraud Morgner]]: Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz (1974)


== Literatur ==
* [[Matthias Bauer (Germanist)|Matthias Bauer]]: ''Der Schelmenroman'' (= ''Sammlung Metzler.'' 282). Metzler, Stuttgart u. a. 1994, ISBN 3-476-10282-3.
* [[Hans Gerd Rötzer]]: ''Der europäische Schelmenroman'' (126 S. 5 Abb.). Reclam, Ditzingen 2009, ISBN 978-3-15-017675-7.
* Pavel Mazura: ''Zwei Beispiele des Schelmenromans in deutscher Literatur''. Diplomarbeit, Brno 2010.


== Weblinks ==
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== Belege ==
''Siehe auch:'' Deutsche [[Barockliteratur]], [[Barock]]
<references />


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[[Kategorie:Barock (Literatur)]]


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[[Kategorie:Literatur des Barock]]
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Aktuelle Version vom 19. März 2025, 01:45 Uhr

Der Schelmenroman oder pikarischer/pikaresker Roman (aus dem Spanischen: pícaro = Schelm), dessen Ursprung im 16. Jahrhundert in Spanien liegt, schildert aus der Perspektive seines Helden, wie sich dieser in einer Reihe von Abenteuern durchs Leben schlägt. Der Schelm stammt aus den unteren gesellschaftlichen Schichten,[1] ist deshalb ungebildet, aber „bauernschlau“. In der Absicht, die soziale Stigmatisierung aufgrund seiner niederen Geburt zu überwinden, ist er ständig auf der Suche nach Aufstiegsmöglichkeiten und greift dabei nicht selten auf kriminelle Mittel zurück.[1] Er durchläuft alle gesellschaftlichen Schichten und wird zu deren Spiegel. Der Held hat keinen Einfluss auf die Geschehnisse um ihn herum, schafft es aber immer wieder, sich aus allen brenzligen Situationen zu retten.

Traditionell ist der Schelmenroman eine (fingierte) Autobiographie mit satirischen Zügen, die bestimmte Missstände in der Gesellschaft thematisiert.[1] Sie beginnt oft mit einer Desillusionierung des Helden, der die Schlechtigkeit der Welt erst hier erkennt. Er begibt sich, sei es freiwillig, sei es unfreiwillig, auf Reisen. Die dabei erlebten Abenteuer sind episodenhaft, d. h., sie hängen nicht voneinander ab und können beliebig erweitert werden, was bei Übersetzungen oft der Fall war. Das Ende ist meist eine „Bekehrung“ des Schelms, nach der er zu einem geregelten Leben findet. Es besteht auch die Möglichkeit einer Flucht aus der Welt, also aus der Realität.

Zum Begriff des Picaro

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Das titelgebende Wort bedeutet so viel wie „gemeiner Kerl von üblem Lebenswandel“, kann aber auch für „Küchenjunge“ stehen.[2] Die frühen Übersetzungen unterscheiden sich stark, da pícaro im Englischen mit rogue („Schurke, Schelm“) und im Deutschen mit Landstörtzer („Landstreicher“) wiedergegeben wurde.[2] Erst im 18. Jahrhundert bürgerte sich der Begriff „Schelm“ ein, als er seine ursprünglich negative Konnotation verloren hatte.

Die Helden der Pikaroromane sind jedoch nicht ausschließlich Männer. Bereits im Jahr 1605 schreibt López de Ubeda den Roman La pícara Justina über eine weibliche Hauptfigur. Das Motiv wird von Alonso Jerónimo de Salas Barbadillo in La Patrona de Madrid restituida (1609) und La Hija de Celestina (1612) sowie im Roman La ingeniosa Elena (1612) aufgegriffen. Auch Alonso de Castillo Solórzano schreibt in La niña de los embustes (1632) und La garduña de Sevilla y anzuelo de las bolsas (1629) über weibliche Helden.

Für einige Romane, die entstanden sind, bevor sich der Schelmenroman als Gattung etablierte, hat sich nachträglich die Bezeichnung „Schelmenroman“ durchgesetzt. So gilt etwa Encolpius, ein fahrender Schüler (scholasticus) und Hauptfigur im Satyricon des Petronius (1. Jh. n. Chr.) als Schelm, obwohl der Erzählstil im Gegensatz zu späteren Schelmenromanen an der Menippeischen Satire orientiert ist.[3]

Von Metamorphosen oder Der goldene Esel (um 170 n. Chr.), einem in elf Büchern erschienenen Roman des Apuleius, sind Einflüsse auf Der abenteuerliche Simplicissimus (1668) und Gil Blas (1715–1735) feststellbar.[4] Auch Don Quijote von Miguel de Cervantes, dessen Einstufung als Schelmenroman umstritten ist, orientiert sich zum Teil am Roman des Apuleius.[4]

Die frühe Verwendung von typischen Elementen des Schelmenromans lässt sich auch im asiatischen Raum beobachten. Beispielsweise neigen die Helden der Makamen von Badi' az-Zaman al-Hamadhani und Al-Hariri (10. Jahrhundert) zu schelmischen Taten, weshalb die kurzen, oft gesellschaftskritischen Erzählungen als pikaresk bezeichnet werden können.[5] Bei dem chinesischen Volksbuch Die Räuber vom Liang-Schan-Moor (13. Jahrhundert) fällt die episodenhafte Struktur auf, die Wilhelm Grube (der den Titel allerdings als Die Geschichte des Flussufers übersetzt) an den deutschen Schelmenroman erinnert.[6]

Das Volksbuch über Till Eulenspiegel, dessen Erstveröffentlichung auf 1510 /1511 geschätzt wird,[7] bildet die Grundlage für spätere literarische Auseinandersetzungen (insbesondere in der Schelmen- und Narrenliteratur[8]) mit der Figur des Eulenspiegel.

Der Pikaroroman

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Entstehung in Spanien

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Der Schelmenroman stammt aus dem Spanien des 16. Jahrhunderts. Rainer Warning betrachtet ihn als ein Phänomen des spanischen Spätbarocks, das als „epochal wie räumlich begrenztes Korpus“ zu verstehen sei.[9]

Américo Castro stellt fest, dass die Verfasser der spanischen Picaroromane häufig conversos, also zum Christentum übergetretene Juden oder Mauren, waren.[10] Da die spanische Gesellschaft solche conversos häufig verdächtigte, nur zum Schein konvertiert zu sein, waren sie meist Außenseiter und nutzten ihr Schreibtalent, um der Gesellschaft einen Spiegel ihrer Schlechtigkeit vorzuhalten.[10] Dem widerspricht Warning, der den Anteil der conversos unter den Autoren des Pikaroromans für weit weniger signifikant hält als Castro.[10]

Der erste frühe Vertreter ist der 1554 anonym erschienene Lazarillo de Tormes, über dessen Autor nahezu nichts bekannt ist.[11] Der Roman, dessen Hauptfigur ein pícaro (Schelm)[12] ist, war ein so großer Erfolg, dass innerhalb eines Jahres vier verschiedene Neuauflagen gedruckt wurden.[13] Allerdings kritisierten einige Romanisten, darunter Marcel Bataillon, dass Lazarillo die kriminelle Ader fehle, die einen typischen Schelm ausmacht.[14] Dies veranlasste wiederum Michael Nerlich im Jahr 1968 zu einem Plädoyer für Lázaro, in dessen Untertitel er jedoch den Begriff „Gattung“ in Anführungszeichen setzt.

Mit Mateo Alemán, dem Autor des Guzmán de Alfarache (1599), bedient sich erstmals nachweislich ein converso (wenn auch laut Warning nur über Vorfahren)[11] des Genres. Das Werk macht den Schelmenroman in Spanien populär und findet viele Nachahmer. Miguel de Cervantes verfasst 1613 die Novelle Rinconete y Cortadillo. Don Quijote enthält pikareske Episoden, kann aber nicht genuin als Schelmenroman gesehen werden. Ein weiterer Vertreter des Genres ist die Historia de la vida del Buscón (1626) von Francisco de Quevedo.

Als Sonderfall kann der 1618 erschienene Roman Marcos de Obregón von Vicente Espinel gelten, dessen gleichnamiger Held aus gutem Hause stammt, seine Mitmenschen häufig moralisierend zurechtweist und sich nur in wenigen Szenen wie ein typischer pícaro verhält.[15] Dies ist nach Jürgen Jacobs wohl auch der Grund, warum Ludwig Tieck im Jahr 1827 eine von seiner Tochter Dorothea Tieck angefertigte und von ihm selbst ausführlich kommentierte Übersetzung des Romans publizierte.[16] Durch Tiecks Auswahl einer „harmonisierenden“ Variante des Schelmenromans fand dieses Genre, das mit dem bürgerlichen Geist des frühen 19. Jahrhunderts so gar nicht vereinbar ist, dennoch Eingang in die deutsche Literaturszene der Romantik.[15]

Verbreitung in Europa

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Der spanische Schelmenroman findet bald in ganz Europa Nachahmer. In England z. B. Thomas Nashes The Unfortunate Traveller (1594), in Frankreich z. B. Charles Sorels Francion (1622–1633). In Deutschland erscheinen Übersetzungen, die oft erweitert werden. In der Barockliteratur ist der Schelmenroman neben dem höfisch galanten und dem Schäferroman eine der drei Romanformen.

Prägend für den deutschen Schelmenroman war die lose auf dem Original und dessen Fortsetzung durch Juan Martí basierende Übertragung des Guzmán de Alfarache von Aegidius Albertinus, die 1615 unter dem Titel Der Landstörtzer erschien.[17] Albertinus, der die Gegenreformation unterstützte, kürzte den Text um einige Handlungsstränge, wertete die Rollen einzelner Figuren um und führte die über den Text verstreuten Reflexionen des bekehrten Guzmán in einem belehrenden Schlussteil zusammen.[17] Trotzdem hatte die Übertragung einigen Erfolg und beeinflusste mehrere deutschsprachige Autoren, die später selbst Schelmenromane veröffentlichten.[18] Zu diesen zählte auch Hieronymus Dürer, dessen 1668 erschienener Text Lauf der Welt und Spiel des Glücks als erster deutschsprachiger Schelmenroman gilt.[18] Im selben Jahr erschien auch Der abenteuerliche Simplicissimus von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, der oft zu den wichtigsten nicht-spanischen Schelmenromanen gezählt wird.[19] Da Simplicissimus jedoch nicht die typischen Charakteristika eines pícaro (niedere Geburt, Streben nach sozialem Aufstieg und ans Kriminelle grenzende Streiche) aufweist, ist diese Zuordnung umstritten.[1] Einige Germanisten, darunter Jürgen Jacobs, sehen den Roman eher als „produktive Aufnahme der pikaresken Muster“.[18] Ähnlich verhält es sich mit Christian Reuters Reise- und Lügenroman Schelmuffsky von 1696/97.

Nach dem 17. Jahrhundert erschienene Romane bedienen sich zwar auch manchmal schelmischer Protagonisten, werden aber nicht mehr zu den Schelmenromanen im engeren Sinn gerechnet. Ähnlichkeiten bestehen in der Ich-Erzählung, im retrospektiven Erzählen und in der Wahl der Froschperspektive.[20] Zudem wird den Figuren oft eine „Narren- oder Zwergmaske“ aufgesetzt, unter der sie sich frei von sozialen Konventionen bewegen und so ihr scheinbar rechtschaffenes Umfeld demaskieren können.[20]

18. Jahrhundert

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Im 18. Jahrhundert gewann der Abenteuerroman zunehmend an Beliebtheit und auch literarische Schelmenfiguren wie Quevedos Buscón wurden in Neuauflagen als Abenteurer vermarktet.[21] So erhielt beispielsweise die deutsche Übersetzung von Alain-René Lesages Roman Gil Blas (1726) den Untertitel Der spanische Robinson und weist sich damit als (vermutlich zu kommerziellen Zwecken vom Verleger inszenierte) Robinsonade aus.[21]

Dennoch wurde Gil Blas ebenso wie einige Werke von Henry Fielding häufig zu den Nachfolgern des Schelmenromans gezählt.[19] Insbesondere bei Gil Blas ist zwischen dem ersten Teil und den beiden Fortsetzungen des Romans eine Abwendung des Autors vom Pikaresken zu beobachten: Während der erste Teil durch seine „lockere Episodenreihung, die Linearität in der Zeit, die Identität von Abenteuer und Kapitel, autobiographische Ich-Form und Retrospektive“[22] sowie den „satirisch-entlarvende[n] Gang“[22] des Protagonisten durch die Gesellschaft als typisches Beispiel für einen Schelmenroman erscheint, werden laut Winfried Wehle genau diese Charakteristika in den Fortsetzungen vernachlässigt. Bildung wird im zweiten und dritten Teil zum Mittel, mit dem der frühere Schelm seine Ziele (auch diese sind für das Genre untypisch, da er immer höhere Ämter anstrebt) erreicht.[22]

Im deutschen Sprachraum greift Johann Gottfried Schnabel in seinen Romanen Insel Felsenburg (1731–43) und Der im Irrgarten der Liebe herum taumelnde Cavalier (1738) auf die Tradition des Schelmenromans zurück. In beiden Fällen gibt es allerdings Argumente dagegen: Bei der Insel Felsenburg sind nur die Geschehnisse in der äußeren Welt, nicht aber jene auf der Insel selbst von pikaresken Elementen gekennzeichnet[23] und im Cavalier dient das Pikareske lediglich zum Schutz des „schlecht kaschierten Darstellungsinteresses“, nämlich der unzensierten Schilderung lasziver Abenteuer.[24] Auch in der 1794 erschienenen Biographie eines Pudels von Gottlieb Konrad Pfeffel ist der Hauptzweck die Unterhaltung der Leser, obwohl sich mitunter eine Annäherung an das „schelmenhafte Erzählparadigma“[25] feststellen lässt.

19. Jahrhundert

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Das 19. Jahrhundert brachte den Schelmenroman nach Russland. Zwar kann Der Spötter (1766) von Michail Čulkov als früher Vertreter der Gattung gelten, aber sein Erscheinen blieb weitgehend folgenlos für die pikareske Tradition Russlands.[26] Erst der 1814 erschienene Roman Ein russischer Gil Blas von Wassili Trofimowitsch Nareschny stieß eine länger anhaltende Rezeption an.[27] Insbesondere Die toten Seelen von Nikolai Wassiljewitsch Gogol werden häufig als pikaresk bezeichnet. Dem Schriftsteller John Cournos zufolge habe Gogol seine Erzählweise zum Teil aus spanischen, zum Teil aus britischen Schelmenromanen entlehnt und daraus seine Version der „russischen Seele“ geschaffen.[26]

Im Deutschland des 19. Jahrhunderts hingegen entwickelte sich der Schelmenroman immer mehr zu einer Randerscheinung. Wie Jürgen Jacobs feststellt, ging mit der Herausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft eine Abkehr vom Schelmenroman zugunsten der „Bildungs- und Entwicklungsgeschichten“ einher, in denen der Protagonist „eine Versöhnung von Ich und Welt“ anstrebt.[28] Dennoch erschienen im 19. Jahrhundert einige Übersetzungen der spanischen Schelmenromane, darunter Dorothea Tiecks Leben und Begebenheiten des Escudero Marcos Obregon oder Autobiographie des spanischen Dichters Vicente Espinel (1827).

Aufgrund seiner episodischen Struktur und der häufig präsenten Gesellschaftssatire wurde auch Heinrich Heines Aus den Memoiren des Herrn v. Schnabelewopski (1834) zu den Schelmenromanen gezählt. Das entspricht auch der frühen Rezeption des Textes durch den Literarhistoriker Wolfgang Menzel, der den Schnabelewopski mit dem „Geist der älteren spanischen Romane“ verglich.[29] Dennoch zeigt Heines träger, genussorientierter Protagonist wenig von der kriminell orientierten Eigeninitiative des spanischen Pikaro, weshalb der Text nicht als typischer Schelmenroman gelten kann. Jürgen Jacobs spricht in diesem Zusammenhang von einer „Neubelebung des pikaresken Erzählens“.[29]

20. Jahrhundert

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Im 20. Jahrhundert gewann das pikareske Erzählen wieder an Beliebtheit, was häufig auf das erhöhte Krisenbewusstsein nach den beiden Weltkriegen zurückgeführt wird.[30] Dennoch ist eine Zuordnung zur Gattung des Schelmenromans in vielen Fällen problematisch. Oft werden einzelne Eigenschaften der Pikaro-Gestalt herausgegriffen, die im Text eine bestimmte Funktion erfüllen. Ein prominentes Beispiel dafür ist Der brave Soldat Schwejk (1920/1923) von Jaroslav Hašek, der ähnlich dem Simplicissimus eine schelmisch-kritische Perspektive auf den Krieg einnimmt.[31] Albert Vigoleis Thelen hingegen betont in seinem Roman Die Insel des zweiten Gesichts (1953) die Nähe des Schelmenromans zur Autobiographie. Da er seinem Protagonisten den eigenen Namen gibt, aber dennoch eine fiktive Ebene einführt, lässt sich der Text als Autofiktion beschreiben.[30]

Eine Schelmenfigur im ursprünglichen Sinn, die sich durch „moralische Fragwürdigkeit und Durchtriebenheit“[30] auszeichnet, taucht jedoch erst in Thomas Manns Romanfragment Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954) wieder auf. Thomas Mann war sich dieser Ähnlichkeit zum spanischen pícaro durchaus bewusst und förderte durch entsprechende Kommentare zum Buch dessen Rezeption als Schelmenroman.[32] Allerdings ist dies nicht die einzige Deutungsmöglichkeit, da der Roman mit verschiedenen Gattungscharakteristika spielt und „ein sehr komplexes Verhältnis zur Tradition besitzt, das sich nicht durch Verwendung eines bestimmten Etiketts befriedigend umschreiben lässt“.[32]

Eine weitere und neben Felix Krull wohl die bekannteste Schelmenfigur des 20. Jahrhunderts ist Oskar Matzerath aus dem 1959 erschienenen Roman Die Blechtrommel von Günter Grass. Die pikaresken Elemente beschränken sich jedoch hauptsächlich auf die Erzählform, während Oskar selbst kein typischer Schelm ist.[33] Dennoch wird der Text allgemein als „originelle und äußerst vitale Verwandlung und Fortsetzung“ der pikaresken Tradition betrachtet.[33]

21. Jahrhundert

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Auch im 21. Jahrhundert lassen sich vereinzelt Anspielungen auf den Schelmenroman feststellen, etwa bei folgenden Texten:

Englischer Pikarismus

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In Großbritannien reicht die pikareske Erzähltradition auf die Texte von George Whetstone und Thomas Nashe zurück, die im 16. Jahrhundert das britische „low life“ beschrieben.[24] Das Genre entwickelte sich zunächst unabhängig von der spanischen Tradition, bis Richard Head und Francis Kirkman mit The English Rogue (1665) auch auf die spanischen Schelmenromane Bezug nahmen.[24] Dennoch etablierte sich der Begriff des „englischen Pikarismus“, den Daniel Defoe mit seinem 1722 erschienenen Roman Moll Flanders nachhaltig prägte.[24] Auch Tobias Smollett wird häufig zu den Vertretern des englischen Pikarismus gezählt.[1]

Wiktionary: Schelmenroman – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
  1. a b c d e J. A. Garrido Ardila: Introduction: Transnational Picaresque. In: Philological Quarterly. Band 89, Nr. 1, 2010.
  2. a b Carolin Struwe: Episteme des Pikaresken. Modellierungen von Wissen im frühen deutschen Pikaroroman. Walter de Gruyter, Berlin / Boston 2016 (google.at).
  3. Richard Mellein: Petronius. In: Thomas Paulsen (Hrsg.): Kindler kompakt. Literatur der Antike (= Kindler kompakt). J.B. Metzler, Stuttgart 2017, ISBN 978-3-476-04362-7, S. 170.
  4. a b Richard Mellein, Peter Kuhlmann: Lucius Apuleius. In: Thomas Paulsen (Hrsg.): Kindler kompakt. Literatur der Antike (= Kindler kompakt). J.B. Metzler, Stuttgart 2017, ISBN 978-3-476-04362-7, S. 191.
  5. Johann Christoph Bürgel: Gesellschaftskritik im Schelmengewand. Überlegungen zu den Makamen al Hamadhanis und al-Hairis. Walter Dostal zum 65. Geburtstag. In: Asiatische Studien. Zeitschrift der Schweizerischen Asiengesellschaft. Band 45, Nr. 2. Peter Lang, Bern / Frankfurt am Main / New York / Paris / Wien 1991, S. 228.
  6. Wilhelm Grube: Geschichte der chinesischen Litteratur. C. F. Amelangs Verlag, Leipzig 1902, S. 418 (archive.org).
  7. Bote, Hermann. In: Projekt Gutenberg. Projekt Gutenberg-DE, abgerufen am 16. Juni 2020.
  8. M. J. Aichmayr: Der Symbolgehalt der Eulenspiegel-Figur im Kontext der europäischen Narren- und Schelmenliteratur. Kümmerle Verlag, Göppingen 1991 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik. Band 541), ISBN 3-87452-782-4.
  9. Rainer Warning: Narrative Arbeit am Mythos vom göttlichen Schelm. Quevedos "Buscón". In: Jan Mohr, Carolin Struwe, Michael Waltenberger (Hrsg.): Pikarische Erzählverfahren. Zum Roman des 17. und 18. Jahrhunderts (= Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext. Band 206). Walter de Gruyter, Berlin / Boston 2016, ISBN 978-3-11-051618-0, S. 38.
  10. a b c Rainer Warning: Narrative Arbeit am Mythos vom göttlichen Schelm. Quevedos "Buscón". In: Jan Mohr, Carolin Struwe, Michael Waltenberger (Hrsg.): Pikarische Erzählverfahren. Zum Roman des 17. und 18. Jahrhunderts (= Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext. Band 206). Walter de Gruyter, Berlin / Boston 2016, ISBN 978-3-11-051618-0, S. 39.
  11. a b Rainer Warning: Narrative Arbeit am Mythos vom göttlichen Schelm. Quevedos "Buscón". In: Jan Mohr, Carolin Struwe, Michael Waltenberger (Hrsg.): Pikarische Erzählverfahren. Zum Roman des 17. und 18. Jahrhunderts (= Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext. Band 206). Walter de Gruyter, Berlin / Boston 2016, ISBN 978-3-11-051618-0, S. 40 f.
  12. Pícaro. In: PONS | Spanisch-Deutsch. PONS GmbH, 2020, abgerufen am 21. Juni 2020.
  13. Alexander Samson: Lazarillo de Tormes and the dream of a world without poverty. In: J. A. Garrido Ardila (Hrsg.): The Picaresque Novel in Western Literature. From the Sixteenth Century to the Neopicaresque. Cambridge University Press, Cambridge 2015.
  14. Michael Nerlich: Plädoyer für Lázaro. Bemerkungen zu einer „Gattung“. In: Fritz Schalk (Hrsg.): Romanische Forschungen. Band 80. Klostermann, Frankfurt am Main 1968, S. 355 f.
  15. a b Jürgen Jacobs: Der Pícaro im bürgerlichen Zeitalter. Zu Ludwig Tiecks Übersetzung des Marcos de Obregón und zu seiner Novelle Wunderlichkeiten. In: Arcadia. Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft. Band 24, Nr. 3. Walter de Gruyter, 1989, S. 365.
  16. Jürgen Jacobs: Der Pícaro im bürgerlichen Zeitalter. Zu Ludwig Tiecks Übersetzung des Marcos de Obregón und zu seiner Novelle Wunderlichkeiten. In: Arcadia. Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft. Band 24, Nr. 3. Walter de Gruyter, 1989, S. 364.
  17. a b Jürgen Jacobs: Der deutsche Schelmenroman. Eine Einführung. Artemis Verlag, München / Zürich 1983, ISBN 3-7608-1306-2, S. 39 f.
  18. a b c Jürgen Jacobs: Der deutsche Schelmenroman. Eine Einführung. Artemis Verlag, München / Zürich 1983, ISBN 3-7608-1306-2, S. 41.
  19. a b Ernest Schonfield: Brecht and the Modern Picaresque. In: Godela Weiss-Sussex, Robert Gillett (Hrsg.): „Verwisch Die Spuren!“ Bertolt Brecht’s Work and Legacy. A Reassessment. 2008, S. 57.
  20. a b Pavel Mazura: Zwei Beispiele des Schelmenromans in deutscher Literatur, Diplomarbeit, Brno 2010, S. 17–31
  21. a b Jürgen Jacobs: Der deutsche Schelmenroman. Eine Einführung. Artemis Verlag, München / Zürich 1983, ISBN 3-7608-1306-2, S. 75.
  22. a b c Winfried Wehle: Zufall und epische Integration. Wandel des Erzählmodells und Sozialisation des Schelms in der Histoire de Gil Blas de Santillane. In: Olaf Deutschmann, Hans Flasche, Rudolf Grossmann, Wido Hempel, Erich Köhler, Margot Kruse, Walter Pabst, Hermann Tiemann (Hrsg.): Romanistisches Jahrbuch. Band 23. Walter de Gruyter, Dezember 1972, ISSN 1613-0413, S. 109 f.
  23. Janet Bertsch: The Whole Story. Language, Narrative and Salvation in Bunyan, Defoe, Grimmelshausen and Schnabel. Submitted in fulfilment of the requirements for the degree of Doctor of Philosophy, University of London. London 2000, S. 49.
  24. a b c d Jürgen Jacobs: Der deutsche Schelmenroman. Eine Einführung. Artemis Verlag, München / Zürich 1983, ISBN 3-7608-1306-2, S. 80.
  25. Frederike Middelhoff: Literarische Autozoographien. Figurationen des autobiographischen Tieres im langen 19. Jahrhundert (= Cultural Animal Studies. Band 7). J.B. Metzler, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-476-05512-5, S. 255.
  26. a b Gautam Chakrabarti: Enigmatic Subversions of the Picaresque. In: Jens Elze (Hrsg.): Das Enigma des Pikaresken. The Enigma of the Picaresque (= Germanistisch-Romanische Monatsschrift. Beiheft 87). Winter, Heidelberg 2018, S. 112 f.
  27. Jürgen Jacobs: Der deutsche Schelmenroman. Eine Einführung. Artemis Verlag, München / Zürich 1983, ISBN 3-7608-1306-2, S. 85.
  28. Jürgen Jacobs: Der Pícaro im bürgerlichen Zeitalter. Zu Ludwig Tiecks Übersetzung des Marcos de Obregón und zu seiner Novelle Wunderlichkeiten. In: Arcadia. Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft. Band 24, Nr. 3. Walter de Gruyter, 1989, S. 363.
  29. a b Jürgen Jacobs: Der deutsche Schelmenroman. Eine Einführung. Artemis Verlag, München / Zürich 1983, ISBN 3-7608-1306-2, S. 86 f.
  30. a b c Jürgen Jacobs: Der deutsche Schelmenroman. Eine Einführung. Artemis Verlag, München / Zürich 1983, ISBN 3-7608-1306-2, S. 108 f.
  31. Werner Wintersteiner: “Nichts als der Tod und die Satire”. Grimmelshausens Kriegskritik aus heutiger Perspektive. In: Tobias Bulang, Sabine Seelbach, Ulrich Seelbach (Hrsg.): Daphnis. Band 47, Nr. 1–2. Brill | Rodopi, März 2019, ISSN 1879-6583, S. 371.
  32. a b Jürgen Jacobs: Der deutsche Schelmenroman. Eine Einführung. Artemis Verlag, München / Zürich 1983, ISBN 3-7608-1306-2, S. 98.
  33. a b Jürgen Jacobs: Der deutsche Schelmenroman. Eine Einführung. Artemis Verlag, München / Zürich 1983, ISBN 3-7608-1306-2, S. 120 f.
  34. Der Schriftsteller Ingo Schulze im Gespräch mit Alf Mentzer. Archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 9. September 2017; abgerufen am 9. September 2017.
  35. „Wie alles begann und wer dabei umkam“. Todesurteil für die böse Oma. Abgerufen am 16. Februar 2021.