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„Schulmedizin“ – Versionsunterschied

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'''Schulmedizin''', '''universitäre Medizin''', '''wissenschaftliche Medizin''' und '''Hochschulmedizin''' sind Bezeichnungen für die an [[Universität]]en und ihnen gleichgestellten wissenschaftlichen [[Hochschule]]n in aller Welt gelehrte und allgemein anerkannte [[Medizin]].<ref>Klaus Dietrich Bock: ''Wissenschaftliche und alternative Medizin: Paradigmen—Praxis—Perspektiven.'' Springer-Verlag, Berlin/ Heidelberg 1993, S. 1.</ref>
Als '''Schulmedizin''' wird umgangssprachlich die [[Medizin]] bezeichnet, die an [[Universität]]en und Hochschulen gelehrt wird.


„Schulmedizin“ wurde ursprünglich als abwertender [[Kampfbegriff]] in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Vertretern der [[Homöopathie]] und [[Naturheilkunde]] geprägt und verbreitet. Die Bezeichnung ist bis heute in Gebrauch, um heilkundliche Lehren und Praktiken, die zum Lehrinhalt der akademischen [[Medizin]] gehören, von der [[Alternativmedizin]] abzugrenzen.<ref>Wolfgang Uwe Eckart, Robert Jütte: ''Medizingeschichte – Eine Einführung.'' UTB-Verlag, 2007, S. 338.</ref> Als Ersatzbegriff wurde „wissenschaftlich orientierte Medizin“ vorgeschlagen.<ref name=Positionspapier />
Der Begriff wird (manchmal polemisch) zur Abgrenzung von [[Alternativmedizin]], [[Außenseitermethode]]n, [[Besondere Therapierichtungen|Besonderen Therapierichtungen]], [[Erfahrungsmedizin]], [[Ganzheitsmedizin]], [[Glaubensmedizin]], [[Komplementärmedizin]], [[Naturheilkunde]] oder [[Paramedizin]] benutzt.


== Geschichte ==
== Prinzipien der Schulmedizin ==
Der Ausdruck „Schulmedizin“ lässt sich von der mittelalterlichen Bezeichnung für medizinische Ausbildungsstätten herleiten (beispielsweise [[Schule von Salerno]], auch ''Medizinschule von Salerno'' genannt, lateinisch ''Schola (medica) Salernitana''), woraus sich als „Hohe Schulen“ die [[Hochschule]]n (insbesondere die [[Universität]]en) entwickelt haben: Der Begriff ''Schola medicinae'', bzw. englisch ''School of medicine'', wurde auch im Sinne von „medizinischer Lehre oder Ausbildung“ benutzt.<ref>William Rowley: ''[https://archive.org/details/b2840743x Schola medicinae; or, the new universal history and school of medicine].'' London 1803.</ref>


=== Historische Kontexte im 19. und frühen 20. Jahrhundert ===
Die "Schulmedizin" oder (besser) "wissenschaftliche Medizin" fühlt sich den [[Naturwissenschaft]]en, der [[Psychologie]] und den [[Sozialwissenschaft]]en verpflichtet und wendet deren Erkenntnisse in Forschung und Praxis an. Dabei ist sie kritisch gegenüber den eigenen Methoden und Lehren. Im Idealfall sind schulmedizinische Verfahren durch klinische Studien und deren Kritik in ihrer Wirksamkeit und Problematik belegt. Allerdings gibt es auch in der "Schulmedizin" [[Mode]]n und unbewiesene Lehrmeinungen. Es findet aber ein stetiger Prozess der Verbesserung und [[Qualitätssicherung in der Medizin|Qualitätssicherung]] statt.


==== Allopathie versus Staatsmedicin ====
Ein Ansatz, der sich vor allem auf [[Statistik|statistische]] [[Erkenntnis]]se stützt, ist die [[evidenzbasierte Medizin]].
Bevor der Begriff „Schulmedizin“ für die an den Universitäten gelehrte Medizin aufkam, wurde vom Begründer der Homöopathie, [[Samuel Hahnemann]], der Begriff „[[Allopathie]]“ geprägt. „Allopathie“ avancierte rasch zur Sammelbezeichnung für ein breites Spektrum konventioneller Therapien, zu denen Hahnemanns Heilkunst – aber nicht nur sie – im Gegensatz stand.<ref name="Gerabek S. 45">Robert Jütte: ''Alternativmedizin.'' In: [[Werner E. Gerabek]], Bernhard D. Haage, [[Gundolf Keil]], Wolfgang Wegner: ''Enzyklopädie Medizingeschichte.'' [[Walter de Gruyter]], 2005, ISBN 3-11-097694-3, S. 45 f.</ref> In der 1831 veröffentlichten Schrift ''Die Allöopathie. Ein Wort der Warnung an Kranke jeder Art.'' warnt Hahnemann vor den Ärzten sowie der Arzneikunst „alter Schule“.<ref>Samuel Hahnemann: ''Die Allöopathie. Ein Wort der Warnung an Kranke jeder Art.'' Leipzig, 1831. [https://books.google.de/books?id=ORk4AAAAMAAJ&printsec=frontcover&hl=de#v=onepage&q&f=false In Google books].</ref> Die so von ihm Etikettierten und Angegriffenen empfanden den Begriff „Allopathie“ als rufschädigend. [[Goethe]]s Arzt [[Christoph Wilhelm Hufeland|Christoph Wilhelm Friedrich Hufeland]] schlug vor, sich statt des „viel zu engen, ja, ganz falschen Worts Allopathie“ immer des Worts „rationelle Medizin“ zu bedienen. Denn der wesentliche Unterschied der bisherigen wissenschaftlichen Medizin gegen die homöopathische sei „eben das Begründetseyn auf Vernunft und Vernunftschluß“. Hufelands Vorschlag vermochte sich in den Reihen der medizinischen Orthodoxie nicht durchzusetzen, und man bevorzugte bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts den weitgehend wertneutralen Begriff „[[Staatsmedizin|Staatsmedicin]]“.<ref name="Gerabek S. 45" /> Auf den Staat bezog sich im Jahr 1994 auch noch der medizinkritische Chirurg und Autor [[Julius Hackethal]], der das Wort „Schulmedizin“ als „Oberbegriff für die im Staatsauftrag gelehrte und praktizierte sowie staatlich geduldete Gesundheitshilfe“ verstand.<ref>Julius Hackethal: ''Auf Messers Schneide. Kunst und Fehler der Chirurgen.'' Rowohlt, Reinbek 1976; Lizenzausgabe im Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1995 (= ''Bastei-Lübbe-Taschenbuch.'' Band 60391), ISBN 3-404-60391-5, S. 7–15(''Geleitwort'' von 1994), hier: S. 7.</ref>


==== Zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ====
Die Stärken der "Schulmedizin" bestehen unter anderem in der Behandlung von akuten Erkrankungen und Verletzungen, in der chirurgischen Intervention sowie in vielen Formen der medikamentösen Therapie.
Als sich Mitte des 19. Jahrhunderts die [[Zellularpathologie]] etablierte und die jahrhundertealte [[Humoralpathologie]] der naturwissenschaftlich-analytischen, mit quantifizierenden Methoden arbeitenden empirischen Medizin weichen musste und nachdem sich seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ein gänzlich neues Methodeninstrumentarium entwickelt hatte, gewann die naturwissenschaftlich geprägte Richtung in der Medizin an Einfluss. Zugleich gerieten die Anhänger der Homöopathie, des [[Mesmerismus]], der Naturheilkunde und anderer medizinischer Richtungen ins Abseits und wurden zusehends als „[[Quacksalber]]“ und „[[Kurpfuscher]]“<ref>Robert Jütte: ''Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute.'' C.H. Beck, München 1996, ISBN=3-406-40495-2, S. 18–23 (''„Quacksalberei“ kontra „zünftige“ Medizin (um 1800)'') und 32–42 (''„Kurpfuscherei“ kontra „Schulmedizin“ (1880–1932)'').</ref> abgelehnt. Im Gegensatz zum gegenwärtig viel weiter gefassten Begriff „Naturheilkunde“ waren deren damalige Vertreter, die so genannten „Naturärzte“ (eine Bezeichnung, die sowohl für Naturheilkunde ausübende approbierte Ärzte als auch für Naturheilverfahren bei Erkrankten anwendende medizinische Laien benutzt wurde<ref>Robert Jütte: ''Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute.'' Beck, München 1996, ISBN 3-406-40495-2, S. 124 und öfter.</ref>), der Ansicht, Naturerkenntnis sei nur durch die natürlichen menschlichen [[Instinkt]]e zu erwerben, nicht durch [[Wissenschaft]]. Maßgeblich war für sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die von dem bayrischen Militärarzt [[Lorenz Gleich]] (1798–1865) entwickelte „Lehre vom Naturinstinkt“. Lorenz Gleich führte (unter Rückgriff auf den von ihm nicht zitierten Christoph Wilhelm Hufeland) nicht nur den Begriff „Naturinstinkt“, sondern auch den der Naturheilkunde allgemein ein<ref>[[Gundolf Keil]]: ''Vegetarisch.'' In: ''Medizinhistorische Mitteilungen. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte und Fachprosaforschung.'' Band 34, 2015 (2016), S. 29–68, S. 42.</ref> und verstand darunter „Naturheilverfahren ohne Medicin im schneidenden Gegensatz zum Heilverfahren mit Medicin“. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verschärften sich die Auseinandersetzungen der approbierten Ärzteschaft mit den gesetzlich tolerierten Laienheilern und deren umstrittenen Verfahren, nachdem diese mancherorts die Kassenzulassung erreicht hatten. Auf den deutschen Ärztetagen wurden wiederholt Resolutionen verabschiedet, die vom Gesetzgeber ein Verbot der „[[Kurpfuscherei]]“ forderten.<ref name="Gerabek S. 46">Robert Jütte: ''Alternativmedizin.'' In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner: ''Enzyklopädie Medizingeschichte.'' Walter de Gruyter, 2005, ISBN 3-11-097694-3, S. 46 f.</ref><ref>[[Helmut Zander]]: ''Anthroposophie in Deutschland.'' Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, S. 1459 f.</ref> Nach der Entdeckung der [[Mikroorganismen]] durch [[Louis Pasteur]] und [[Robert Koch]] entstand die [[Bakteriologie]]. [[Impfung|Impfmittel]], Immunisierungs- und [[Antikörper]] wurden entwickelt. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden immer mehr Krankenhäuser eingerichtet. Im Rahmen der [[Sozialgesetzgebung|Bismarck’schen Sozialgesetze]] von 1883 wurden die neuen medizinischen Errungenschaften und die sozialstaatlich ermöglichten Therapien breitenwirksam angewendet. Zeitgleich fand ein weitreichender Umbau des Medizinwesens statt: Vorklinische Fächer wurden an die gewonnenen Erkenntnisse der [[Sinnesphysiologie]] angepasst. Neue Forschungsgebiete, wie die [[Hygiene]], die [[Ernährungsphysiologie]], die [[Pharmakologie]] oder die [[Endokrinologie]], wurden entwickelt. Noch vor 1900 erfolgte eine Ausdifferenzierung in die heute etablierten medizinischen Fachrichtungen: [[Orthopädie]], [[Kinderheilkunde]], [[Dermatologie]], [[Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde]], [[Neurologie]], [[Psychiatrie]] usw. Technische diagnostische und therapeutische Erfindungen wie die Blutdruckmessung, mikroskopische Blutdiagnosen, die Röntgentechnik, die Analyse von Körperausscheidungen und die Elektrodiagnose setzten sich in der Praxis durch. Die Organ-, Nerven- und Gefäßchirurgie machte schnelle Fortschritte. [[Hauttransplantation]]en wurden vorgenommen und das [[Wundfieber]] durch [[aseptisch]]e und [[antiseptisch]]e Maßnahmen zurückgedrängt.<ref>Helmut Zander: ''Anthroposophie in Deutschland.'' Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, S. 1460.</ref>


In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte der Begriff „Allopathie“ durch die ständige Wiederholung bereits viel von seiner ursprünglichen Schärfe eingebüßt. Der deutsche [[Pathologe]] und [[Prähistoriker]] [[Rudolf Virchow]] verwendete Bezeichnungen wie „naturwissenschaftliche Medizin“ oder „medizinische Wissenschaft“, um sich von den spekulativen, romantisch-naturphilosophischen Strömungen in der Medizin des 19. Jahrhunderts abzugrenzen. Diese Bezeichnungen transportierten aber nicht die von Homöopathen und [[Lebensreform#Naturheilkunde|Naturheilbewegung]] erwünschten, negativen und abwertenden [[Konnotation#Konnotation im Sinne von Nebenbedeutung|Konnotationen]], um den alten Begriff „Allopathie“ im Kampf gegen die hauptsächlich an den Universitäten gelehrte Medizin ablösen zu können.<ref name="Gerabek S. 46" />
== Historische Entwicklung der Schulmedizin ==


=== Verbreitung des Begriffes Schulmedizin ===
In der historischen Entwicklung sind folgende "Meilensteine" zu nennen (ohne antike Vorläufer und arabische Medizin):
Der deutsche Begriff „Schulmedizin“ wurde wahrscheinlich erstmals 1876 vom [[Homöopathie|homöopathisch]] orientierten Arzt [[Franz Fischer (Mediziner)|Franz Fischer]] (1817–1878) aus [[Weingarten (Württemberg)]]<ref>Fritz D. Schroers: ''Fischer, Franz.'' In: ''Lexikon deutschsprachiger Homöopathen.'' Georg Thieme Verlag, 2006, ISBN 3-8304-7254-4, S.&nbsp;32. [http://books.google.de/books?id=-r7N05iFFKoC&pg=PA32&lpg=PA32 (Auszug bei Google Books)]</ref> in den ''Homöopathischen Monatsblättern'', der Mitgliedszeitung des Laienvereins „Hahnemannia“, verwendet.<ref name="Lucae">Christian Lucae: ''2.2 Zu den Begriffen „Homöopathie“, „Allopathie“ und „Schulmedizin“.'' In: ''Homöopathie an deutschsprachigen Universitäten: die Bestrebungen zu ihrer Institutionalisierung von 1812 bis 1945.'' Georg Thieme Verlag, 1998, ISBN 3-7760-1689-2, S.&nbsp;22.</ref> Fischer war der Ansicht, dass die zeitgenössische „Schulmedizin“ ältere Erfahrungen der Ärzte längst vergessen habe.<ref name="Merta-2003">Sabine Merta: ''Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult: Diätkost und Körperkultur als Suche nach neuen Lebensstilformen 1880-1930'', Franz Steiner Verlag, 2003, ISBN 3-5150-8109-7; S.&nbsp;76.</ref> Die Bedeutung von „Schulmedizin“ als Schlagwort hatte er noch nicht erkannt. Fischer verwendete auch Begriffe wie „Staatsmedizin“, „Allopathie“ und „medizinische Wissenschaft“.<ref name="Lucae" /> In Homöopathen-Kreisen als Kampfbegriff popularisiert wurde „Schulmedizin“ Anfang der 1880er Jahre aufgrund des publizistischen Einsatzes des [[Stettin]]er Laienhomöopathen [[Heinrich Milbrot]],<ref name="Jütte_2004">Robert Jütte: ''Von den medizinischen Sekten des 19. Jahrhunderts zu den unkonventionellen Richtungen von heute – Anmerkungen eines Medizinhistorikers.'' In: [http://www.ezw-berlin.de/downloads/Materialdienst_10_2004.pdf ''Materialdienst der EZW'', 10/2004], S.&nbsp;369.</ref> der „Schulmedizin“ stets als abwertenden Begriff anstelle von „Allopathie“ benutzte.<ref>Robert Jütte: ''Geschichte der Alternativen Medizin.'' Beck, München 1996, S.&nbsp;35.</ref> Milbrot verwendete den Begriff „Schulmedizin“ konsequent seit 1881 in der ''Populären Zeitschrift für Homöopathie''.<ref name="Lucae" />


Dem Kampf der Homöopathieanhänger schlossen sich Protagonisten der Naturheilkunde an. Nach Meinung der Naturheilkundler waren das zunehmende „Spezialistentum“ und der als übertrieben bewertete, wissenschaftliche „Forschungsdrang“ schuld daran, dass die „[[ganzheitlich]]e“ Betrachtungsweise des Menschen von der „Partialdiagnose“ der zellular-pathologischen Krankheitslehre verdrängt wurde.<ref name="Merta-2003" /> Mit Konzepten der Naturheilkunde sollten die im Verwissenschaftlichungsprozess der Medizin beiseite gedrängte humoralpathologische [[Harmonie]]lehre und [[Diätetik]] wieder aufgewertet werden.<ref name="Merta-2008">Sabine Merta: ''Schlank! Ein Körperkult der Moderne'', Franz Steiner Verlag, 2008, ISBN 978-3-515-09229-6; S.&nbsp;19.</ref>
'''[[1140]]''' König [[Roger II. (Sizilien)|Roger II.]] von [[Sizilien]] genehmigt die erste überlieferte [[Studienordnung]] für Medizin


Im Verlauf der Auseinandersetzung wurde der Begriff „Schulmedizin“ auch von einzelnen Vertretern der naturwissenschaftlichen Richtungen in der Medizin akzeptiert und verwendet.<ref name="Gerabek S. 46" /> Dem Medizinhistoriker [[Robert Jütte]] zufolge kann man um das Jahr 1900 von einer allgemeinen Verbreitung und Akzeptanz des Begriffes sprechen. [[Rudolf Virchow]]s Aufsatz ''Zum neuen Jahrhundert'' lasse sich entnehmen, dass sich der einst ideologisch stark belastete Begriff „Schulmedizin“ zu einer weitgehend wertneutralen Sammelbezeichnung für die herrschende Richtung in der Medizin gewandelt hatte.<ref name="Jütte_2004" />
'''[[1231]]''' [[Edikt von Salerno]] (auch "Constitutiones" oder Medizinalordnung) durch [[Friedrich_II._%28HRR%29|Kaiser Friedrich II]], die Berufe [[Arzt]] und [[Apotheker]] werden getrennt


=== Antisemitisch konnotierte Begriffsverwendung ===
'''[[1543]]''' erster belegter [[Kaiserschnitt]];
{{Hauptartikel|Medizin im Nationalsozialismus}}
A. Vesal veröffentlicht das erste vollständige Lehrbuch der [[Anatomie]]
In den ersten Jahren der [[NS-Zeit]] (1933–1945) erfuhren Laienheilkundige und nicht-schulmedizinisch tätige Ärzte (Naturärzte, Homöopathen) zunächst eine erhebliche Aufwertung, weil die Schulmedizin unter [[Nationalsozialist]]en als „jüdisch-marxistisch“ durchsetzt, zu stark [[sozialmedizin]]isch orientiert und zu therapiefreudig galt.<ref>Robert Jütte: ''Geschichte der Alternativen Medizin.'' Beck, München 1996, S. 45.</ref> Universitäten und Ärzteschaft im [[Deutschland]] der 1920er und 1930er Jahre galten unter [[Antisemit]]en als „verjudet“.<ref>Saul Friedländer: ''Das Dritte Reich und die Juden.'' C.H. Beck, 2007, ISBN 978-3-406-56681-3, S. 118.</ref> In diesem Kontext verwendeten antisemitisch eingestellte Kritiker der etablierten Medizin in den 1930er Jahren den Kampfbegriff „verjudete Schulmedizin“, um ihrer Forderung nach einer „gesunden Volksmedizin“ bzw. der „[[Neue Deutsche Heilkunde|Neuen deutschen Heilkunde]]“ Nachdruck zu verleihen. Gemeint war damit eine stärkere Bedeutung für naturheilkundliche Ansätze und Verfahren in der medizinischen Praxis.<ref>Caris-Petra Heidel: ''Naturheilkunde und Judentum: Medizin und Judentum.'' Mabuse-Verlag, 2008, S. 169, [http://books.google.de/books?id=uZweAQAAIAAJ&q=verjudete+Schulmedizin&dq=verjudete+Schulmedizin&hl=de&sa=X&ei=iY1kUfa0FeuQ4gTpzYGYCg&ved=0CD8Q6AEwAw online] in Google Bücher.</ref><ref>Wolfgang Wegner, Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil: ''Enzyklopädie Medizingeschichte.'' De Gruyter, 2004, S. 855, ([http://books.google.de/books?id=LLoOUP-y54YC&lpg=PA855&dq=verjudete%20Schulmedizin&hl=de&pg=PA855#v=onepage&q=verjudete%20Schulmedizin&f=false online] in Google Bücher)</ref> Der im ''Bund völkischer Europäer'' engagierte Publizist und Volksschullehrer im Ruhestand, [[Karl Weinländer]], benutzte 1934 den Begriff „verjudete und verfreimaurerte Schulmedizin“, um zu kritisieren, dass die akademischen Vertreter der gerade neu etablierten [[Rassenkunde]] zu diesem Thema bereits vorliegende und seiner Ansicht nach wertvolle [[Werk (Urheberrecht)|Werke]] als „unwissenschaftlich“ und „nicht den Anforderungen des Nationalsozialismus entsprechend“ zurückwiesen. Gemeint waren [[Traktat]]e von Autoren wie ihm selbst. Als Folge dieser Schulmedizin fehle es jungen Ärzten an „Erfahrung und Schulung auf rassekundlichem Gebiet“. Stattdessen hätten sie „nach den Weisungen hoher judenfreundlicher Rassenwissenschaftler die weltpolitischen Interessen des hebräischen Bundes in der Rassenfrage vielleicht unbewusst zu vertreten“.<ref>Martin Finkenberger: ''Weinländer, Karl.'' In: Wolfgang Benz: ''Handbuch des Antisemitismus.'' Band 8: ''Nachträge und Register.'' Walter de Gruyter, 2015, ISBN 978-3-11-037945-7, S. 145–146.</ref>


== Ersatzbegriffe ==
'''[[1628]]''' Entdeckung des [[Blutkreislauf|Blutkreislaufes]] durch [[William Harvey]] ([[1578]]-[[1657]])
Der Internist [[Johannes Köbberling]], Mitglied der [[Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft]],<ref>Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: [http://www.akdae.de/Kommission/Organisation/Mitglieder/AOM/Koebberling.html ''Kurzbiographie J. Köbberling'']</ref> kritisierte 1998 die Verwendung des Begriffs „Schulmedizin“ zur Bezeichnung der „eigentlichen Medizin“ als [[Pejorativ|abwertend]]: Zwar könne man den Begriff wohlwollend so interpretieren, dass dies die Medizin sei, die an Hochschulen gelehrt wird. Jedoch habe schon Samuel Hahnemann den Ausdruck „Schulmedizin“ verwendet, um die zu seiner Zeit etablierte Medizin abzuqualifizieren. „[[Schule (Wissenschaft)|Schule]]“ habe in diesem Zusammenhang ein starres, unflexibles System bedeutet, das in festen Denkstrukturen verhaftet und unfähig zu [[Innovation]]en sei. Die wissenschaftliche Medizin vertrete aber gerade nicht ein geschlossenes System, sondern sei dadurch gekennzeichnet, dass sie sich kontinuierlich in Frage stellt. Der Begriff „Schulmedizin“ besage so genau das Gegenteil von dem, was ausgedrückt werden müsste. Köbberling habe sich deshalb angewöhnt, den Begriff konsequent zu vermeiden und von Medizin schlechthin zu sprechen bzw. von wissenschaftlicher Medizin, wenn die Abgrenzung zur „unwissenschaftlichen Medizin“ oder [[Paramedizin]] beabsichtigt sei.<ref>Johannes Köbberling: {{Webarchiv|url=http://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Die_AWMF/Service/Gesamtarchiv/AWMF-Konferenz/Der_Begriff_der_Wissenschaft_in_der_Medizin.pdf |wayback=20180219115721 |text=''Der Begriff der Wissenschaft in der Medizin'' |archiv-bot=2023-01-07 14:48:10 InternetArchiveBot }} (PDF; 85&nbsp;kB). In: {{Webarchiv|url=http://www.awmf.org/service/gesamtarchiv/awmf-konferenz/duesseldorf-6-maerz-1998.html |wayback=20170109034405 |text=''Die Wissenschaft in der Medizin – Wert und öffentliche Darstellung'' |archiv-bot=2023-01-07 14:48:10 InternetArchiveBot }}. (Tagung der [[Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften]], 6. März 1998)</ref>


In einem Positionspapier aus dem Jahr 2015 kommt er gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Arzneimittelkommission zu dem Schluss, dass es „überzogen“ wäre, „von der vorfindlichen Schulmedizin als ‚wissenschaftlicher Medizin‘ zu reden“. Mit und in der Medizin müsse gehandelt werden „und dies allzu oft, ohne befriedigende (validierte oder gar wissenschaftlich erklärte) Therapien etc. an der Hand zu haben“. Die „wissenschaftliche Medizin“ sei vielmehr ein Ideal, an dem sich die Schulmedizin ausrichte. Diese solle man daher richtiger als „wissenschaftlich orientierte Medizin“ bezeichnen und damit nicht jeden einzelnen ihrer Vertreter „und gewiss nicht jede ihrer Praktiken, sondern das Gesamtunterfangen mit seiner Grundorientierung meinen“.<ref name=Positionspapier>Manfred Anlauf, Lutz Hein, Hans-Werner Hense, Johannes Köbberling, Rainer Lasek, Reiner Leidl, Bettina Schöne-Seifert: [http://www.egms.de/static/de/journals/gms/2015-13/000209.shtml ''Komplementäre und alternative Arzneitherapie versus wissenschaftsorientierte Medizin.''] In: ''GMS Ger Med Sci.'' 13, 2015, Doc05. [[doi:10.3205/000209]].</ref>
'''[[1661]]''' Entdeckung der [[Kapillare|Blutkapillaren]] durch [[Marcellus Malpighi]] ([[1628]]-[[1694]])


== Siehe auch ==
'''[[1673]]''' [[Antonie van Leeuwenhoek]] ([[1632]]-[[1723]]) beginnt mit selbstgebauten [[Mikroskop]]en verschiedene Untersuchungen. Er entdeckt [[Bakterien]], [[Spermien]] und [[rote Blutkörperchen]]
* [[Evidenzbasierte Medizin]]

'''[[1761]]''' [[Giovanni Battista Morgagni]] ([[1682]]-[[1771]]) begründet die pathologische [[Anatomie]] als Lehre von Organveränderungen

'''[[1796]]''' erste [[Pocken|Pockenimpfung]] mit [[Kuhpocken]] durch [[Edward Jenner]] ([[1749]]-[[1823]])

'''[[1844]]''' erste [[Narkose]] mit [[Lachgas]] durch [[Horace Wells]] ([[1815]]-[[1848]])

'''[[1846]]''' erste Narkose mit [[Ether]] durch [[William Thomas Green Morton]] ([[1819]]-[[1868]])

'''[[1847]]''' das [[Kindbettfieber]] wird erstmalig durch [[Ignaz Semmelweis|Ignaz Philipp Semmelweis]] ([[1818]]-[[1865]]) durch Einsatz von [[Desinfektion|desinfizierendem]] [[Chlor]]wasser erfolgreich bekämpft

'''[[1854]]''' [[Louis Pasteur]] ([[1822]]-[[1895]]) stellt [[Mikroorganismen]] als Ursache der alkoholischen [[Gärung]] und von Krankheiten fest

'''[[1858]]''' [[Rudolf Virchow]] ([[1821]]-[[1902]]) nimmt als Ursache von Krankheiten Veränderungen der Zellen an, er begründet die [[Zellularpathologie]]

'''[[1882]]''' [[Robert Koch]] ([[1843]]-[[1910]]) entdeckt den [[Tuberkulose|Tuberkelbazillus]] und wird zum Begründer der [[Bakteriologie]], weitere Erreger [[Cholera]], [[Pest]] oder [[Milzbrand]] folgen

'''[[1884]]''' [[Elie Metchnikoff]] ([[1845]]-[[1916]]) findet [[weiße Blutkörperchen]], die [[Bakterien]] fressen

'''[[1890]]''' [[Emil von Behring|Emil Adolf von Behring]] ([[1854]]-[[1917]]) entwickelt ein [[Serum]] gegen [[Diphtherie]] und erhält dafür [[1901]] den [[Nobelpreis]] für Medizin

'''[[1895]]''' [[Wilhelm Conrad Röntgen]] ([[1845]]-[[1923]]) entdeckt die nach ihm benannte [[Röntgenstrahlung|Strahlung]]

'''[[1896]]''' [[Ludwig Rehn]] gelingt die erste erfolgreiche Herznaht

'''[[1901]]''' Konstruktion des Saitengalvanometers durch [[Willem Einthoven]] ([[1860]]-[[1927]]), Beginn der [[Elektrokardiographie]], [[1924]] erhielt er dafür den Nobelpreis für Medizin

'''[[1902]]''' [[Karl Landsteiner]] ([[1868]]-[[1943]]) entdeckt die [[Blutgruppen]] A, B, und O sowie den [[Rhesusfaktor]]; Landsteiner erhält dafür [[1937]] den Nobelpreis für Medizin

'''[[1903]]''' [[Ferdinand Sauerbruch]] ([[1875]]-[[1951]]) führt erstmalig [[Lunge]]noperationen in [[Unterdruckkammer]]n durch

'''[[1910]]''' Der Nobelpreisträger [[Paul Ehrlich]] ([[1854]]-[[1915]]) entwickelt [[Salvarsan]] gegen [[Syphilis]]

'''[[1911]]''' Begründung der [[Neurochirurgie]] durch O. Förster

'''[[1921]]''' erstmalige Isolation von [[Insulin]] aus tierischen Bauchspeicheldrüsen durch [[Frederick Banting]] und [[Charles Best]] ([[1899]]-[[1978]])

'''[[1929]]''' Entdeckung des [[Penicillin|Penicillins]] durch [[Alexander Fleming]]([[1881]] - [[1955]]); Erprobung des ersten [[Herzkatheter]]s durch [[Theodor Forßmann]] ([[1904]]-[[1979]]); Erstmalige Aufnahme von [[Gehirnstrom|Hirnströmen]] ([[Elektroenzephalografie|EEG]]) durch H. Berger

'''[[1934]]''' Entdeckung der Wirkung von [[Sulfonamid|Sulfonamiden]] durch G. Domagk

'''[[1941]]''' Einführung des Penicillins zur Bekämpfung von [[Infektionskrankheiten]]

'''[[1946]]''' [[Nürnberger Ärzteprozess]]

'''[[1954]]''' [[Impfung|Impfstoff]] gegen [[Kinderlähmung]]

'''[[1957]]''' Einführung der [[Ultraschalluntersuchung]] bei [[Schwangerschaft|Schwangerschaften]]

'''[[1967]]''' Erste [[Transplantation|Herztransplantation]] durch [[Christiaan Barnard]] ([[1922]]-[[2001]])

'''[[1979]]''' Einführung der [[Computertomographie]]

'''[[1980]]''' Die [[WHO]] erklärt die [[Pocken]]viren für ausgerottet; in den [[USA]] wird das Auftreten der neuen Seuche [[AIDS]] bekannt

== Problematik des Begriffs "Schulmedizin" ==

Der Begriff "Schulmedizin" ist problematisch:
*"[[Schule]]" suggeriert eine feste Lehrmeinung, die in festen Denkstrukturen verhaftet und unfähig zu Innovationen ist. Die wissenschaftliche Medizin vertritt aber nicht ein geschlossenes System, sondern ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich kontinuierlich in Frage stellt.
*Naturheilkunde ist inzwischen durchaus Bestandteil der sogenannten "Schulmedizin"; [[Homöopathie]] ist beispielsweise als Zusatzbezeichnung in den ärztlichen Weiterbildungsordnungen erfasst; die [[Traditionelle Chinesische Medizin]] wird auch an Hochschulen gelehrt.

=== Zur Geschichte ===

Der Begriff stammt aus dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts. 1876 hatte ihn der homöopathische Arzt Franz Fischer aus Weingarten in einem Brief an die Redaktion der Laienzeitschrift „Homöopathische Monatsblätter“ geprägt. Fischers Äußerung fußt wohl auch auf einer Mitteilung [[Samuel Hahnemann|Hahnemanns]], die dieser 1832 veröffentlicht hatte und die gegen [[Humoralpathologie|humoralpathologische]] Therapieansätze gerichtet war. In ihr ist von "Medizinern der Schule" die Rede. Die damaligen "schulmedizinischen" Behandlungsansätze hatten natürlich nichts mit der heutigen Hochschulmedizin gemein. Sie bezogen sich auf die sog. allopathische Medizin, die im 19. Jahrhundert auf der Basis der [[Galenus|Galen]]'schen Säftelehre beruhte.

Populär wurde der Begriff in homöopathischen Kreisen Anfang der 1880er Jahre. Auch einzelne Vertreter der naturwissenschaftlichen Richtung in der Medizin gebrauchten ihn in der Auseinandersetzung mit der Naturheilkunde, und zwar im durchaus zustimmenden Sinne.
Um die Jahrhundertwende kann man von einer allgemeinen Verbreitung und Akzeptanz des Begriffs „Schulmedizin“ sprechen, und zwar als weitgehend wertneutrale Sammelbezeichnung für die herrschende Richtung in der Heilkunde.

Zur Zeit des [[Nationalsozialismus]] wurde der Begriff benutzt, um die vorwiegend jüdische Ärzteschaft zu diffamieren und statt dessen die gesunde "[[Volksmedizin]]" bzw. eine "[[Neue Deutsche Heilkunde]]" (als Gegenstück zur "verjudeten Schulmedizin") zu propagieren. Im Oktober [[1933]] veröffentlichte [[Reichsärzteführer]] Dr. Gerhard Wagner im „Deutschen Ärzteblatt“ einen Aufruf an „alle Ärzte Deutschlands, die sich mit biologischen Heilverfahren befassen“. Darin ist unter anderem zu lesen, dass es Heilmethoden gebe, die nicht im Einklang mit der Schulmedizin stünden, aber dennoch Erfolge aufweisen würden und die der an der Universität gelehrten "einseitigen Schulmedizin" häufig sogar überlegen seien. (vgl. hierzu auch: Robert Jütte, ''Von den medizinischen Sekten des 19. Jahrhunderts zu den unkonventionellen Richtungen von heute'', [http://www.bildung-mv.de/download/tagungsberichte/Juette-Vortrag.pdf])

== Kritik an der Schulmedizin ==

Der oben stehende kurze Blick in die Medizingeschichte gibt einen Eindruck von den heftigen Auseinandersetzungen zwischen "Schulmedizin" und anderen Sichtweisen. Im Lauf dieser Geschichte wurden sehr unterschiedliche Aspekte der Schulmedizin kritisiert. Aktuell stehen folgende Kritikpunkte im Vordergrund:

* Die Schulmedizin sei zu sehr medizinisch-technisch orientiert ("Apparatemedizin"); sie vernachlässige die Zuwendung zum Patienten. Insgesamt werde der naturwissenschaftlich nicht fassbare Bereich des Seelisch-Geistigen vernachlässigt.
* Die Schulmedizin habe große Schwächen bei der Behandlung von chronischen Erkrankungen (ausgenommen invasive Interventionen) und vor allen Dingen bei deren Prävention. Beispielsweise unterstützten viele symptomorientierte Behandlungsstrategien nicht die Selbstheilungskräfte des Körpers und seien dadurch ineffektiv bis schädlich.
* Bei aller Notwendigkeit zu wissenschaftlicher Exaktheit bestehe eine zu große abhängige Gläubigkeit an Studien, deren korrekte Interpretation oft sehr schwierig ist.
* Die Abhängigkeit von der medizintechnischen und pharmazeutischen Industrie gefährde die wissenschaftliche Freiheit.
* Der zunehmende Zwang zur juristischen Absicherung ("Justifizierung") bestimme immer mehr das diagnostische und therapeutische Handeln und mache besonders die Diagnostik sehr teuer.

== Zum Verhältnis von Schulmedizin und anderen Sichtweisen ==

Faktisch werden in den westlichen Industriegesellschaften sowohl von vielen Patienten als auch von einer wachsenden Zahl von Ärzten neben schulmedizinischen häufig alternativmedizinische Angebote genutzt bzw. gemacht. Von einer systematischen Kooperation oder gar Integration verschiedener medizinischer Grundkonzepte kann jedoch bisher nicht die Rede sein. Allenfalls gibt es eine „asymmetrische Koexistenz“, bei der an medizinischen Fakultäten fast ausschließlich Schulmedizin vermittelt und angewandt wird, in weiten Bereichen der ambulanten medizinischen Versorgung dagegen die Nutzung von Komplementärmedizin verbreitet ist.

: ''"Mehr als 40 Prozent aller Patienten in den USA nutzen alternative Therapiemethoden, und die Anzahl der Patientenbesuche bei komplementärmedizinischen Ärzten beziehungsweise Heilpraktikern übersteigt mittlerweile die Patientenbesuche bei Praktischen Ärzten. ... Allgemein geht man davon aus, dass knapp drei Viertel aller Deutschen Erfahrungen mit Naturheilverfahren haben. ... Im Jahr 2000 gab es in Deutschland rund 35 000 Ärzte (das entspricht mehr als zehn Prozent aller Ärzte) mit Zusatzbezeichnungen in komplementärmedizinischen Bereichen, vor allem Chirotherapie, Naturheilverfahren und Homöopathie.'' (nach: ''Schulmedizin und Komplementärmedizin: Verständnis und Zusammenarbeit müssen vertieft werden'', Deutsches Ärzteblatt 101 vom 7.5.2004)

In Deutschland versucht neuerdings ein „Dialogforum Pluralismus in der Medizin“ einen kritischen Dialog innerhalb der Ärzteschaft zwischen den unterschiedlichen Richtungen in der Medizin zu verfolgen.


== Literatur ==
== Literatur ==
* Stefan Becker: ''Das Recht der Hochschulmedizin.'' Springer-Verlag, 2006, ISBN 3-540-24191-4.
* [[Robert Jütte]]: [https://web.archive.org/web/20070315133549/http://www.bildung-mv.de/download/tagungsberichte/Juette-Vortrag.pdf ''Von den medizinischen Sekten des 19. Jahrhunderts zu den unkonventionellen Richtungen von heute – Anmerkungen eines Medizinhistorikers''], mit einer Darstellung der Geschichte des Begriffs „Schulmedizin“ (PDF)
* Robert Jütte: ''Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute.'' C.H. Beck, München 1996, ISBN 3-406-40495-2, S. 32–42: ''„Kurpfuscherei“ kontra „Schulmedizin“ (1880–1932)''.
* ''Schulmedizin.'' In: ''Roche Lexikon Medizin.'' 5. Auflage. Urban & Fischer, München/Jena 2003, ISBN 3-437-15156-8.


== Weblinks ==
*Axel W. Bauer: ''Geschichte der Schulmedizin'', in: UNIVERSITAS, 52. Jahrgang 1997, Heft 2
{{Wiktionary}}
*Peter Hahn: ''Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit in der Medizin'', in: Walter Pieringer, Franz Ebner (Hrsg.): ''Zur Philosophie der Medizin'', Springer, Wien, New York 2000, S. 35-53
* {{Internetquelle |autor=Christian Kreil |url=https://www.derstandard.at/story/2000109455158/wie-viel-nazi-ideologie-steckt-im-begriff-schulmedizin |titel=Wie viel Nazi-Ideologie steckt im Begriff "Schulmedizin"? |werk=[[Der Standard]] |hrsg= |datum=2019-11-14 |abruf=2020-03-06 |sprache=}}
*Jakob Henle: ''Medizinische Wissenschaft und Empirie'', Zeitschrift für Rationelle Medicin 1 (1844) 1-35
*Roy Porter: ''Die Kunst des Heilens'', Spektrum Akademischer Verlag 2003, ISBN 3-8274-1454-7, 818 Seiten. (Historisch detaillierte, gut lesbare Darstellung der Wurzeln der "Schulmedizin", mit einigen unnötigen Polemiken gegenüber der "Alternativmedizin".)
*Manfred Stöhr: ''Ärzte, Heiler, Scharlatane. Schulmedizin und alternative Heilverfahren auf dem Prüfstand'', Steinkopff Verlag, 2001, 216 Seiten
* Thure von Uexküll, Wolfgang Wesiack: ''Theorie der Humanmedizin: Grundlagen ärztlichen Denkens und Handelns'', Urban und Schwarzenberg, München - Wien - Baltimore, 3. Auflage 1998

=== Kritische Literatur ===

*Jörg Blech: ''Die Krankheitserfinder. Wie wir zu Patienten gemacht werden.'', ISBN 310004410X
*Ivan Illich: ''Die Nemesis der Medizin'', ISBN 3406392040
*Herbert Immich: ''Medizinische Statistik'' ISBN 3794503155 (Lehrbuch der medizinischen Statistik, mit Beispielen von "schulmedizinischen" Fehlschlüssen. Nicht mehr neu aufgelegt)
*Kurt Langbein, Bert Ehgartner: ''Das Medizinkartell '', ISBN 3492044077
*Petr Skrabanek, James McCormick: ''Torheiten und Trugschlüsse in der Medizin'', Mainz ISBN 3874090949. Das Buch unterzieht die Medizin insgesamt einer sehr kritischen Würdigung aus naturwissenschaftlicher Sicht.

==Siehe auch==


== Einzelnachweise ==
[[Portal Medizin]] - [[Arzt]] - [[Doppelblindversuch]] - [[Gesundheitssystem]] - [[Liste bedeutender Mediziner und Ärzte]] - [[Liste medizinischer Fachgebiete]] - [[Liste der Nobelpreisträger für Physiologie oder Medizin]] - [[Medizin]] - [[Medizinethik]] - [[Medizinische Wirksamkeit]] - [[Medizingeschichte]] - [[Neue Entwicklungen in der Medizin]] - [[Plazebo]] - [[Randomisation]] - [[Signifikanz]] - [[Therapie]]
<references />


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==Weblinks==
*[http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/konfer/wissmed3.htm Der Begriff der Wissenschaft in der Medizin]
*[http://www.go2life.ch/d/buch/band1/3-3.shtml Schulmedizin kontra Alternativmedizin?]
*[http://www.patienteninfo-berlin.de/index.php4?request=themen&topic=354&type=infotext Unterschiede zwischen Schulmedizin, Klassischen Naturheilverfahren, alternativer Medizin]
*[http://www.dialogforum-pluralismusindermedizin.de Dialogforum Pluralismus in der Medizin]


[[Kategorie:Gesundheitswesen]]
[[en:Allopathic medicine]]

Aktuelle Version vom 22. Dezember 2024, 16:31 Uhr

Schulmedizin, universitäre Medizin, wissenschaftliche Medizin und Hochschulmedizin sind Bezeichnungen für die an Universitäten und ihnen gleichgestellten wissenschaftlichen Hochschulen in aller Welt gelehrte und allgemein anerkannte Medizin.[1]

„Schulmedizin“ wurde ursprünglich als abwertender Kampfbegriff in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Vertretern der Homöopathie und Naturheilkunde geprägt und verbreitet. Die Bezeichnung ist bis heute in Gebrauch, um heilkundliche Lehren und Praktiken, die zum Lehrinhalt der akademischen Medizin gehören, von der Alternativmedizin abzugrenzen.[2] Als Ersatzbegriff wurde „wissenschaftlich orientierte Medizin“ vorgeschlagen.[3]

Der Ausdruck „Schulmedizin“ lässt sich von der mittelalterlichen Bezeichnung für medizinische Ausbildungsstätten herleiten (beispielsweise Schule von Salerno, auch Medizinschule von Salerno genannt, lateinisch Schola (medica) Salernitana), woraus sich als „Hohe Schulen“ die Hochschulen (insbesondere die Universitäten) entwickelt haben: Der Begriff Schola medicinae, bzw. englisch School of medicine, wurde auch im Sinne von „medizinischer Lehre oder Ausbildung“ benutzt.[4]

Historische Kontexte im 19. und frühen 20. Jahrhundert

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Allopathie versus Staatsmedicin

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Bevor der Begriff „Schulmedizin“ für die an den Universitäten gelehrte Medizin aufkam, wurde vom Begründer der Homöopathie, Samuel Hahnemann, der Begriff „Allopathie“ geprägt. „Allopathie“ avancierte rasch zur Sammelbezeichnung für ein breites Spektrum konventioneller Therapien, zu denen Hahnemanns Heilkunst – aber nicht nur sie – im Gegensatz stand.[5] In der 1831 veröffentlichten Schrift Die Allöopathie. Ein Wort der Warnung an Kranke jeder Art. warnt Hahnemann vor den Ärzten sowie der Arzneikunst „alter Schule“.[6] Die so von ihm Etikettierten und Angegriffenen empfanden den Begriff „Allopathie“ als rufschädigend. Goethes Arzt Christoph Wilhelm Friedrich Hufeland schlug vor, sich statt des „viel zu engen, ja, ganz falschen Worts Allopathie“ immer des Worts „rationelle Medizin“ zu bedienen. Denn der wesentliche Unterschied der bisherigen wissenschaftlichen Medizin gegen die homöopathische sei „eben das Begründetseyn auf Vernunft und Vernunftschluß“. Hufelands Vorschlag vermochte sich in den Reihen der medizinischen Orthodoxie nicht durchzusetzen, und man bevorzugte bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts den weitgehend wertneutralen Begriff „Staatsmedicin“.[5] Auf den Staat bezog sich im Jahr 1994 auch noch der medizinkritische Chirurg und Autor Julius Hackethal, der das Wort „Schulmedizin“ als „Oberbegriff für die im Staatsauftrag gelehrte und praktizierte sowie staatlich geduldete Gesundheitshilfe“ verstand.[7]

Zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts

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Als sich Mitte des 19. Jahrhunderts die Zellularpathologie etablierte und die jahrhundertealte Humoralpathologie der naturwissenschaftlich-analytischen, mit quantifizierenden Methoden arbeitenden empirischen Medizin weichen musste und nachdem sich seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ein gänzlich neues Methodeninstrumentarium entwickelt hatte, gewann die naturwissenschaftlich geprägte Richtung in der Medizin an Einfluss. Zugleich gerieten die Anhänger der Homöopathie, des Mesmerismus, der Naturheilkunde und anderer medizinischer Richtungen ins Abseits und wurden zusehends als „Quacksalber“ und „Kurpfuscher[8] abgelehnt. Im Gegensatz zum gegenwärtig viel weiter gefassten Begriff „Naturheilkunde“ waren deren damalige Vertreter, die so genannten „Naturärzte“ (eine Bezeichnung, die sowohl für Naturheilkunde ausübende approbierte Ärzte als auch für Naturheilverfahren bei Erkrankten anwendende medizinische Laien benutzt wurde[9]), der Ansicht, Naturerkenntnis sei nur durch die natürlichen menschlichen Instinkte zu erwerben, nicht durch Wissenschaft. Maßgeblich war für sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die von dem bayrischen Militärarzt Lorenz Gleich (1798–1865) entwickelte „Lehre vom Naturinstinkt“. Lorenz Gleich führte (unter Rückgriff auf den von ihm nicht zitierten Christoph Wilhelm Hufeland) nicht nur den Begriff „Naturinstinkt“, sondern auch den der Naturheilkunde allgemein ein[10] und verstand darunter „Naturheilverfahren ohne Medicin im schneidenden Gegensatz zum Heilverfahren mit Medicin“. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verschärften sich die Auseinandersetzungen der approbierten Ärzteschaft mit den gesetzlich tolerierten Laienheilern und deren umstrittenen Verfahren, nachdem diese mancherorts die Kassenzulassung erreicht hatten. Auf den deutschen Ärztetagen wurden wiederholt Resolutionen verabschiedet, die vom Gesetzgeber ein Verbot der „Kurpfuscherei“ forderten.[11][12] Nach der Entdeckung der Mikroorganismen durch Louis Pasteur und Robert Koch entstand die Bakteriologie. Impfmittel, Immunisierungs- und Antikörper wurden entwickelt. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden immer mehr Krankenhäuser eingerichtet. Im Rahmen der Bismarck’schen Sozialgesetze von 1883 wurden die neuen medizinischen Errungenschaften und die sozialstaatlich ermöglichten Therapien breitenwirksam angewendet. Zeitgleich fand ein weitreichender Umbau des Medizinwesens statt: Vorklinische Fächer wurden an die gewonnenen Erkenntnisse der Sinnesphysiologie angepasst. Neue Forschungsgebiete, wie die Hygiene, die Ernährungsphysiologie, die Pharmakologie oder die Endokrinologie, wurden entwickelt. Noch vor 1900 erfolgte eine Ausdifferenzierung in die heute etablierten medizinischen Fachrichtungen: Orthopädie, Kinderheilkunde, Dermatologie, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Neurologie, Psychiatrie usw. Technische diagnostische und therapeutische Erfindungen wie die Blutdruckmessung, mikroskopische Blutdiagnosen, die Röntgentechnik, die Analyse von Körperausscheidungen und die Elektrodiagnose setzten sich in der Praxis durch. Die Organ-, Nerven- und Gefäßchirurgie machte schnelle Fortschritte. Hauttransplantationen wurden vorgenommen und das Wundfieber durch aseptische und antiseptische Maßnahmen zurückgedrängt.[13]

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte der Begriff „Allopathie“ durch die ständige Wiederholung bereits viel von seiner ursprünglichen Schärfe eingebüßt. Der deutsche Pathologe und Prähistoriker Rudolf Virchow verwendete Bezeichnungen wie „naturwissenschaftliche Medizin“ oder „medizinische Wissenschaft“, um sich von den spekulativen, romantisch-naturphilosophischen Strömungen in der Medizin des 19. Jahrhunderts abzugrenzen. Diese Bezeichnungen transportierten aber nicht die von Homöopathen und Naturheilbewegung erwünschten, negativen und abwertenden Konnotationen, um den alten Begriff „Allopathie“ im Kampf gegen die hauptsächlich an den Universitäten gelehrte Medizin ablösen zu können.[11]

Verbreitung des Begriffes Schulmedizin

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Der deutsche Begriff „Schulmedizin“ wurde wahrscheinlich erstmals 1876 vom homöopathisch orientierten Arzt Franz Fischer (1817–1878) aus Weingarten (Württemberg)[14] in den Homöopathischen Monatsblättern, der Mitgliedszeitung des Laienvereins „Hahnemannia“, verwendet.[15] Fischer war der Ansicht, dass die zeitgenössische „Schulmedizin“ ältere Erfahrungen der Ärzte längst vergessen habe.[16] Die Bedeutung von „Schulmedizin“ als Schlagwort hatte er noch nicht erkannt. Fischer verwendete auch Begriffe wie „Staatsmedizin“, „Allopathie“ und „medizinische Wissenschaft“.[15] In Homöopathen-Kreisen als Kampfbegriff popularisiert wurde „Schulmedizin“ Anfang der 1880er Jahre aufgrund des publizistischen Einsatzes des Stettiner Laienhomöopathen Heinrich Milbrot,[17] der „Schulmedizin“ stets als abwertenden Begriff anstelle von „Allopathie“ benutzte.[18] Milbrot verwendete den Begriff „Schulmedizin“ konsequent seit 1881 in der Populären Zeitschrift für Homöopathie.[15]

Dem Kampf der Homöopathieanhänger schlossen sich Protagonisten der Naturheilkunde an. Nach Meinung der Naturheilkundler waren das zunehmende „Spezialistentum“ und der als übertrieben bewertete, wissenschaftliche „Forschungsdrang“ schuld daran, dass die „ganzheitliche“ Betrachtungsweise des Menschen von der „Partialdiagnose“ der zellular-pathologischen Krankheitslehre verdrängt wurde.[16] Mit Konzepten der Naturheilkunde sollten die im Verwissenschaftlichungsprozess der Medizin beiseite gedrängte humoralpathologische Harmonielehre und Diätetik wieder aufgewertet werden.[19]

Im Verlauf der Auseinandersetzung wurde der Begriff „Schulmedizin“ auch von einzelnen Vertretern der naturwissenschaftlichen Richtungen in der Medizin akzeptiert und verwendet.[11] Dem Medizinhistoriker Robert Jütte zufolge kann man um das Jahr 1900 von einer allgemeinen Verbreitung und Akzeptanz des Begriffes sprechen. Rudolf Virchows Aufsatz Zum neuen Jahrhundert lasse sich entnehmen, dass sich der einst ideologisch stark belastete Begriff „Schulmedizin“ zu einer weitgehend wertneutralen Sammelbezeichnung für die herrschende Richtung in der Medizin gewandelt hatte.[17]

Antisemitisch konnotierte Begriffsverwendung

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In den ersten Jahren der NS-Zeit (1933–1945) erfuhren Laienheilkundige und nicht-schulmedizinisch tätige Ärzte (Naturärzte, Homöopathen) zunächst eine erhebliche Aufwertung, weil die Schulmedizin unter Nationalsozialisten als „jüdisch-marxistisch“ durchsetzt, zu stark sozialmedizinisch orientiert und zu therapiefreudig galt.[20] Universitäten und Ärzteschaft im Deutschland der 1920er und 1930er Jahre galten unter Antisemiten als „verjudet“.[21] In diesem Kontext verwendeten antisemitisch eingestellte Kritiker der etablierten Medizin in den 1930er Jahren den Kampfbegriff „verjudete Schulmedizin“, um ihrer Forderung nach einer „gesunden Volksmedizin“ bzw. der „Neuen deutschen Heilkunde“ Nachdruck zu verleihen. Gemeint war damit eine stärkere Bedeutung für naturheilkundliche Ansätze und Verfahren in der medizinischen Praxis.[22][23] Der im Bund völkischer Europäer engagierte Publizist und Volksschullehrer im Ruhestand, Karl Weinländer, benutzte 1934 den Begriff „verjudete und verfreimaurerte Schulmedizin“, um zu kritisieren, dass die akademischen Vertreter der gerade neu etablierten Rassenkunde zu diesem Thema bereits vorliegende und seiner Ansicht nach wertvolle Werke als „unwissenschaftlich“ und „nicht den Anforderungen des Nationalsozialismus entsprechend“ zurückwiesen. Gemeint waren Traktate von Autoren wie ihm selbst. Als Folge dieser Schulmedizin fehle es jungen Ärzten an „Erfahrung und Schulung auf rassekundlichem Gebiet“. Stattdessen hätten sie „nach den Weisungen hoher judenfreundlicher Rassenwissenschaftler die weltpolitischen Interessen des hebräischen Bundes in der Rassenfrage vielleicht unbewusst zu vertreten“.[24]

Der Internist Johannes Köbberling, Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft,[25] kritisierte 1998 die Verwendung des Begriffs „Schulmedizin“ zur Bezeichnung der „eigentlichen Medizin“ als abwertend: Zwar könne man den Begriff wohlwollend so interpretieren, dass dies die Medizin sei, die an Hochschulen gelehrt wird. Jedoch habe schon Samuel Hahnemann den Ausdruck „Schulmedizin“ verwendet, um die zu seiner Zeit etablierte Medizin abzuqualifizieren. „Schule“ habe in diesem Zusammenhang ein starres, unflexibles System bedeutet, das in festen Denkstrukturen verhaftet und unfähig zu Innovationen sei. Die wissenschaftliche Medizin vertrete aber gerade nicht ein geschlossenes System, sondern sei dadurch gekennzeichnet, dass sie sich kontinuierlich in Frage stellt. Der Begriff „Schulmedizin“ besage so genau das Gegenteil von dem, was ausgedrückt werden müsste. Köbberling habe sich deshalb angewöhnt, den Begriff konsequent zu vermeiden und von Medizin schlechthin zu sprechen bzw. von wissenschaftlicher Medizin, wenn die Abgrenzung zur „unwissenschaftlichen Medizin“ oder Paramedizin beabsichtigt sei.[26]

In einem Positionspapier aus dem Jahr 2015 kommt er gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Arzneimittelkommission zu dem Schluss, dass es „überzogen“ wäre, „von der vorfindlichen Schulmedizin als ‚wissenschaftlicher Medizin‘ zu reden“. Mit und in der Medizin müsse gehandelt werden „und dies allzu oft, ohne befriedigende (validierte oder gar wissenschaftlich erklärte) Therapien etc. an der Hand zu haben“. Die „wissenschaftliche Medizin“ sei vielmehr ein Ideal, an dem sich die Schulmedizin ausrichte. Diese solle man daher richtiger als „wissenschaftlich orientierte Medizin“ bezeichnen und damit nicht jeden einzelnen ihrer Vertreter „und gewiss nicht jede ihrer Praktiken, sondern das Gesamtunterfangen mit seiner Grundorientierung meinen“.[3]

Wiktionary: Schulmedizin – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

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  1. Klaus Dietrich Bock: Wissenschaftliche und alternative Medizin: Paradigmen—Praxis—Perspektiven. Springer-Verlag, Berlin/ Heidelberg 1993, S. 1.
  2. Wolfgang Uwe Eckart, Robert Jütte: Medizingeschichte – Eine Einführung. UTB-Verlag, 2007, S. 338.
  3. a b Manfred Anlauf, Lutz Hein, Hans-Werner Hense, Johannes Köbberling, Rainer Lasek, Reiner Leidl, Bettina Schöne-Seifert: Komplementäre und alternative Arzneitherapie versus wissenschaftsorientierte Medizin. In: GMS Ger Med Sci. 13, 2015, Doc05. doi:10.3205/000209.
  4. William Rowley: Schola medicinae; or, the new universal history and school of medicine. London 1803.
  5. a b Robert Jütte: Alternativmedizin. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner: Enzyklopädie Medizingeschichte. Walter de Gruyter, 2005, ISBN 3-11-097694-3, S. 45 f.
  6. Samuel Hahnemann: Die Allöopathie. Ein Wort der Warnung an Kranke jeder Art. Leipzig, 1831. In Google books.
  7. Julius Hackethal: Auf Messers Schneide. Kunst und Fehler der Chirurgen. Rowohlt, Reinbek 1976; Lizenzausgabe im Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1995 (= Bastei-Lübbe-Taschenbuch. Band 60391), ISBN 3-404-60391-5, S. 7–15(Geleitwort von 1994), hier: S. 7.
  8. Robert Jütte: Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute. C.H. Beck, München 1996, ISBN=3-406-40495-2, S. 18–23 („Quacksalberei“ kontra „zünftige“ Medizin (um 1800)) und 32–42 („Kurpfuscherei“ kontra „Schulmedizin“ (1880–1932)).
  9. Robert Jütte: Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute. Beck, München 1996, ISBN 3-406-40495-2, S. 124 und öfter.
  10. Gundolf Keil: Vegetarisch. In: Medizinhistorische Mitteilungen. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte und Fachprosaforschung. Band 34, 2015 (2016), S. 29–68, S. 42.
  11. a b c Robert Jütte: Alternativmedizin. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner: Enzyklopädie Medizingeschichte. Walter de Gruyter, 2005, ISBN 3-11-097694-3, S. 46 f.
  12. Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, S. 1459 f.
  13. Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, S. 1460.
  14. Fritz D. Schroers: Fischer, Franz. In: Lexikon deutschsprachiger Homöopathen. Georg Thieme Verlag, 2006, ISBN 3-8304-7254-4, S. 32. (Auszug bei Google Books)
  15. a b c Christian Lucae: 2.2 Zu den Begriffen „Homöopathie“, „Allopathie“ und „Schulmedizin“. In: Homöopathie an deutschsprachigen Universitäten: die Bestrebungen zu ihrer Institutionalisierung von 1812 bis 1945. Georg Thieme Verlag, 1998, ISBN 3-7760-1689-2, S. 22.
  16. a b Sabine Merta: Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult: Diätkost und Körperkultur als Suche nach neuen Lebensstilformen 1880-1930, Franz Steiner Verlag, 2003, ISBN 3-5150-8109-7; S. 76.
  17. a b Robert Jütte: Von den medizinischen Sekten des 19. Jahrhunderts zu den unkonventionellen Richtungen von heute – Anmerkungen eines Medizinhistorikers. In: Materialdienst der EZW, 10/2004, S. 369.
  18. Robert Jütte: Geschichte der Alternativen Medizin. Beck, München 1996, S. 35.
  19. Sabine Merta: Schlank! Ein Körperkult der Moderne, Franz Steiner Verlag, 2008, ISBN 978-3-515-09229-6; S. 19.
  20. Robert Jütte: Geschichte der Alternativen Medizin. Beck, München 1996, S. 45.
  21. Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. C.H. Beck, 2007, ISBN 978-3-406-56681-3, S. 118.
  22. Caris-Petra Heidel: Naturheilkunde und Judentum: Medizin und Judentum. Mabuse-Verlag, 2008, S. 169, online in Google Bücher.
  23. Wolfgang Wegner, Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil: Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, 2004, S. 855, (online in Google Bücher)
  24. Martin Finkenberger: Weinländer, Karl. In: Wolfgang Benz: Handbuch des Antisemitismus. Band 8: Nachträge und Register. Walter de Gruyter, 2015, ISBN 978-3-11-037945-7, S. 145–146.
  25. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Kurzbiographie J. Köbberling
  26. Johannes Köbberling: Der Begriff der Wissenschaft in der Medizin (Memento des Originals vom 19. Februar 2018 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.awmf.org (PDF; 85 kB). In: Die Wissenschaft in der Medizin – Wert und öffentliche Darstellung (Memento des Originals vom 9. Januar 2017 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.awmf.org. (Tagung der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, 6. März 1998)