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„Deutsche Physik“ – Versionsunterschied

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[[Datei:Philippe Lenard - Deutsche Physik - 2. Band - Akustik und Wärmelehre, München Lehmann, 1936-1937.jpg|mini|Philipp Lenard. Deutsche Physik, 2. Band – Akustik und Wärmelehre. München, 1936–1937]]
Die Begriffe „'''Deutsche Physik'''“ oder „'''Arische Physik'''“ beziehen sich auf eine ideologisch festgelegte Grundhaltung deutschnationaler konservativer Physiker (vornehmlich traumatisch geprägt durch den gleichzeitigen Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie und des deutschen Kaiserreichs infolge des Ersten Weltkriegs) in der ersten Hälfte des [[20. Jahrhundert]]s, die der Poincaré-Lorentzschen Relativitätstheorie und der Quantenmechanik mit Skepsis gegenüberstanden.
Die sogenannte '''Deutsche Physik''', auch '''arische Physik''', war eine [[Nationalsozialismus|nationalsozialistisch]] geprägte Lehre, die einige deutsche Physiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vertraten und die die Physik mit [[Rassismus|rassistischen]] Ansichten vermischte. Sie lehnten die aufkommende [[moderne Physik]] als zu mathematisch und theoretisch ab und befürworteten eine stärkere Betonung der Rolle der [[Experimentalphysik|experimentellen Physik]]. Insbesondere sprachen sie sich gegen die von [[Albert Einstein]] entwickelte [[Relativitätstheorie]] und die [[Quantenmechanik]] aus und verwarfen deren Aussagen als zu wenig anschaulich und zu wenig intuitiv (so z. B. [[Unschärferelation]] und [[Welle-Teilchen-Dualismus]] in der Quantenmechanik bzw. [[Raum-Zeit-Kontinuum]] und [[Nichteuklidische Geometrie|nichteuklidische Raumgeometrie]] der Relativitätstheorie). Die Deutsche Physik war geprägt von dem [[Antisemitismus (bis 1945)|antisemitischen]] Gedankengut, das in der aufgeheizten politischen Stimmung der 1920er Jahre nach dem verlorenen [[Erster Weltkrieg|Weltkrieg]] in der politisch instabilen [[Weimarer Republik]] weit verbreitet war. Hinzu kam, dass viele führende theoretische Physiker und Vertreter der neuen Theorien jüdischer Abstammung waren.
''Deutsche Physik in vier Bänden'' (1936) lautet der Titel eines Lehrbuchs des Experimentalphysikers [[Philipp Lenard]], das die Entwicklungen der modernen Physik auf der Basis der klassischen, Galilei-Newtonschen Physik&nbsp;– etwa mit Hilfe der [[Äther (Physik)|Äther]]theorie&nbsp;– zu erklären versucht<ref>Philipp Lenard: ''Deutsche Physik in vier Bänden'', Lehmann, München 1936; Bd. 1: ''Einleitung und Mechanik'', Bd. 2: ''Akustik und Wärmelehre'', Bd. 3: ''Optik, Elektrostatik und Anfänge der Elektrodynamik'', Bd. 4: ''Magnetismus, Elektrodynamik und Anfänge von Weiterem.</ref>.


''Deutsche Physik'' ist auch der Titel eines vierbändigen Lehrbuches (1936) von [[Philipp Lenard]], das die Entwicklungen der modernen Physik auf der Basis der [[Klassische Physik|klassischen Physik]] etwa mit Hilfe der [[Äther (Physik)|Äthertheorie]] zu erklären versucht.
Die „Deutsche Physik“ war eine weitgehend auf den deutschsprachigen Raum begrenzte, bessere wissenschaftliche Tugenden für sich reklamierende physikalische Doktrin, die dazu aufrief, dem gesunden Menschenverstand entsprechende, brauchbarere Gegenkonzepte zu entwickeln. Die bekanntesten Vertreter sind die beiden Physik-Nobelpreisträger [[Philipp Lenard]] (1862–1947) und [[Johannes Stark]] (1874–1957). Wie der Titel des vierten Bandes des Lehrwerks Lenards vermuten läßt, war von Anfang an nicht die Vollständigkeit eines Nachschlagewerks angestrebt worden. Die Titelseite aller vier Bände enthält die Widmung: „Allen, die in wohlbegründeter Naturerkenntnis ihre geistige Ruhe suchen, zur Freude geschrieben.“


== Inhalte ==
== Kernaussage im Buch Lenards ==
Die ''Deutsche Physik'' ist eine weitgehend auf Deutschland begrenzte antisemitische Lehre; genauer handelte es sich um eine unter maßgebenden Fachvertretern nicht sehr weit verbreitete Bewegung, deren Beginn auf das Erscheinen von Philipp Lenards Werk ''Große Naturforscher'' 1929 datiert werden kann und die mit dem Zusammenbruch des [[Zeit des Nationalsozialismus|Dritten Reiches]] 1945 endet. Sie lehnte die [[moderne Physik]] –&nbsp;namentlich die [[Relativitätstheorie]] und [[Quantenmechanik]]&nbsp;– als ''jüdisch'' ab und entwickelte kaum Gegenkonzepte, außer einer als [[Mechanistisches Weltbild|mechanistisch]] zu bezeichnenden Grundeinstellung. Die prominentesten – aber in Fachkreisen von Anfang an weitgehend isolierten&nbsp;– Vertreter sind die beiden Physik-[[Nobelpreis]]träger [[Philipp Lenard]] (1862–1947) und [[Johannes Stark]] (1874–1957). Lenard war zudem von [[Adolf Hitler]] mit dem ''Preis der NSDAP für Kunst und Wissenschaft'' ausgezeichnet worden.<ref>Jörg Willer: ''Fachdidaktik im Dritten Reich am Beispiel der Physik.'' In: ''Medizinhistorische Mitteilungen. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte und Fachprosaforschung.'' Band 34, 2015, ISBN 978-3-86888-118-9, S. 105–121, hier: S. 105.</ref>
Im Vorwort zur 1. Auflage des vierbändigen Lehrbuchs Lenards von [[1936]] heißt es:


Für die ''Deutsche Physik'' existierte kein formales Programm, sie entwickelte sich in der Auseinandersetzung um die abstrakte moderne Physik in Veröffentlichungen und Vorträgen. Die bekannteste und immer wieder zitierte Definition stammt aus dem Vorwort von Lenards vierbändigem Lehrwerk ''Deutsche Physik'' von 1936, das –&nbsp;ohne dieses Vorwort&nbsp;– bis weit in die 1950er Jahre zur Lehre weiterverwendet wurde:
: „''‚Deutsche Physik?‘ wird man fragen. Ich hätte auch arische Physik oder Physik der nordisch gearteten Menschen sagen können, Physik der Wirklichkeits-Ergründer, der Wahrheits-Suchenden, Physik derjenigen, die Naturforschung begründet haben.&nbsp;– ‚Die Wissenschaft ist und bleibt international!‘ wird man mir einwenden wollen. Dem liegt aber immer ein Irrtum zugrunde. In Wirklichkeit ist die Wissenschaft, wie alles was Menschen hervorbringen, rassisch, blutsmäßig bedingt. [...] Naturforschung [...] hat kein Volk überhaupt je begonnen, ohne auf dem Nährboden schon vorhandener Eigenschaften von Ariern zu fußen.''“ (Lenard 1936, S. IX; siehe Referenzliste zu [[Philipp Lenard]].)
{{Zitat|‚Deutsche Physik‘? wird man fragen. Ich hätte auch arische Physik oder Physik der nordisch gearteten Menschen sagen können, Physik der Wirklichkeits-Ergründer, der Wahrheits-Suchenden, Physik derjenigen, die Naturforschung begründet haben. – ‚Die Wissenschaft ist und bleibt international!‘ wird man mir einwenden wollen. Dem liegt aber immer ein Irrtum zugrunde. In Wirklichkeit ist die Wissenschaft, wie alles was Menschen hervorbringen, rassisch, blutsmäßig bedingt. […] Naturforschung […] hat kein Volk überhaupt je begonnen, ohne auf dem Nährboden schon vorhandener Eigenschaften von [[Arier]]n zu fußen.|ref=<ref>''Vorwort.'' In: Philipp Lenard: ''Deutsche Physik.'' Band I, München 1936, S. IX.</ref>}}


Im weiteren führt Lenard aus, die wissenschaftliche Arbeit vollziehe sich „''in enger Zwiesprache mit Naturvorgängen''“: „''Der unverbildete deutsche Volksgeist sucht nach Tiefe, nach widerspruchsfreien Grundlagen des Denkens mit der Natur, nach einwandfreier Kenntnis vom Weltganzen''. Unmittelbare Fragen an die Natur können nach Lenards Ansicht nur durch das Experiment beantwortet werden, theoretische Überlegungen bauen darauf auf. Ergebnisse der experimentellen Untersuchungen müssten „''auf dem festen Boden der klassischen Physik''“ anschaulich beschrieben und erklärt werden.
Im Weiteren führt Lenard aus, die wissenschaftliche Arbeit vollziehe sich „in enger Zwiesprache mit Naturvorgängen“: „Der unverbildete deutsche [[Volksgeist#Nationalismus|Volksgeist]] sucht nach Tiefe, nach widerspruchsfreien Grundlagen des Denkens mit der Natur, nach einwandfreier Kenntnis vom Weltganzen.“ Unmittelbare Fragen an die Natur können nach Lenards Ansicht nur durch das Experiment beantwortet werden, theoretische Überlegungen bauen darauf auf. Ergebnisse der experimentellen Untersuchungen müssten „auf dem festen Boden der klassischen Physik“ anschaulich beschrieben und erklärt werden.

In späteren Auflagen ist dieses Vorwort nicht mehr enthalten. Lenards Lehrbuch enthält sonst keine vergleichbaren Einlassungen.

== Motivation ==
Der Begriff „Deutsche Physik“ hebt nicht so sehr auf die nationale oder ethnische Zugehörigkeit
des umworbenen Zeitgenossen ab als auf anerzogene Tugenden, wie Gründlichkeit, Ordnungssinn und Aufrichtigkeit, auf die
diese&nbsp;– meist älteren&nbsp;– deutschnationalen Physiker stolz gewesen waren und die sie nicht aufzugeben gedachten. Rudolf Tomaschek nannte Lenard „das weltanschauliche Gewissen der Physik“.

„Aufrichtigkeit“ wurde ins Spiel gebracht, weil um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert jüngere ehrgeizige Physiker aufgetreten waren, die es mit den Quellenangaben nicht sehr genau genommen hatten (Jong-Ping Hsu und Yuan-Zhong Zhang 2001, Jules Leveugle 2004, Christian Marchal 2004, Anatoly A. Logunov 2005, insbesondere S. 142–147). Hinzu kam, dass am Umsturz des überkommenen physikalischen Weltbildes sehr junge Theoretiker beteiligt waren, denen man aufgrund ihrer kurzen Lebenserfahrung epistemologisch nicht so recht über den Weg traute.

Ganz unberechtigt waren die wissenschaftlichen Sorgen der „Deutschen Physiker“ und anderer Bedenkenträger (Theimer 2005) rückblickend betrachtet nicht. Heute kann nämlich mit abschließender Sicherheit gesagt werden, dass in die moderne Physik ein systematischer Fehler hineingetragen worden war, der in der klassischen, vorrelativistischen Physik nicht vorhanden war und der darin besteht, nicht strikt zwischen dem Doppler-Effekt longitudinaler Wellen und dem Doppler-Effekt transversaler Wellen zu unterscheiden (Krause 2005).

== Inhalte ==
Als Grundlagen der „Deutsche Physik“, die sich gegen „dogmatischen Formalismus“ wandte<ref>Rudolf Tomaschek: „Philipp Lenard&nbsp;– Zu seinem 80. Geburtstag am 7. Juni 1942“, ''Völkischer Beobachter'', 6./7. Juni 1942, Nr. 157/158, S. 5.</ref>, galten:


Damit begründete die ''Deutsche Physik'' Ziele, Inhalte und Methoden auf der Grundlage der nationalsozialistischen [[Rassenideologie]] und unterschied sich darin von der Diskussion um das physikalische Weltbild in anderen Ländern. Als ihre Grundlagen galten
* das „Postulat der mechanischen Begreifbarkeit“ (Lenard): deren Anschaulichkeit und Aufbau auf Grundlage der [[Klassische Physik|klassischen Physik]];
* das „Postulat der mechanischen Begreifbarkeit“ (Lenard): deren Anschaulichkeit und Aufbau auf Grundlage der [[Klassische Physik|klassischen Physik]];
* das unmittelbare Erlebnis der Natur;
* das unmittelbare Erlebnis der Natur;
* das [[Experiment]] als methodische Grundlage, auf dem theoretische Überlegungen aufbauen.
* das [[Experiment]] als methodische Grundlage, auf dem theoretische Überlegungen aufbauen.


Zu den zentralen Begriffen der „Deutschen Physik“ zählten
Zu den zentralen Begriffen der ''Deutschen Physik'' zählten

* die physikalischen Grundbegriffe [[Kraft]] und [[Energie]],
* die physikalischen Grundbegriffe [[Kraft]] und [[Energie]],
* der Begriff des [[Mechanismus]], definiert durch „''die Anwendung mathematisch formulierbarer, d.&nbsp;h. quantitativ auswertbarer Vorstellungen, die eine anschauliche Entsprechung in der uns anschaulichen Erkenntnis ermöglichenden Denkform des Raumes und der Zeit gestatten'' (Tomaschek 1936, S. 73),
* der Begriff des Mechanismus, definiert durch „die Anwendung mathematisch formulierbarer, d.&nbsp;h. quantitativ auswertbarer Vorstellungen, die eine anschauliche Entsprechung in der uns anschaulichen Erkenntnis ermöglichenden Denkform des Raumes und der Zeit gestatten“,<ref>Rudolf Tomaschek: ''Die Entwicklung der Äthervorstellung.'' In: August Becker (Hrsg.): ''Naturforschung im Aufbruch''. München 1936, S.&nbsp;73.</ref>
* der Begriff des [[Äther (Physik)|Äthers]], mit dem auch der Aufbau des [[Atom|Atoms]] und das&nbsp;von Lenard anerkannte&nbsp;– [[Relativitätsprinzip]] erklärt werden.
* der Begriff des [[Äther (Physik)|Äthers]], mit dem auch der Aufbau des [[Atom]]s und das&nbsp;von Lenard anerkannte&nbsp;– [[Relativitätsprinzip]] erklärt werden.


Soweit die klassische Physik betroffen ist, harmoniert Lenards Lehrstoff mit der international akzeptierten Physik. Zur [[Relativitätstheorie]] und zur [[Quantentheorie]] suchte Rudolf Tomaschek nach Alternativen. Lenard selbst arbeitete bereits seit 1910 an einer [[Äthertheorie]], die auch das [[Michelson-Experiment]] und andere relativistisch interpretierte Experimente erklären sollte. Für die [[Atomphysik]] war hauptsächlich Johannes Stark zuständig: Mit einem klassischen Atommodell sollten Phänomene erklärt werden, die sonst mit der Quantentheorie behandelt wurden. Darüber hinaus entstanden innerhalb der „Deutschen Physik“ keine weiteren theoretischen Neuerungen, zumal sich deren Verfechter kaum mit aktuellen theoretischen Fragen der [[Atomphysik]] beschäftigten.
Die klassischen Bereiche von Lenards Lehrbuch waren identisch mit der international akzeptierten Physik. Nur die [[Relativitätstheorie]] und die [[Quantenhypothese|Quantentheorie]] wurden abgelehnt. An ihrer Stelle entwickelte Lenard bereits seit 1910 eine [[Äthertheorie]], die auch das [[Michelson-Morley-Experiment]] und andere relativistisch interpretierte Experimente erklären sollte. Für die [[Atomphysik]] war Johannes Stark zuständig: Mit einem klassischen Modell sollten Phänomene erklärt werden, die sonst mit der Quantentheorie behandelt wurden. Darüber hinaus entstanden innerhalb der ''Deutschen Physik'' keine weiteren Neuerungen in der theoretischen Physik, da sich deren Vertreter kaum mit aktuellen theoretischen Fragen der Atomphysik beschäftigten.

Für die Fortentwicklung der Physik hatte sie keine tiefgreifende Bedeutung.
Die ''Deutsche Physik'' gilt heute als spezifisch nationalsozialistische Gegenentwicklung zur modernen Physik. Auch bezüglich dieser Wissenschaft gab es in Deutschland nach dem [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieg]] zunehmend [[Antisemitismus (bis 1945)|antisemitische]] Argumente, die im Dritten Reich institutionalisiert werden konnten. Für die Wissenschaftsentwicklung selbst hatte die ''Deutsche Physik'' – nicht nur aus heutiger Perspektive – keine Bedeutung.


== Vorgeschichte ==
== Vorgeschichte ==
[[Datei:Lenard.jpg|mini|hochkant|[[Philipp Lenard]] (1862–1947), einer der frühen Vertreter der ''Deutschen Physik'']]
[[Datei:Johannes Stark.jpg|mini|hochkant|[[Johannes Stark]] (1874–1957), der Organisator der ''Deutschen Physik'']]


Anfang des 20. Jahrhunderts war in fast allen naturwissenschaftlichen Disziplinen ein Umsturz des klassischen Weltbildes spürbar. In der Physik stießen vor allem zwei Entwicklungen die klassischen Denkweisen um: [[Max Planck|Plancks]] Einführung des Energiequants, das der klassischen Wellen- und Äthervorstellung vom Ursprung des [[Licht]]s widersprach und mit klassischen Begriffen von [[Kausalität]] und [[Determinismus]] nicht mehr in Einklang stand, sowie [[Albert Einstein|Einsteins]] [[spezielle Relativitätstheorie]], die die Naturgesetze scheinbar vom Bewegungszustand des Beobachters abhängig machten, was von den Gegnern als „allgemeiner Relativismus“ und „materialistisches Spiel ohne Werte“ aufgenommen wurde. Beide Entwicklungen führten in den 1920er Jahren zu einem fundamentalen Umdenken in der akademischen Physik. Das zog einen regelrechten Kulturkampf zwischen Befürwortern und Gegnern der [[Moderne Physik|modernen Physik]] nach sich.
[[Bild:Philipp Lenard.png|framed|right|[[Philipp Lenard]] (1862–1947), einer der frühen intellektuellen Vertreter der „Deutschen Physik“ die von Henri.]]


Zu diesem allgemeinen Unbehagen bei den Physikern trug die zunehmende Mathematisierung ihrer Wissenschaft bei, etwa das Auftreten abstrakter topologischer Räume wie des sogenannten [[Hilbertraum]]s, konkrete Begriffe wie der einer [[Gruppentheorie]], oder nicht zuletzt die vielen [[Index (Mathematik)|Indizes]] i, j, k, … (usw.) bei der Formulierung der [[Einsteinsche Feldgleichungen|Einsteinschen Feldgleichungen]], die diese zusätzlich unverständlich machten.
Anfang des [[20. Jahrhundert|20. Jahrhunderts]] war in fast allen naturwissenschaftlichen Disziplinen ein Umsturz des klassischen Weltbildes spürbar. In der Physik stießen vor allem zwei Entwicklungen die klassischen Denkweisen um: [[Max Planck|Plancks]] Einführung des »Energiequants«, das der klassischen Wellen- und Äthervorstellung vom Ursprung des [[Licht|Lichts]] widersprach und mit klassischen Begriffen von [[Kausalität]] und [[Determiniertheit]] nicht mehr in Einklang stand, sowie die von Henri Poincaré vorbereitete und von [[Albert Einstein|Einsteins]] nachentwickelte [[spezielle Relativitätstheorie]], die die Naturgesetze vom relativen Bewegungszustand des Beobachters abhängig machte und die deshalb vielfach mit starken Bedenken aufgenommen wurde.


Physik war für die Physiker, selbst für Fachleute, einfach „zu schwer“ geworden,<ref>Der Satz ''Physik ist für die Physiker viel zu schwer'' stammt von dem prominenten Mathematiker [[David Hilbert]].</ref> was die ''Deutsche Physik'' als jüdisch verurteilte.
Beide Entwicklungen führten in den [[1920er|20er]] Jahren zu einem fundamentalen Umdenken in der akademischen Physik, das einen regelrechten Kulturkampf zwischen Befürwortern und Kritikern der [[Moderne Physik|modernen Physik]] nach sich zog.


Dabei waren die Gegner der modernen Physik vor allem in der älteren Generation von Naturforschern zu finden, die sich im untergegangenen [[Deutsches Kaiserreich|Kaiserreich]] als bedrohte Elite von Kulturträgern verstanden. Zu ihnen gehörten auch die Protagonisten der ''Deutschen Physik'', die Nobelpreisträger [[Philipp Lenard]] und [[Johannes Stark]]. Früh schon stigmatisierte diese Elite die Unzulänglichkeiten des Materialismus der modernen Gesellschaft als jüdisch, der größte Teil dieser „deutschen [[Mandarin (Titel)|Mandarine]]“ trat in seiner konservativen politischen Tradition ins antisemitische Lager über,<ref>Fritz K. Ringer: ''Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933''. Stuttgart 1983. (Erstauflage: The Decline of the German Mandarins. Cambridge, Mass. 1969)</ref> wobei ‚übersehen‘ wurde, dass es durchaus jüdische Kritiker der Relativitätstheorie gab, wie z.&nbsp;B. [[Menyhért Palágyi]], [[Leo Gilbert]] und [[Oskar Kraus (Philosoph)|Oskar Kraus]]. Im Gegensatz zu den älteren Konservativen gab es vor allem in der jüngeren Generation eine weitverbreitete Ablehnung gegen die [[klassische Physik]]. Heute wird die Entwicklung der [[Quantenphysik]] in den 1920er Jahren mit ihren unanschaulichen und scheinbar paradoxen Grundaussagen als Kind dieser Geisteshaltung betrachtet.<ref>Paul Forman: ''Weimar Culture, Causality, and Quantum Theory, 1918–1927: Adaption by German Physicists and Mathematicians to a Hostile Intellectual Environment.'' In: ''Historical Studies in the Physical Sciences.'' 3, 1971, S.&nbsp;1–115.</ref>
Während die ältere Generation skeptisch und kritischer zu Werke ging, zeigte sich
die jüngere Generation, die die [[klassische Physik]] noch nicht so sehr verinnerlicht hatte, neuen Trends gegenüber aufgeschlossener. Heute wird die Entwicklung der [[Quantentheorie]] in den 20er Jahren mit ihren akausalen und indeterministischen Grundaussagen als Kind dieser unvoreingenommenen Geisteshaltung betrachtet (Forman 1971).


In der Tat gehörte [[Werner Heisenberg]], als er 1925 mit seiner [[Matrizenmechanik]] zum ersten Mal die Quantenmechanik korrekt und vollständig formulierte, damals eher zu den „jungen Revolutionären“, während man bis dahin nur auf die „alten Männer“ wie [[Niels Bohr]] hörte, der mit seinem halbklassisch-mechanistischen Atommodell seit 1910 die Physikdebatten dominierte.
[[Bild:Johannes_Stark.png|framed|right|[[Johannes Stark]] (1874–1957), der Organisator der ''Deutschen Physik''.]]


Allerdings waren es wiederum diese „alten Männer“ (etwa [[Max Born]]), die das Revolutionäre an Heisenbergs Theorie erkannten und den Heisenberg’schen Formelausdrücken die zugehörige mathematische Formulierung gaben. [[Erwin Schrödinger]], der quasi „dazwischen stand“, gab dann 1926 mit seiner „[[Schrödingergleichung]]“ der neuen Theorie unabhängig ihre endgültige Gestalt, die aber erst von Niels Bohr und Max Born nichtklassisch interpretiert wurde.
In den zwanziger Jahren häuften sich Angriffe gegen die moderne Naturwissenschaft von Wissenschaftlern, die diese vor dem [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieg]] noch anerkannt hatten. Dazu gehörte [[Philipp Lenard]], der [[1886]] als Assistent bei [[Heinrich Hertz]] dessen Versuche über [[Kathodenstrahlen]] fortgeführt hatte. Durch die prinzipielle Klärung des [[Lichtelektrischer Effekt|lichtelektrischen Effektes]] und der [[Phosphoreszenz]] hat Lenard auch zur Entwicklung des Quantenkonzeptes beigetragen, wofür er [[1905]] den Nobelpreis erhielt. Nach dem Krieg wandte er sich von der modernen Physik ab. Gelegentlich polemisierte er gegen [[Albert Einstein]].


Es gab aber nicht nur im deutschen Kaiserreich schon viel länger andauernde nationalistische oder antisemitische Tendenzen in den Naturwissenschaften. Die erste wissenschaftliche Abhandlung, die einen Zusammenhang zwischen nationaler Kultur und wissenschaftlicher Denkweise in Bezug auf die moderne Wissenschaft herstellte, stammte vom Pariser Physiker und Philosophen [[Pierre Duhem]] (1861–1916), der seinerseits die Relativitäts- und [[Quantentheorie]] ablehnte. Er unterschied zwischen einer abstrakten Denkfähigkeit zum Auffinden der richtigen Axiome, dem ''esprit de finesse'', und der Fähigkeit, daraus die richtigen Schlussfolgerungen abzuleiten, dem ''esprit de géométrie''. Die eine sei intuitiv, sprunghaft und mehr gefühlsmäßig, die andere folge festen, von außen auferlegten Regeln. Das Begriffspaar findet sich schon bei [[Blaise Pascal|Pascal]], nur erweiterte Duhem es, indem er verschiedenen Völkern unterschiedliche Ausprägungen dieser Fähigkeiten zuschrieb.<ref>Andreas Kleinert: ''Von der Science allemande zur Deutschen Physik: Nationalismus und moderne Naturwissenschaft in Frankreich und Deutschland zwischen 1914 und 1940.'' In: ''Francia.'' 6, 1978, S.&nbsp;515&nbsp;ff.</ref>
Einen ähnlichen Weg schlug [[Johannes Stark]] ein, der mehr als Organisator denn als Ideologe eine „Deutsche Physik“ vertrat. Seit [[1909]] war er Ordinarius an der [[RWTH Aachen|TH Aachen]]. Er hat sich dort durch sein technisch-experimentelles Geschick und seine Anschauungsgabe hervorgetan. Er hatte den [[Doppler-Effekt]] an [[Kanalstrahlen]] entdeckt und versuchte bereits [[1906]], sie mit Hilfe der [[Spezielle Relativitätstheorie|speziellen Relativitätstheorie]] und ein Jahr später auch mit der [[Quantentheorie]] zu erklären. So war er einer der frühesten Verfechter des Quantenkonzeptes. Gegen Kriegsausbruch wandte er sich gegen diese Konzepte.


In den 1920er Jahren häuften sich die heute als [[Antirelativismus]] bezeichneten Schriften und Angriffe gegen die moderne Physik von Wissenschaftlern, die diese vor dem Ersten Weltkrieg noch anerkannt hatten. Dazu gehörte Philipp Lenard, der 1886 als Assistent bei [[Heinrich Hertz]] dessen Versuche über [[Kathodenstrahlen]] fortgeführt hatte. Durch die prinzipielle Klärung des [[Lichtelektrischer Effekt|lichtelektrischen Effektes]] und der [[Phosphoreszenz]] hat Lenard auch zur Entwicklung des Quantenkonzeptes beigetragen, wofür er 1905 den Nobelpreis erhielt. Nach dem Ersten Weltkrieg wandte er sich von der modernen Physik ab und polemisierte mit Blick auf Albert Einstein gegen „jüdische Einflüsse“ in der Physik. In ''Große Naturforscher'' (1929) versuchte Lenard eine Darstellung der [[Geschichte der Physik]] ausschließlich anhand der Biografien „arischer“ Physiker.
Ein Höhepunkt der frühen Auseinandersetzungen um die „Deutsche Physik“ war Lenards Auftritt bei der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in [[Bad Nauheim]] am [[23. September]] [[1920]], auf der es zur öffentlichen Konfrontation mit Einstein kam. Als Haupteinwand konnte er nur die Unanschaulichkeit dessen [[Allgemeine Relativitätstheorie|Allgemeiner Relativitätstheorie]] anbringen, die gegen den gesunden Menschenverstand verstoße. Auch Stark war bei der Versammlung als Redner anwesend gewesen.


Einen ähnlichen Weg schlug Johannes Stark ein, der seit 1909 Ordinarius an der [[RWTH Aachen|TH Aachen]] war und sich dort durch sein technisch-experimentelles Geschick und seine Anschauungsgabe hervortat. Er hatte den [[Doppler-Effekt]] an [[Kanalstrahlen]] entdeckt und versuchte bereits 1906, sie mithilfe der speziellen Relativitätstheorie und ein Jahr später auch mit der Quantentheorie zu erklären. Er wies u.&nbsp;a. den sogenannten [[Stark-Effekt]] nach, die Veränderung von atomaren und molekularen Energieniveaus durch elektrische Felder. So war er einer der frühesten Verfechter des Quantenkonzeptes. Gegen Kriegsbeginn wandte er sich jedoch gegen diese Konzepte.
== Institutionalisierung und Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus ==
Das Jahr [[1933]] brachte durch die [[Gleichschaltung]] und Entlassung jüdischer Wissenschaftler eine Zäsur in der Wissenschaftsorganisation. Am [[1. Mai]] [[1933]] wurde [[Johannes Stark]] vom Reichsinnenminister zum neuen Präsidenten der [[Physikalisch-Technische Reichsanstalt]] eingesetzt, [[1934]] folgte die Präsidentschaft der wichtigen Forschungsförderungseinrichtung ''[[Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft]]''. Im selben Jahr wurde allerdings auch sein Anspruch auf den Vorsitz der [[Deutsche Physikalische Gesellschaft|Deutschen Physikalischen Gesellschaft]] vereitelt. Die Vergabe des [[Nobelpreis|Nobelpreises]] an [[Werner Heisenberg]] 1933 war der Sache der „Deutschen Physik“ nicht besonders zuträglich.


Ein Höhepunkt der frühen Auseinandersetzungen um die ''Deutsche Physik'' war Lenards Auftritt bei der Versammlung [[Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte|deutscher Naturforscher und Ärzte]] in [[Bad Nauheim]] am 23.&nbsp;September 1920, auf der es zur öffentlichen Konfrontation mit Einstein kam.
Die Gruppe um Lenard und Stark erwies sich zunächst als klein, aber politisch einflussreich. Lenard selbst hatte Zugang zum Reichskultusminister [[Bernhard Rust]]. Stark war der einflussreiche Organisator.


Als Haupteinwand brachte Lenard nur die ''Unanschaulichkeit'' der [[Allgemeine Relativitätstheorie|Einsteinschen Allgemeinen Relativitätstheorie]] vor, die ''gegen den gesunden Menschenverstand verstoße''. Auch Stark war bei der Versammlung als Redner anwesend.
Aber schon zuvor hatten Lenards und Starks Anhänger an Einfluss verloren, denn die moderne Physik konnte ihre Nützlichkeit in zahlreichen Forschungsprojekten experimentell untermauern. Zu diesen Projekten zählte beispielsweise das [[Uranverein|deutsche Atomprojekt]]. Dennoch war die Situation derart angespannt, dass die beiden Physiker [[Wolfgang Finkelnburg]] und [[Otto Scherzer]] versuchten, eine endgültige und offizielle Klärung der wissenschaftlichen Standpunkte zu erreichen. Im November [[1940]] kam es zu einem heute als »Münchner Religionsgespräch« bezeichneten Aussprache zwischen Vertretern der „Deutschen Physik“ (Rudolf Tomaschek, Alfons Bühl, Ludwig Wesch und Wilhelm Müller) und unter anderem [[Carl Ramsauer]], [[Georg Joos]], [[Hans Kopfermann]] und [[Carl Friedrich von Weizsäcker]] als Vertreter der modernen Physik. Darin sollten die Vertreter der „Deutschen Physik“ wissenschaftlich unverrückbare Tatsachen der modernen Physik öffentlich anerkennen und politische Angriffe dagegen einstellen. Die schriftliche Vereinbarung hielt im wesentlichen fest:


== Institutionalisierung ==
* Die [[Theoretische Physik|theoretische Physik]] ist ein notwendiger Bestandteil der Physik;
Da in ganz Europa die Einrichtungen zur [[Grundlagenforschung]] Anfang des 20. Jahrhunderts jüdischen Wissenschaftlern eine besondere Integrationschance boten,<ref>Jörg Behrmann: ''Integrationschancen jüdischer Wissenschaftler in Grundlagenforschungsinstitutionen im frühen 20.&nbsp;Jahrhundert.'' In: Walter Grab (Hrsg.): ''Juden in der deutschen Wissenschaft''. Internationales Symposium, April 1985. (= ''Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte.'' Beiheft 10). München 1985, S.&nbsp;281–327.</ref> waren überproportional viele geistige Väter des modernen physikalischen Weltbildes jüdischer Abstammung (zum Beispiel Albert Einstein, [[Max Born]] und [[Wolfgang Pauli]]). Andere prominente deutsche Physiker wie [[Werner Heisenberg]], der mit Born zusammengearbeitet hatte, wurden als „weiße Juden“ verunglimpft (siehe unten). Aus diesem Grund konstruierten die Antisemiten im Zuge der [[Kritik an der Relativitätstheorie#Chauvinismus und Antisemitismus|Auseinandersetzungen um die Relativitätstheorie Albert Einsteins]] bereits in den 1920er Jahren den Begriff der (abstrakten) ''jüdischen Physik'', im Gegensatz zur (begreifbaren) ''Deutschen Physik''.
* Die [[Spezielle Relativitätstheorie|spezielle Relativitätstheorie]] gehört zum festen Bestandteil der Physik, bedarf aber der weiteren Nachprüfung;
* Die vierdimensionale Darstellung von Naturvorgängen ist ein mathematisches Hilfsmittel und keine neue Raum- und Zeitanschauung;
* Die [[Quantenmechanik]] ist die einzige bekannte Möglichkeit zur Beschreibung der Atomvorgänge, ein tieferes Verständnis über den Formalismus heraus ist erwünscht.


Das Jahr 1933 brachte durch die [[Gleichschaltung]] und Entlassung jüdischer Wissenschaftler eine Zäsur in der Wissenschaftsorganisation, bei der Vertreter der ''Deutschen Physik'' Machtpositionen erlangten. Am&nbsp;1.&nbsp;Mai 1933 wurde Johannes Stark vom Reichsinnenminister zum Präsidenten der [[Physikalisch-Technische Reichsanstalt|Physikalisch-Technischen Reichsanstalt]] eingesetzt, 1934 folgte die Präsidentschaft der wichtigen Forschungsförderungseinrichtung ''[[Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft]]''. Im selben Jahr wurde allerdings auch Starks Anspruch auf den Vorsitz der [[Deutsche Physikalische Gesellschaft|Deutschen Physikalischen Gesellschaft]] mit großer Mehrheit verhindert. Die Vergabe des Nobelpreises an [[Werner Heisenberg]] 1933 schwächte die Position der ''Deutschen Physik'' zusätzlich. Auch nahmen einige deutsche Physiker bereits früh explizit für Einstein Stellung (z.&nbsp;B. [[Max von Laue]]).
Mit dieser Erklärung verlor die „Deutsche Physik“ zunehmend an Einfluss, so dass sie über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus keine nennenswerte Bedeutung mehr hatte.


Die Gruppe um Lenard und Stark erwies sich zunächst als klein, aber politisch einflussreich. Philipp Lenard übernahm die Aufgabe des Ideologen mit Beraterfunktion beim Reichskultusminister [[Bernhard Rust]]; Johannes Stark war der einflussreiche Organisator. Er prägte u.&nbsp;a. den Begriff „weißer Jude“ für nichtjüdische, im ideologischen Gefüge der Nationalsozialisten ''arische'', Vertreter der Relativitäts- und Quantentheorie. In der SS-Zeitung ''[[Das Schwarze Korps]]'' vom 15.&nbsp;Juli 1937 griff er mit diesem Begriff vor allem Werner Heisenberg an.
==Bewertung==
Die Wurzeln der „Deutschen Physik“ lassen sich bis ins späte [[19. Jahrhundert]] zurück verfolgen, als in vielen Ländern Europas »nationale« Wissenschaften propagiert wurden. Zum Beginn des [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkriegs]] uferten die Gegensätze durch Manifeste führender Gelehrter in einem regelrechten „Krieg der Geister“ aus. Sicherlich existieren nationale „Stile“ von Wissenschaften, die sich in Methoden und Formen der Theoriebildung unterscheiden. Die „Deutsche Physik“ entstand jedoch am Ende des Ersten Weltkriegs als Antipol zur aufkommenden modernen Physik und forderte eine prinzipielle Anschaulichkeit der Modelle und das Experiment als methodische Grundlage. Die Kritik der „Deutschen Physik“ richtete sich in erster Linie gegen die den klassischen physikalischen Vorstellungen widersprechenden Hypothesen der Poincaré-Lorentzschen Relativitätstheorie.


Ein politischer Erfolg der ''Deutschen Physik'' war die Besetzung des Münchner [[Arnold Sommerfeld|Sommerfeld]]-Lehrstuhls durch den ''Deutschen Physiker'' [[Wilhelm Müller (Physiker)|Wilhelm Müller]] im Jahre 1939. Für diese Stelle war von der zuständigen Abteilung der Universität ursprünglich der Sommerfeld-Schüler Werner Heisenberg vorgesehen.
Die gängigen Physiklehrbücher in Deutschland, auch während der NS-Zeit, waren die Werke von<ref>V. Freise: „Die schweigende Mehrheit“ (Leserbrief), ''Süddeutsche Zeitung'', 28./29. April 1979.</ref> B. Bavnik (1940), G. Joos (1939), R. W. Pohl (1943), A. Sommerfeld (1944) und das von R. Tomaschek überarbeitete Lehrbuch von E. Grimsehl (1932). Mit Ausnahme des Lehrbuchs von Tomaschek/Grimsehl wurde die Relativitätstheorie in diesen Lehrbüchern behandelt. Lenards ''Deutsche Physik in vier Bänden'' nahm eine Außenseiterrolle ein.


{{Anker|Münchner Religionsgespräch}}
== Einflussreiche Vertreter ==
Aber schon zuvor verloren Lenards und Starks Anhänger an Einfluss, weil die moderne Physik ihre Nützlichkeit überall beweisen konnte, insbesondere in zahlreichen Forschungsprojekten des NS-Staates. Zu ihnen zählte beispielsweise das [[Uranprojekt]]. Dennoch war die Situation angespannt, sodass die beiden Physiker [[Wolfgang Finkelnburg]] und [[Otto Scherzer (Physiker)|Otto Scherzer]] versuchten, die wissenschaftlichen Standpunkte endgültig und offiziell zu klären. Im November 1940 kam es zu einer heute als ''Münchner Religionsgespräch'' bezeichneten Aussprache zwischen Vertretern der ''Deutschen Physik'' ([[Rudolf Tomaschek]], [[Alfons Bühl]], [[Ludwig Wesch]] und [[Wilhelm Müller (Physiker)|Wilhelm Müller]]) und unter anderem [[Carl Ramsauer]], [[Georg Joos]], [[Hans Kopfermann]] und [[Carl Friedrich von Weizsäcker]] als Vertreter der modernen Physik. Darin sollten die Vertreter der ''Deutschen Physik'' wissenschaftlich unverrückbare Tatsachen der modernen Physik öffentlich anerkennen und die unerträglichen politischen Angriffe dagegen einstellen. Die schriftliche Vereinbarung hielt folgendes fest:
# Die [[theoretische Physik]] mit allen mathematischen Hilfsmitteln ist ein notwendiger Bestandteil der Gesamtphysik.
# Die in der speziellen Relativitätstheorie zusammengefassten Erfahrungstatsachen gehören zum festen Bestandteil der Physik. Die Sicherheit der Anwendung der speziellen Relativitätstheorie ist jedoch nicht so groß, dass eine weitere Nachprüfung unnötig wäre.
# Die vierdimensionale Darstellung von Naturvorgängen ist ein brauchbares mathematisches Hilfsmittel; sie bedeutet aber nicht die Einführung einer neuen Raum- und Zeitanschauung.
# Jede Verknüpfung der Relativitätstheorie mit einem allgemeinen Relativismus wird abgelehnt.
# Die Quanten- und Wellenmechanik ist das einzige zurzeit bekannte Hilfsmittel zur quantitativen Erfassung der Atomvorgänge. Es ist erwünscht, über den Formalismus und seine Deutungsvorschriften hinaus zu einem tieferen Verständnis der Atome vorzudringen.


Lenard selbst sah seine Vorstellungen nicht hinreichend vertreten und wertete die Erklärung als Verrat. Die Vertreter der modernen Physik hingegen konnten mit dieser Auflistung von Selbstverständlichkeiten leben.
Insgesamt vertrat eine Gruppe von etwa 30 Physikern die „Deutsche Physik“ aktiv durch Lehre, Publikationen und Vorträge. Die führenden Vertreter waren:


== Bewertung ==
* [[Philipp Lenard]] (1862–1947);
Das in Teilen [[Pseudowissenschaft|pseudowissenschaftliche]] Phänomen der ''Deutschen Physik'' – wie auch der von [[Ludwig Bieberbach]] und [[Theodor Vahlen]] propagierten ''[[Deutsche Mathematik|Deutschen Mathematik]]'' oder der ''[[Deutsche Chemie|Deutschen Chemie]]'' [[Paul Walden]]s – wurde bislang überwiegend als Vorhaben interpretiert, die Naturwissenschaften in die faschistische Gesellschaft zu integrieren. Dabei wechseln sich die beiden Tendenzen einer ''völkischen'' Wissenschaft nach Lenard, Stark oder Vahlen Anfang der 1930er Jahre mit einer Wissenschaft als ''nationaler Aufgabe'' im Sinne des ''Volksganzen'' ab, was den Notwendigkeiten der Autarkie- und Rüstungspolitik ab 1936 besser entsprach. Die Besonderheit der ''Deutschen Physik'' lag dabei im vergleichsweise großen politischen Einfluss der beiden Nobelpreisträger Lenard und Stark (und dem erhofften Einfluss anderer Nobelpreisträger) in Form von leitenden Positionen in der Wissenschaftsorganisation und beratenden Funktionen gegenüber der politischen Elite ab 1933.
* [[Johannes Stark]] (1874–1957);
* [[Ludwig Glaser]] (1889–?);
* [[Ernst Gehrcke]] (1878–1960);
* Wilhelm Müller (1880–1968), der [[1939]] anstelle [[Werner Heisenberg|Heisenbergs]] Nachfolger auf dem Münchner Lehrstuhl [[Arnold Sommerfeld|Sommerfelds]] wurde;
* Stephan Mohorovicic (1890-1980), kroatischer Physiker;
* [[Bruno Thüring]] (1905-1989), Astronom;
* Lothar G. Tirala;
* Rudolf Tomaschek.


Die Wurzeln der ''Deutschen Physik'' lassen sich jedoch bis ins späte 19. Jahrhundert zurückverfolgen, als in vielen Ländern Europas ''nationale'' Wissenschaften propagiert wurden. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs uferten die Gegensätze durch Manifeste führender Gelehrter in einen regelrechten ''Krieg der Geister'' aus. Sicherlich existieren nationale ''Stile'' von Wissenschaften, die sich in Methoden und Formen der Theoriebildung unterscheiden. Die ''Deutsche Physik'' entstand jedoch am Ende des Ersten Weltkriegs als Antipol zur aufkommenden modernen Physik und forderte eine prinzipielle Anschaulichkeit der Modelle und das Experiment als methodische Grundlage im Unterschied zu den abstrakten [[Gedankenexperiment]]en der theoretischen Physik. Die Hauptgründe sind in der speziellen geistigen Verfasstheit der wissenschaftlichen Elite in der Weimarer Republik zu finden: Viele Hochschullehrer, die ihre wesentliche Karriere noch im [[Deutsches Kaiserreich|Kaiserreich]] gemacht hatten, lehnten die Weimarer Demokratie als „undeutsche“ Staatsform ab und konnten sich mit den Veränderungen, die die moderne Zeit sowohl auf politischer als auch wissenschaftlicher Ebene hervorbrachte, nicht anfreunden. Die Kritik der ''Deutschen Physik'' richtete sich insbesondere gegen die den klassischen physikalischen Vorstellungen widersprechenden Thesen Albert Einsteins, der durch seine Arbeiten sowohl zur Relativitätstheorie als auch zur Quantentheorie die moderne Physik verkörperte und dafür 1921 sogar den Nobelpreis erhielt. Die zuletzt verzweifelt erscheinenden Versuche Lenards, das Relativitätsprinzip und die Quantentheorie durch die Hilfskonstruktion der [[Äthertheorie]] auf eine klassisch-anschauliche Basis zu stellen, verloren mit der weiteren Entwicklung der Physik und spätestens mit Entdeckung der Kernspaltung jede Plausibilität.
In den [[1930er|30er]] Jahren kamen jüngere Physiker hinzu, die meist Schüler von Lenard und Stark waren. Lenard hatte in seinem Physikalischen Institut u.&nbsp;a. auch einen Assistenten israelitischer Abstammung angestellt, der während der NS-Zeit in die Schweiz emigrierte und der ihn von dort aus noch einige Male besuchte.


Im Nationalsozialismus wandelte sich die ''Deutsche Physik'' endgültig zur rassistischen ''Arischen Physik'', während sich die moderne Physik weiter etablierte. Ironischerweise war auch im nationalsozialistischen Staat die sogenannte „moderne Physik“ Grundlage für militärisch relevante Forschungsprojekte wie etwa das „Uranprojekt“, weshalb spätestens nach der grundsätzlichen Aussprache zwischen Vertretern der modernen und der ''Deutschen Physik'' Ende 1940 Lenard und Stark isoliert waren.
== Referenzen ==


In [[Bertolt Brecht]]s Drama ''[[Furcht und Elend des Dritten Reiches]]'' wird in einer Szene auf die ''Deutsche Physik'' eingegangen. In dieser Szene tauschen sich zwei Göttinger Physiker über wissenschaftliche Erkenntnisse zu [[Gravitationswelle]]n aus. Die dabei offenbar von [[Albert Einstein|Einstein]] stammenden Ergebnisse können die Wissenschaftler nur heimlich vorlesen, und bei der versehentlichen Nennung von Einsteins Namen muss einer der Wissenschaftler vor möglichen Spitzeln Verachtung gegenüber Einstein heucheln: „Ja, eine echte jüdische Spitzfindigkeit! Was hat das mit Physik zu tun?“ In dem der Szene vorangestellten Gedicht kommentiert Brecht, im Dritten Reich habe man keine „richtige / sondern eine arisch gesichtige / Genehmigte deutsche Physik“ gewollt.
* Andreas Kleinert: ''Von der Science allemande zur Deutschen Physik: Nationalismus und moderne Naturwissenschaft in Frankreich und Deutschland zwischen 1914 und 1940''; in: ''Francia'' '''6''' (1978), S. 509–525.

* Fritz K. Ringer: ''Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933''; Stuttgart, 1983. (Erstauflage: ''The Decline of the German Mandarins.'' Cambridge, Mass. 1969.)
== Einflussreiche Vertreter ==
* Jörg Behrmann: ''Integrationschancen jüdischer Wissenschaftler in Grundlagenforschungsinstitutionen im frühen 20. Jahrhundert''; in: Walter Grab (Hrsg.): ''Juden in der deutschen Wissenschaft''; Internationales Symposium, April 1985. München 1985. (Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte, Beiheft 10.) S. 281–327.
Insgesamt vertrat eine Gruppe von etwa 30 Physikern die ''Deutsche Physik'' aktiv durch Lehre, Publikationen und Vorträge. Die führenden Vertreter waren:
* Paul Forman: ''Weimar Culture, Causality, and Quantum Theory, 1918–1927: Adaption by German Physicists and Mathematicians to a Hostile Intellectual Environment''; in: ''Historical Studies in the Physical Sciences 3'' (1971), S. 1–115.
* Jong-Ping Hsu and Yuan Zhong Zhang: ''Lorentz and Poincaré Invariance&nbsp;– 100 Years of Relativity''; World Scientific, Singapore, 2001.
* Wilfred Krause: ''Temptative Galilean Synthesis of the Optical Doppler Effect''; ''Existentia'' '''XV''', 127–139 (2005).
* Jules Leveugle: ''La Relativité, Poincaré et Einstein, Planck, Hilbert&nbsp;– Histoiré véridique de la Théorie de la Relativité; ed. l'Harmattan, Paris, 2004.
* Anatoly A. Logunov: ''Henri Poincaré and Relativity Theory'' (übersetzt von G. Pontecorvo und V.O. Soloviev) Nauka, Moscow 2005. [http://arxiv.org/PS_cache/physics/pdf/0408/0408077.pdf]
* Christain Marchal: ''Henri Poincaré et la Relativité''; Proceedings of the Congress ''Henri Poincaré et la Physique'', October 2004, Paris; reprinted in ''Sciences'', December 2004. [[http://www.annales.org/archives/x/poincare.html]]
* Christian Marchal: ''Henri Poincaré and the Relativity: The Surprising Secret''; Proceedings of the 28th International Workshop on the Fundamental Problems of High Energy Physics and Field Cosmology, 22–24 June 2005, Institute of High Energy Physics, Protvino (Moscow region), Russia.
* Walter Theimer: ''Die Relativitätstheorie&nbsp;– Lehre, Wirkung, Kritik''; Edition Mahag, Graz 2005, 2. Auflage.
* Rudolf Tomaschek: ''Die Entwicklung der Äther-Vorstellung''; in: August Becker (Hrg.) ''Naturforschung im Aufbruch'', München 1936, S. 70–74.


* [[Philipp Lenard]] (1862–1947)
== Weitere Literatur ==
* [[Johannes Stark]] (1874–1957)
* [[Ludwig Glaser (Physiker)|Ludwig Glaser]] (1889–1945?)
* [[Ernst Gehrcke]] (1878–1960)
* [[Hugo Dingler]] (1881–1954), Philosoph
* [[Wilhelm Müller (Physiker)|Wilhelm Müller]] (1880–1968)
* [[Rudolf Tomaschek]] (1895–1966)
* [[Alfons Bühl]] (1900–1988)
* [[Ludwig Wesch]] (1909–1994)


In den 1930er Jahren kamen jüngere Physiker hinzu, wie z.&nbsp;B. [[Harald Volkmann]], die meist Schüler von Lenard und Stark waren und deren politische Aktivität oft die ihrer Lehrer übertraf.
* Alan D. Beyerchen: ''Wissenschaftler unter Hitler. Physiker im Dritten Reich.'' Frankfurt/M. 1982, ISBN 3-548-34098-9.
* E. Gehrcke: ''Kritik der Relativitätstheorie&nbsp;– Gesammelte Schriften über absolute und relative Bewegung'', Meusser, Berlin 1924.
* E. Gehrcke: ''Die Massensuggestion der Relativitätstheorie&nbsp;– Kulturhistorisch-psychologische Dokumente'', Meusser, Berlin 1924.
* Werner Heisenberg: ''Deutsche und Jüdische Physik.'' (Helmut Rechenberg, Hrg.) München 1992, ISBN 3-492-11676-0.
* Hans Israel, Erich Ruckhaber und Rudolf Weinmann (Hrg.): ''100 Autoren gegen Einstein'', Voigtländer, Leipzig 1931.
* Freddy Litten: ''Mechanik und Antisemitismus: Wilhelm Müller (1880–1968)'' Institut für Geschichte der Naturwissenschaften, 2000 ISBN 3-89241-035-6.
* Bruno Thüring: ''Albert Einsteins Umsturzversuch der Physik und seine inneren Möglichkeiten und Ursachen'', Lüttke, Berlin 1941.


== Fußnoten ==
== Siehe auch ==
* [[Deutsche Mathematik]]
<references/>
* [[Deutsche Chemie]]


==Weblinks==
== Literatur ==
* Philipp Lenard: ''Große Naturforscher: eine Geschichte der Naturforschung in Lebensbeschreibungen''. München 1929.
* Philipp Lenard: ''Deutsche Physik.'' 4 Bände. J.F. Lehmann-Verlag, München 1936, insbesondere ''Vorwort.'' in Band I, und S. I, III und XII f. sowie Verlagsinformationen in 3. Auflage ebenda 1943.
* Rudolf Tomaschek: ''Die Entwicklung der Äthervorstellung.'' In: [[August Becker (Physiker)|August Becker]] (Hrsg.): ''Naturforschung im Aufbruch''. München 1936, S. 70–74.
* Philipp Lenard: ''Wissenschaftliche Abhandlungen Band IV''. Herausgegeben und kritisch kommentiert von Charlotte Schönbeck. GNT, Berlin/Diepholz 2003, ISBN 3-928186-35-3.
* [[Andreas Kleinert (Wissenschaftshistoriker)|Andreas Kleinert]]: ''Von der Science allemande zur Deutschen Physik: Nationalismus und moderne Naturwissenschaft in Frankreich und Deutschland zwischen 1914 und 1940.'' In: ''Francia.'' 6, 1978, S.&nbsp;509–525.
* [[Fritz K. Ringer]]: ''Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933''. Stuttgart 1983. (Erstauflage: ''The Decline of the German Mandarins''. Cambridge MA 1969)
* Jörg Behrmann: ''Integrationschancen jüdischer Wissenschaftler in Grundlagenforschungsinstitutionen im frühen 20. Jahrhundert.'' In: Walter Grab (Hrsg.): ''Juden in der deutschen Wissenschaft''. Internationales Symposium, April 1985. (= ''Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte.'' Beiheft 10). München 1985, S. 281–327.
* [[Paul Forman]]: ''Weimar Culture, Causality, and Quantum Theory, 1918–1927: Adaption by German Physicists and Mathematicians to a Hostile Intellectual Environment.'' In: ''Historical Studies in the Physical Sciences.'' 3, 1971, S. 1–115.
* Alan D. Beyerchen: ''Wissenschaftler unter Hitler. Physiker im Dritten Reich''. Frankfurt am Main 1982, ISBN 3-548-34098-9.
* [[Klaus Hentschel]] (Hrsg.): ''Physics and National Socialism. An Anthology of Primary Sources.'' Basel 1996, ISBN 3-0348-0202-1.
* Werner Heisenberg: ''Deutsche und Jüdische Physik''. Hrsg. von Helmut Rechenberg. München 1992, ISBN 3-492-11676-0.
* Freddy Litten: ''Mechanik und Antisemitismus: Wilhelm Müller (1880–1968)''. Institut für Geschichte der Naturwissenschaften, 2000, ISBN 3-89241-035-6.
* [[Dieter Hoffmann (Historiker)|Dieter Hoffmann]], [[Mark Walker (Wissenschaftshistoriker)|Mark Walker]] (Hrsg.): ''Physiker zwischen Autonomie und Anpassung. Die Deutsche Physikalische Gesellschaft im Dritten Reich''. Wiley-VCH, Weinheim 2007, ISBN 978-3-527-40585-5.


== Weblinks ==
*[http://www.lrz-muenchen.de/~Sommerfeld/WissDat/00234.html Wissenschaftlicher Briefwechsel von Arnold Sommerfeld über die ''Deutsche Physik'']
* [http://sommerfeld.userweb.mwn.de/WissDat/00234.html Wissenschaftlicher Briefwechsel von Arnold Sommerfeld über die ''Deutsche Physik'']


== Einzelnachweise und Anmerkungen ==
{{Lesenswert}}
<references />


{{Lesenswert|31. Dezember 2005|12129853}}
[[Kategorie:Zeitgeschichte]]
[[Kategorie:Physik_(Geschichte)]]


[[en:Deutsche Physik]]
[[Kategorie:Überholte Theorie (Physik)]]
[[Kategorie:Wissenschaft im Nationalsozialismus]]
[[Kategorie:Antisemitismus in Deutschland]]
[[Kategorie:Philipp Lenard]]

Aktuelle Version vom 24. April 2025, 08:26 Uhr

Philipp Lenard. Deutsche Physik, 2. Band – Akustik und Wärmelehre. München, 1936–1937

Die sogenannte Deutsche Physik, auch arische Physik, war eine nationalsozialistisch geprägte Lehre, die einige deutsche Physiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vertraten und die die Physik mit rassistischen Ansichten vermischte. Sie lehnten die aufkommende moderne Physik als zu mathematisch und theoretisch ab und befürworteten eine stärkere Betonung der Rolle der experimentellen Physik. Insbesondere sprachen sie sich gegen die von Albert Einstein entwickelte Relativitätstheorie und die Quantenmechanik aus und verwarfen deren Aussagen als zu wenig anschaulich und zu wenig intuitiv (so z. B. Unschärferelation und Welle-Teilchen-Dualismus in der Quantenmechanik bzw. Raum-Zeit-Kontinuum und nichteuklidische Raumgeometrie der Relativitätstheorie). Die Deutsche Physik war geprägt von dem antisemitischen Gedankengut, das in der aufgeheizten politischen Stimmung der 1920er Jahre nach dem verlorenen Weltkrieg in der politisch instabilen Weimarer Republik weit verbreitet war. Hinzu kam, dass viele führende theoretische Physiker und Vertreter der neuen Theorien jüdischer Abstammung waren.

Deutsche Physik ist auch der Titel eines vierbändigen Lehrbuches (1936) von Philipp Lenard, das die Entwicklungen der modernen Physik auf der Basis der klassischen Physik etwa mit Hilfe der Äthertheorie zu erklären versucht.

Die Deutsche Physik ist eine weitgehend auf Deutschland begrenzte antisemitische Lehre; genauer handelte es sich um eine unter maßgebenden Fachvertretern nicht sehr weit verbreitete Bewegung, deren Beginn auf das Erscheinen von Philipp Lenards Werk Große Naturforscher 1929 datiert werden kann und die mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches 1945 endet. Sie lehnte die moderne Physik – namentlich die Relativitätstheorie und Quantenmechanik – als jüdisch ab und entwickelte kaum Gegenkonzepte, außer einer als mechanistisch zu bezeichnenden Grundeinstellung. Die prominentesten – aber in Fachkreisen von Anfang an weitgehend isolierten – Vertreter sind die beiden Physik-Nobelpreisträger Philipp Lenard (1862–1947) und Johannes Stark (1874–1957). Lenard war zudem von Adolf Hitler mit dem Preis der NSDAP für Kunst und Wissenschaft ausgezeichnet worden.[1]

Für die Deutsche Physik existierte kein formales Programm, sie entwickelte sich in der Auseinandersetzung um die abstrakte moderne Physik in Veröffentlichungen und Vorträgen. Die bekannteste und immer wieder zitierte Definition stammt aus dem Vorwort von Lenards vierbändigem Lehrwerk Deutsche Physik von 1936, das – ohne dieses Vorwort – bis weit in die 1950er Jahre zur Lehre weiterverwendet wurde:

„‚Deutsche Physik‘? wird man fragen. Ich hätte auch arische Physik oder Physik der nordisch gearteten Menschen sagen können, Physik der Wirklichkeits-Ergründer, der Wahrheits-Suchenden, Physik derjenigen, die Naturforschung begründet haben. – ‚Die Wissenschaft ist und bleibt international!‘ wird man mir einwenden wollen. Dem liegt aber immer ein Irrtum zugrunde. In Wirklichkeit ist die Wissenschaft, wie alles was Menschen hervorbringen, rassisch, blutsmäßig bedingt. […] Naturforschung […] hat kein Volk überhaupt je begonnen, ohne auf dem Nährboden schon vorhandener Eigenschaften von Ariern zu fußen.“[2]

Im Weiteren führt Lenard aus, die wissenschaftliche Arbeit vollziehe sich „in enger Zwiesprache mit Naturvorgängen“: „Der unverbildete deutsche Volksgeist sucht nach Tiefe, nach widerspruchsfreien Grundlagen des Denkens mit der Natur, nach einwandfreier Kenntnis vom Weltganzen.“ Unmittelbare Fragen an die Natur können nach Lenards Ansicht nur durch das Experiment beantwortet werden, theoretische Überlegungen bauen darauf auf. Ergebnisse der experimentellen Untersuchungen müssten „auf dem festen Boden der klassischen Physik“ anschaulich beschrieben und erklärt werden.

Damit begründete die Deutsche Physik Ziele, Inhalte und Methoden auf der Grundlage der nationalsozialistischen Rassenideologie und unterschied sich darin von der Diskussion um das physikalische Weltbild in anderen Ländern. Als ihre Grundlagen galten

  • das „Postulat der mechanischen Begreifbarkeit“ (Lenard): deren Anschaulichkeit und Aufbau auf Grundlage der klassischen Physik;
  • das unmittelbare Erlebnis der Natur;
  • das Experiment als methodische Grundlage, auf dem theoretische Überlegungen aufbauen.

Zu den zentralen Begriffen der Deutschen Physik zählten

  • die physikalischen Grundbegriffe Kraft und Energie,
  • der Begriff des Mechanismus, definiert durch „die Anwendung mathematisch formulierbarer, d. h. quantitativ auswertbarer Vorstellungen, die eine anschauliche Entsprechung in der uns anschaulichen Erkenntnis ermöglichenden Denkform des Raumes und der Zeit gestatten“,[3]
  • der Begriff des Äthers, mit dem auch der Aufbau des Atoms und das – von Lenard anerkannte – Relativitätsprinzip erklärt werden.

Die klassischen Bereiche von Lenards Lehrbuch waren identisch mit der international akzeptierten Physik. Nur die Relativitätstheorie und die Quantentheorie wurden abgelehnt. An ihrer Stelle entwickelte Lenard bereits seit 1910 eine Äthertheorie, die auch das Michelson-Morley-Experiment und andere relativistisch interpretierte Experimente erklären sollte. Für die Atomphysik war Johannes Stark zuständig: Mit einem klassischen Modell sollten Phänomene erklärt werden, die sonst mit der Quantentheorie behandelt wurden. Darüber hinaus entstanden innerhalb der Deutschen Physik keine weiteren Neuerungen in der theoretischen Physik, da sich deren Vertreter kaum mit aktuellen theoretischen Fragen der Atomphysik beschäftigten.

Die Deutsche Physik gilt heute als spezifisch nationalsozialistische Gegenentwicklung zur modernen Physik. Auch bezüglich dieser Wissenschaft gab es in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend antisemitische Argumente, die im Dritten Reich institutionalisiert werden konnten. Für die Wissenschaftsentwicklung selbst hatte die Deutsche Physik – nicht nur aus heutiger Perspektive – keine Bedeutung.

Philipp Lenard (1862–1947), einer der frühen Vertreter der Deutschen Physik
Johannes Stark (1874–1957), der Organisator der Deutschen Physik

Anfang des 20. Jahrhunderts war in fast allen naturwissenschaftlichen Disziplinen ein Umsturz des klassischen Weltbildes spürbar. In der Physik stießen vor allem zwei Entwicklungen die klassischen Denkweisen um: Plancks Einführung des Energiequants, das der klassischen Wellen- und Äthervorstellung vom Ursprung des Lichts widersprach und mit klassischen Begriffen von Kausalität und Determinismus nicht mehr in Einklang stand, sowie Einsteins spezielle Relativitätstheorie, die die Naturgesetze scheinbar vom Bewegungszustand des Beobachters abhängig machten, was von den Gegnern als „allgemeiner Relativismus“ und „materialistisches Spiel ohne Werte“ aufgenommen wurde. Beide Entwicklungen führten in den 1920er Jahren zu einem fundamentalen Umdenken in der akademischen Physik. Das zog einen regelrechten Kulturkampf zwischen Befürwortern und Gegnern der modernen Physik nach sich.

Zu diesem allgemeinen Unbehagen bei den Physikern trug die zunehmende Mathematisierung ihrer Wissenschaft bei, etwa das Auftreten abstrakter topologischer Räume wie des sogenannten Hilbertraums, konkrete Begriffe wie der einer Gruppentheorie, oder nicht zuletzt die vielen Indizes i, j, k, … (usw.) bei der Formulierung der Einsteinschen Feldgleichungen, die diese zusätzlich unverständlich machten.

Physik war für die Physiker, selbst für Fachleute, einfach „zu schwer“ geworden,[4] was die Deutsche Physik als jüdisch verurteilte.

Dabei waren die Gegner der modernen Physik vor allem in der älteren Generation von Naturforschern zu finden, die sich im untergegangenen Kaiserreich als bedrohte Elite von Kulturträgern verstanden. Zu ihnen gehörten auch die Protagonisten der Deutschen Physik, die Nobelpreisträger Philipp Lenard und Johannes Stark. Früh schon stigmatisierte diese Elite die Unzulänglichkeiten des Materialismus der modernen Gesellschaft als jüdisch, der größte Teil dieser „deutschen Mandarine“ trat in seiner konservativen politischen Tradition ins antisemitische Lager über,[5] wobei ‚übersehen‘ wurde, dass es durchaus jüdische Kritiker der Relativitätstheorie gab, wie z. B. Menyhért Palágyi, Leo Gilbert und Oskar Kraus. Im Gegensatz zu den älteren Konservativen gab es vor allem in der jüngeren Generation eine weitverbreitete Ablehnung gegen die klassische Physik. Heute wird die Entwicklung der Quantenphysik in den 1920er Jahren mit ihren unanschaulichen und scheinbar paradoxen Grundaussagen als Kind dieser Geisteshaltung betrachtet.[6]

In der Tat gehörte Werner Heisenberg, als er 1925 mit seiner Matrizenmechanik zum ersten Mal die Quantenmechanik korrekt und vollständig formulierte, damals eher zu den „jungen Revolutionären“, während man bis dahin nur auf die „alten Männer“ wie Niels Bohr hörte, der mit seinem halbklassisch-mechanistischen Atommodell seit 1910 die Physikdebatten dominierte.

Allerdings waren es wiederum diese „alten Männer“ (etwa Max Born), die das Revolutionäre an Heisenbergs Theorie erkannten und den Heisenberg’schen Formelausdrücken die zugehörige mathematische Formulierung gaben. Erwin Schrödinger, der quasi „dazwischen stand“, gab dann 1926 mit seiner „Schrödingergleichung“ der neuen Theorie unabhängig ihre endgültige Gestalt, die aber erst von Niels Bohr und Max Born nichtklassisch interpretiert wurde.

Es gab aber nicht nur im deutschen Kaiserreich schon viel länger andauernde nationalistische oder antisemitische Tendenzen in den Naturwissenschaften. Die erste wissenschaftliche Abhandlung, die einen Zusammenhang zwischen nationaler Kultur und wissenschaftlicher Denkweise in Bezug auf die moderne Wissenschaft herstellte, stammte vom Pariser Physiker und Philosophen Pierre Duhem (1861–1916), der seinerseits die Relativitäts- und Quantentheorie ablehnte. Er unterschied zwischen einer abstrakten Denkfähigkeit zum Auffinden der richtigen Axiome, dem esprit de finesse, und der Fähigkeit, daraus die richtigen Schlussfolgerungen abzuleiten, dem esprit de géométrie. Die eine sei intuitiv, sprunghaft und mehr gefühlsmäßig, die andere folge festen, von außen auferlegten Regeln. Das Begriffspaar findet sich schon bei Pascal, nur erweiterte Duhem es, indem er verschiedenen Völkern unterschiedliche Ausprägungen dieser Fähigkeiten zuschrieb.[7]

In den 1920er Jahren häuften sich die heute als Antirelativismus bezeichneten Schriften und Angriffe gegen die moderne Physik von Wissenschaftlern, die diese vor dem Ersten Weltkrieg noch anerkannt hatten. Dazu gehörte Philipp Lenard, der 1886 als Assistent bei Heinrich Hertz dessen Versuche über Kathodenstrahlen fortgeführt hatte. Durch die prinzipielle Klärung des lichtelektrischen Effektes und der Phosphoreszenz hat Lenard auch zur Entwicklung des Quantenkonzeptes beigetragen, wofür er 1905 den Nobelpreis erhielt. Nach dem Ersten Weltkrieg wandte er sich von der modernen Physik ab und polemisierte mit Blick auf Albert Einstein gegen „jüdische Einflüsse“ in der Physik. In Große Naturforscher (1929) versuchte Lenard eine Darstellung der Geschichte der Physik ausschließlich anhand der Biografien „arischer“ Physiker.

Einen ähnlichen Weg schlug Johannes Stark ein, der seit 1909 Ordinarius an der TH Aachen war und sich dort durch sein technisch-experimentelles Geschick und seine Anschauungsgabe hervortat. Er hatte den Doppler-Effekt an Kanalstrahlen entdeckt und versuchte bereits 1906, sie mithilfe der speziellen Relativitätstheorie und ein Jahr später auch mit der Quantentheorie zu erklären. Er wies u. a. den sogenannten Stark-Effekt nach, die Veränderung von atomaren und molekularen Energieniveaus durch elektrische Felder. So war er einer der frühesten Verfechter des Quantenkonzeptes. Gegen Kriegsbeginn wandte er sich jedoch gegen diese Konzepte.

Ein Höhepunkt der frühen Auseinandersetzungen um die Deutsche Physik war Lenards Auftritt bei der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Bad Nauheim am 23. September 1920, auf der es zur öffentlichen Konfrontation mit Einstein kam.

Als Haupteinwand brachte Lenard nur die Unanschaulichkeit der Einsteinschen Allgemeinen Relativitätstheorie vor, die gegen den gesunden Menschenverstand verstoße. Auch Stark war bei der Versammlung als Redner anwesend.

Institutionalisierung

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Da in ganz Europa die Einrichtungen zur Grundlagenforschung Anfang des 20. Jahrhunderts jüdischen Wissenschaftlern eine besondere Integrationschance boten,[8] waren überproportional viele geistige Väter des modernen physikalischen Weltbildes jüdischer Abstammung (zum Beispiel Albert Einstein, Max Born und Wolfgang Pauli). Andere prominente deutsche Physiker wie Werner Heisenberg, der mit Born zusammengearbeitet hatte, wurden als „weiße Juden“ verunglimpft (siehe unten). Aus diesem Grund konstruierten die Antisemiten im Zuge der Auseinandersetzungen um die Relativitätstheorie Albert Einsteins bereits in den 1920er Jahren den Begriff der (abstrakten) jüdischen Physik, im Gegensatz zur (begreifbaren) Deutschen Physik.

Das Jahr 1933 brachte durch die Gleichschaltung und Entlassung jüdischer Wissenschaftler eine Zäsur in der Wissenschaftsorganisation, bei der Vertreter der Deutschen Physik Machtpositionen erlangten. Am 1. Mai 1933 wurde Johannes Stark vom Reichsinnenminister zum Präsidenten der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt eingesetzt, 1934 folgte die Präsidentschaft der wichtigen Forschungsförderungseinrichtung Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft. Im selben Jahr wurde allerdings auch Starks Anspruch auf den Vorsitz der Deutschen Physikalischen Gesellschaft mit großer Mehrheit verhindert. Die Vergabe des Nobelpreises an Werner Heisenberg 1933 schwächte die Position der Deutschen Physik zusätzlich. Auch nahmen einige deutsche Physiker bereits früh explizit für Einstein Stellung (z. B. Max von Laue).

Die Gruppe um Lenard und Stark erwies sich zunächst als klein, aber politisch einflussreich. Philipp Lenard übernahm die Aufgabe des Ideologen mit Beraterfunktion beim Reichskultusminister Bernhard Rust; Johannes Stark war der einflussreiche Organisator. Er prägte u. a. den Begriff „weißer Jude“ für nichtjüdische, im ideologischen Gefüge der Nationalsozialisten arische, Vertreter der Relativitäts- und Quantentheorie. In der SS-Zeitung Das Schwarze Korps vom 15. Juli 1937 griff er mit diesem Begriff vor allem Werner Heisenberg an.

Ein politischer Erfolg der Deutschen Physik war die Besetzung des Münchner Sommerfeld-Lehrstuhls durch den Deutschen Physiker Wilhelm Müller im Jahre 1939. Für diese Stelle war von der zuständigen Abteilung der Universität ursprünglich der Sommerfeld-Schüler Werner Heisenberg vorgesehen.

Aber schon zuvor verloren Lenards und Starks Anhänger an Einfluss, weil die moderne Physik ihre Nützlichkeit überall beweisen konnte, insbesondere in zahlreichen Forschungsprojekten des NS-Staates. Zu ihnen zählte beispielsweise das Uranprojekt. Dennoch war die Situation angespannt, sodass die beiden Physiker Wolfgang Finkelnburg und Otto Scherzer versuchten, die wissenschaftlichen Standpunkte endgültig und offiziell zu klären. Im November 1940 kam es zu einer heute als Münchner Religionsgespräch bezeichneten Aussprache zwischen Vertretern der Deutschen Physik (Rudolf Tomaschek, Alfons Bühl, Ludwig Wesch und Wilhelm Müller) und unter anderem Carl Ramsauer, Georg Joos, Hans Kopfermann und Carl Friedrich von Weizsäcker als Vertreter der modernen Physik. Darin sollten die Vertreter der Deutschen Physik wissenschaftlich unverrückbare Tatsachen der modernen Physik öffentlich anerkennen und die unerträglichen politischen Angriffe dagegen einstellen. Die schriftliche Vereinbarung hielt folgendes fest:

  1. Die theoretische Physik mit allen mathematischen Hilfsmitteln ist ein notwendiger Bestandteil der Gesamtphysik.
  2. Die in der speziellen Relativitätstheorie zusammengefassten Erfahrungstatsachen gehören zum festen Bestandteil der Physik. Die Sicherheit der Anwendung der speziellen Relativitätstheorie ist jedoch nicht so groß, dass eine weitere Nachprüfung unnötig wäre.
  3. Die vierdimensionale Darstellung von Naturvorgängen ist ein brauchbares mathematisches Hilfsmittel; sie bedeutet aber nicht die Einführung einer neuen Raum- und Zeitanschauung.
  4. Jede Verknüpfung der Relativitätstheorie mit einem allgemeinen Relativismus wird abgelehnt.
  5. Die Quanten- und Wellenmechanik ist das einzige zurzeit bekannte Hilfsmittel zur quantitativen Erfassung der Atomvorgänge. Es ist erwünscht, über den Formalismus und seine Deutungsvorschriften hinaus zu einem tieferen Verständnis der Atome vorzudringen.

Lenard selbst sah seine Vorstellungen nicht hinreichend vertreten und wertete die Erklärung als Verrat. Die Vertreter der modernen Physik hingegen konnten mit dieser Auflistung von Selbstverständlichkeiten leben.

Das in Teilen pseudowissenschaftliche Phänomen der Deutschen Physik – wie auch der von Ludwig Bieberbach und Theodor Vahlen propagierten Deutschen Mathematik oder der Deutschen Chemie Paul Waldens – wurde bislang überwiegend als Vorhaben interpretiert, die Naturwissenschaften in die faschistische Gesellschaft zu integrieren. Dabei wechseln sich die beiden Tendenzen einer völkischen Wissenschaft nach Lenard, Stark oder Vahlen Anfang der 1930er Jahre mit einer Wissenschaft als nationaler Aufgabe im Sinne des Volksganzen ab, was den Notwendigkeiten der Autarkie- und Rüstungspolitik ab 1936 besser entsprach. Die Besonderheit der Deutschen Physik lag dabei im vergleichsweise großen politischen Einfluss der beiden Nobelpreisträger Lenard und Stark (und dem erhofften Einfluss anderer Nobelpreisträger) in Form von leitenden Positionen in der Wissenschaftsorganisation und beratenden Funktionen gegenüber der politischen Elite ab 1933.

Die Wurzeln der Deutschen Physik lassen sich jedoch bis ins späte 19. Jahrhundert zurückverfolgen, als in vielen Ländern Europas nationale Wissenschaften propagiert wurden. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs uferten die Gegensätze durch Manifeste führender Gelehrter in einen regelrechten Krieg der Geister aus. Sicherlich existieren nationale Stile von Wissenschaften, die sich in Methoden und Formen der Theoriebildung unterscheiden. Die Deutsche Physik entstand jedoch am Ende des Ersten Weltkriegs als Antipol zur aufkommenden modernen Physik und forderte eine prinzipielle Anschaulichkeit der Modelle und das Experiment als methodische Grundlage im Unterschied zu den abstrakten Gedankenexperimenten der theoretischen Physik. Die Hauptgründe sind in der speziellen geistigen Verfasstheit der wissenschaftlichen Elite in der Weimarer Republik zu finden: Viele Hochschullehrer, die ihre wesentliche Karriere noch im Kaiserreich gemacht hatten, lehnten die Weimarer Demokratie als „undeutsche“ Staatsform ab und konnten sich mit den Veränderungen, die die moderne Zeit sowohl auf politischer als auch wissenschaftlicher Ebene hervorbrachte, nicht anfreunden. Die Kritik der Deutschen Physik richtete sich insbesondere gegen die den klassischen physikalischen Vorstellungen widersprechenden Thesen Albert Einsteins, der durch seine Arbeiten sowohl zur Relativitätstheorie als auch zur Quantentheorie die moderne Physik verkörperte und dafür 1921 sogar den Nobelpreis erhielt. Die zuletzt verzweifelt erscheinenden Versuche Lenards, das Relativitätsprinzip und die Quantentheorie durch die Hilfskonstruktion der Äthertheorie auf eine klassisch-anschauliche Basis zu stellen, verloren mit der weiteren Entwicklung der Physik und spätestens mit Entdeckung der Kernspaltung jede Plausibilität.

Im Nationalsozialismus wandelte sich die Deutsche Physik endgültig zur rassistischen Arischen Physik, während sich die moderne Physik weiter etablierte. Ironischerweise war auch im nationalsozialistischen Staat die sogenannte „moderne Physik“ Grundlage für militärisch relevante Forschungsprojekte wie etwa das „Uranprojekt“, weshalb spätestens nach der grundsätzlichen Aussprache zwischen Vertretern der modernen und der Deutschen Physik Ende 1940 Lenard und Stark isoliert waren.

In Bertolt Brechts Drama Furcht und Elend des Dritten Reiches wird in einer Szene auf die Deutsche Physik eingegangen. In dieser Szene tauschen sich zwei Göttinger Physiker über wissenschaftliche Erkenntnisse zu Gravitationswellen aus. Die dabei offenbar von Einstein stammenden Ergebnisse können die Wissenschaftler nur heimlich vorlesen, und bei der versehentlichen Nennung von Einsteins Namen muss einer der Wissenschaftler vor möglichen Spitzeln Verachtung gegenüber Einstein heucheln: „Ja, eine echte jüdische Spitzfindigkeit! Was hat das mit Physik zu tun?“ In dem der Szene vorangestellten Gedicht kommentiert Brecht, im Dritten Reich habe man keine „richtige / sondern eine arisch gesichtige / Genehmigte deutsche Physik“ gewollt.

Einflussreiche Vertreter

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Insgesamt vertrat eine Gruppe von etwa 30 Physikern die Deutsche Physik aktiv durch Lehre, Publikationen und Vorträge. Die führenden Vertreter waren:

In den 1930er Jahren kamen jüngere Physiker hinzu, wie z. B. Harald Volkmann, die meist Schüler von Lenard und Stark waren und deren politische Aktivität oft die ihrer Lehrer übertraf.

  • Philipp Lenard: Große Naturforscher: eine Geschichte der Naturforschung in Lebensbeschreibungen. München 1929.
  • Philipp Lenard: Deutsche Physik. 4 Bände. J.F. Lehmann-Verlag, München 1936, insbesondere Vorwort. in Band I, und S. I, III und XII f. sowie Verlagsinformationen in 3. Auflage ebenda 1943.
  • Rudolf Tomaschek: Die Entwicklung der Äthervorstellung. In: August Becker (Hrsg.): Naturforschung im Aufbruch. München 1936, S. 70–74.
  • Philipp Lenard: Wissenschaftliche Abhandlungen Band IV. Herausgegeben und kritisch kommentiert von Charlotte Schönbeck. GNT, Berlin/Diepholz 2003, ISBN 3-928186-35-3.
  • Andreas Kleinert: Von der Science allemande zur Deutschen Physik: Nationalismus und moderne Naturwissenschaft in Frankreich und Deutschland zwischen 1914 und 1940. In: Francia. 6, 1978, S. 509–525.
  • Fritz K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933. Stuttgart 1983. (Erstauflage: The Decline of the German Mandarins. Cambridge MA 1969)
  • Jörg Behrmann: Integrationschancen jüdischer Wissenschaftler in Grundlagenforschungsinstitutionen im frühen 20. Jahrhundert. In: Walter Grab (Hrsg.): Juden in der deutschen Wissenschaft. Internationales Symposium, April 1985. (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte. Beiheft 10). München 1985, S. 281–327.
  • Paul Forman: Weimar Culture, Causality, and Quantum Theory, 1918–1927: Adaption by German Physicists and Mathematicians to a Hostile Intellectual Environment. In: Historical Studies in the Physical Sciences. 3, 1971, S. 1–115.
  • Alan D. Beyerchen: Wissenschaftler unter Hitler. Physiker im Dritten Reich. Frankfurt am Main 1982, ISBN 3-548-34098-9.
  • Klaus Hentschel (Hrsg.): Physics and National Socialism. An Anthology of Primary Sources. Basel 1996, ISBN 3-0348-0202-1.
  • Werner Heisenberg: Deutsche und Jüdische Physik. Hrsg. von Helmut Rechenberg. München 1992, ISBN 3-492-11676-0.
  • Freddy Litten: Mechanik und Antisemitismus: Wilhelm Müller (1880–1968). Institut für Geschichte der Naturwissenschaften, 2000, ISBN 3-89241-035-6.
  • Dieter Hoffmann, Mark Walker (Hrsg.): Physiker zwischen Autonomie und Anpassung. Die Deutsche Physikalische Gesellschaft im Dritten Reich. Wiley-VCH, Weinheim 2007, ISBN 978-3-527-40585-5.

Einzelnachweise und Anmerkungen

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  1. Jörg Willer: Fachdidaktik im Dritten Reich am Beispiel der Physik. In: Medizinhistorische Mitteilungen. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte und Fachprosaforschung. Band 34, 2015, ISBN 978-3-86888-118-9, S. 105–121, hier: S. 105.
  2. Vorwort. In: Philipp Lenard: Deutsche Physik. Band I, München 1936, S. IX.
  3. Rudolf Tomaschek: Die Entwicklung der Äthervorstellung. In: August Becker (Hrsg.): Naturforschung im Aufbruch. München 1936, S. 73.
  4. Der Satz Physik ist für die Physiker viel zu schwer stammt von dem prominenten Mathematiker David Hilbert.
  5. Fritz K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933. Stuttgart 1983. (Erstauflage: The Decline of the German Mandarins. Cambridge, Mass. 1969)
  6. Paul Forman: Weimar Culture, Causality, and Quantum Theory, 1918–1927: Adaption by German Physicists and Mathematicians to a Hostile Intellectual Environment. In: Historical Studies in the Physical Sciences. 3, 1971, S. 1–115.
  7. Andreas Kleinert: Von der Science allemande zur Deutschen Physik: Nationalismus und moderne Naturwissenschaft in Frankreich und Deutschland zwischen 1914 und 1940. In: Francia. 6, 1978, S. 515 ff.
  8. Jörg Behrmann: Integrationschancen jüdischer Wissenschaftler in Grundlagenforschungsinstitutionen im frühen 20. Jahrhundert. In: Walter Grab (Hrsg.): Juden in der deutschen Wissenschaft. Internationales Symposium, April 1985. (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte. Beiheft 10). München 1985, S. 281–327.