„Essstörung“ – Versionsunterschied
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{{Infobox ICD |
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Mit '''Essstörung''' bezeichnet man eine Verhaltensstörung mit meist ernsthaften und langfristigen Gesundheitsschäden. Zentral ist ''die ständige gedankliche und emotionale Beschäftigung mit dem Thema „Essen“''. Sie betreffen die Nahrungsaufnahme oder deren Verweigerung und hängen mit psychosozialen Störungen und mit der Einstellung zum eigenen Körper zusammen ([[Psychosomatik]]). Wenn die Störung zwanghaft ist, spricht man von [[Sucht]] oder [[Abhängigkeit (Medizin)|Abhängigkeit]]. |
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| 01-CODE = F50.0 |
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[[Bild:0k9093-1i.jpg|thumb|Essen]] |
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| 01-BEZEICHNUNG = Anorexia nervosa |
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| 02-CODE = F50.1 |
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| 02-BEZEICHNUNG = Atypische Anorexia nervosa |
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|03-BEZEICHNUNG= Bulimia nervosa |
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|03-CODE= F50.2 |
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|04-BEZEICHNUNG= Atypische Bulimia nervosa |
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|04-CODE= F50.3 |
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|05-BEZEICHNUNG= Essattacken bei anderen psychischen Störungen |
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|05-CODE= F50.4 |
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|06-BEZEICHNUNG= Sonstige Essstörungen |
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|06-CODE= F50.8 |
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Eine '''Essstörung''' ist eine [[Verhaltensstörung]], bei der ''die ständige gedankliche und emotionale Beschäftigung mit dem Thema „Essen“'' eine zentrale Rolle spielt. Essstörungen betreffen die Nahrungsaufnahme oder deren Verweigerung. Sie hängen meist mit psychosozialen Problemen sowie mit der Einstellung zum eigenen Körper zusammen ([[Psychosomatik]]) und können zu ernsthaften und langfristigen Gesundheitsschäden führen. |
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==psychologische Wirkmechanismen== |
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Bei allen Essstörungen handelt es sich um [[Sucht|Sucht-Mechanismen]] oder [[Abhängigkeit (Medizin)]]. Obwohl der Begriff „Sucht“ nicht von „suchen“ kommt, steht psychologisch hinter der Sucht immer eine stellvertretende Suche nach Beziehung, Liebe, Glück, Kontakt, Lust, Zufriedenheit usw., die natürlich auf diesem Weg erfolglos bleibt. Im Wesentlichen handelt es sich um eine Ersatzhandlung, bei der die geistige und emotionale Energie auf die Auseinandersetzung mit dem Suchtmittel gerichtet ist. Die Notwendigkeit menschlicher Kontakte und oft auch die Anforderungen des Alltags werden missachtet. Bei den Essstörungen ist das Suchtmittel weniger die Nahrung an und für sich, sondern die Beschäftigung mit Ernährung und dem eigenen Körperbild. Wie bei allen Süchten sind die Suchtmittel veränderlich und die vielfältigen Formen der Essstörung können ineinander übergehen und sich vermischen. |
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Von manchen werden Essstörungen zu den [[Zivilisationskrankheit]]en gezählt. |
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==Hauptformen== |
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Die bekanntesten, häufigsten und anerkannten Essstörungen sind die unspezifische ''Ess-Sucht'', die ''Magersucht'' (Anorexia Nervosa), die ''Ess-Brech-Sucht'' (Bulimia nervosa) und die ''Fressattacken'' (englisch „Binge Eating“). Die einzelnen Störungen sind nicht klar gegeneinander abgrenzbar. Oft wechseln die Betroffenen von einer Form zur andern und die Merkmale gehen ineinander über und vermischen sich. Zentral ist immer, dass die Betroffenen sich zwanghaft mit dem Thema Essen beschäftigen. Bei allen chronisch gewordenen Essstörungen sind lebensgefährliche körperliche Schäden möglich ([[Unterernährung]], [[Mangelernährung]], [[Fettleibigkeit]]). Frauen sind verstärkt betroffen. Bei ihnen treten auch Störungen im [[Menstruation|Menastruationszyklus]] auf, bis zum totalen Aussetzen der Menstruation ([[Amenorrhoe]]). |
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== Hauptformen == |
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Die Übergänge zwischen „normal“ und „krankhaft“ sind von vielen Faktoren abhängig. Ein Mensch, der aus religiösen oder ideologischen Gründen besondere Ernährungsformen pflegt oder gar sich selbst kasteit, ist nicht unbedingt essgestört. Ebensowenig wie jemand, der sich unbekümmert ein Zuviel an Kilos auf die Rippen isst. Eine Essstörung kann sich jedoch in einem ideologisch verbrämten Umfeld etablieren oder dadurch aufrecht erhalten werden. Manche Ess-Süchtige sind körperlich und in ihrem Verhalten völlig unauffällig - die Sucht spielt sich bei ihnen ausschließlich im Kopf ab. |
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Die bekanntesten, häufigsten und anerkannten Essstörungen sind die unspezifische ''Ess-Sucht'', die ''[[Magersucht]]'' (Anorexia nervosa), die ''[[Bulimie|Ess-Brech-Sucht]]'' (Bulimia nervosa) und die ''[[Binge Eating|Fressattacken]]'' (englisch „Binge Eating“). Die einzelnen Störungen sind nicht klar voneinander abgrenzbar. Oft wechseln die Betroffenen von einer Form zur anderen und die Merkmale gehen ineinander über und vermischen sich. Zentral ist immer, dass die Betroffenen sich zwanghaft mit dem Thema [[Ernährung des Menschen|Essen]] beschäftigen. Bei allen chronisch gewordenen Essstörungen sind lebensgefährliche körperliche Schäden möglich ([[Unterernährung]], [[Mangelernährung]], [[Adipositas]]). Frauen sind verstärkt betroffen. Bei manchen Frauen treten auch Störungen im [[Menstruation]]szyklus auf, bis hin zum dauerhaften Aussetzen der Menstruation ([[Amenorrhoe]]). |
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Die Übergänge zwischen „normal“ und „krankhaft“ sind von vielen Faktoren abhängig. Ein Mensch, der aus religiösen oder ideologischen Gründen besondere Ernährungsformen pflegt, ist nicht unbedingt essgestört. Manche Ess-Süchtige sind körperlich und in ihrem Verhalten völlig unauffällig – meist tritt bei ihnen das subjektive Gefühl der [[Sättigung (Physiologie)|Sättigung]] nicht zu einem physiologisch sinnvollen Zeitpunkt ein; bei ihnen spielt sich die Sucht ausschließlich im [[Kopf]] ab, und zwar im [[Gehirn]] ([[Suchtverhalten]]). |
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=== Ess-Sucht === |
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=== Esssucht === |
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Ess-Süchtige essen zwanghaft und ''denken dauernd an „Essen“'' und an die Folgen für ihren Körper. Sie essen entweder zu viel und leiden an [[Übergewicht]] oder [[Fettleibigkeit]], oder sie kontrollieren ihr Gewicht mit komplizierten Systemen von Essen, [[Diät]]en, [[Fasten]] und Bewegung. |
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Esssüchtige essen [[Zwangsstörung|zwanghaft]] und ''denken dauernd an „Essen“'' und an die Folgen für ihren Körper. Sie essen entweder zu viel oder sie versuchen, ihr [[Körpergewicht|Gewicht]] mit ungeeigneten Systemen von Essen, [[Diät]]en, [[Fasten]] und [[Körperliche Aktivität|Bewegung]] zu kontrollieren. |
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Esssucht führt häufig zu Übergewicht oder [[Adipositas]] (Fettleibigkeit), mit den zugehörigen [[Adipositas#Folgen|gesundheitlichen und sozialen Problemen]]. Übergewichtige fühlen sich oft als Versager und Außenseiter. [[Fehlernährung]] kann zu zusätzlichen Problemen führen. |
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=== Magersucht === |
=== Magersucht (Anorexia nervosa) === |
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{{Hauptartikel|Anorexia nervosa}} |
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Magersucht (Anorexia nervosa) ist durch einen absichtlich und selbst herbeigeführten Gewichtsverlust gekennzeichnet. Durch [[Hunger]]n und [[Kalorie]]nzählen wird versucht, dem Körper möglichst wenig [[Nahrung]] zuzuführen, durch körperliche Aktivitäten soll der Energieverbrauch gesteigert werden. Die betroffene Person sieht dabei den eigenen körperlichen Zustand häufig nicht, sie empfindet sich als zu dick, auch noch mit extremem Untergewicht ([[Körperschemastörung]]). |
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Eine spezielle Form der Anorexie ist die Magersucht während der [[Schwangerschaft]], auch [[Pregorexie]] genannt. |
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Die Folgen der ''Magersucht'' sind [[Unterernährung]], [[Muskelschwund]] und [[Mangelernährung]]. Die Langzeitfolgen sind beispielsweise [[Osteoporose]] und Unfruchtbarkeit. 5 bis 15 % der Betroffenen sterben, jedoch meist nicht durch eigentliches [[Hungertod|Verhungern]], sondern durch Infektionen des geschwächten Körpers oder [[Suicid]]. |
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Folgen der ''Magersucht'' sind [[Unterernährung]], [[Muskelschwund]] und [[Mangelernährung]]. Langzeitfolgen sind beispielsweise [[Osteoporose]] und [[Unfruchtbarkeit]]. 5 bis 15 % der Betroffenen sterben meist nicht durch [[Hungertod|Verhungern]], sondern durch [[Infektionskrankheit|Infektionen]] des geschwächten Körpers oder durch [[Suizid]]. |
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=== Ess-Brech-Sucht === |
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=== Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa) === |
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Bei der ''Ess-Brech-Sucht ([[Bulimie]], Bulimia nervosa)'' sind die Betroffenen meist normalgewichtig, haben aber große Angst vor der Gewichtszunahme, dem "Dickwerden"; man kann das als "Gewichtsphobie" umschreiben. Sie ergreifen deshalb ungesunde Gegenmaßnahmen wie Erbrechen, exzessiven Sport, Abführmittelgebrauch, Fasten oder Einläufe. Dadurch kommt der Körper in einen Mangelzustand und es kommt zu so genannten ''Ess-Attacken'', wobei große Mengen Nahrung auf einmal verzehrt werden. Neben diesen Heißhunger-bedingten Fressattacken kommt es noch zu stressbedingten. Das Überessen und Erbrechen wird häufig als "entspannend" erlebt. |
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{{Hauptartikel|Bulimia nervosa}} |
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Bei der ''Ess-Brech-Sucht'' (Bulimie, Bulimia nervosa) sind die Betroffenen meist normalgewichtig, haben aber große Angst vor der Gewichtszunahme, dem „Dickwerden“; man kann das als „Gewichtsphobie“ umschreiben. Sie ergreifen deshalb ungesunde Gegenmaßnahmen wie [[Erbrechen]], exzessiven [[Sport]], [[Abführmittel]]gebrauch, [[Fasten]] oder [[Einlauf (Medizin)|Einläufe]]. Dadurch kommt der Körper in einen [[Mangelernährung|Mangelzustand]] und es kommt zu so genannten ''Ess-Attacken'', wobei große Mengen [[Nahrung]] auf einmal verzehrt werden. Neben diesen [[Heißhunger]]-bedingten Fressattacken kommt es noch zu [[stress]]bedingten. Das Überessen und Erbrechen wird häufig als „entspannend“ erlebt. |
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Die ''Ess-Brech-Sucht'' kann zu Störungen des [[Elektrolyt]]-Stoffwechsels, zu Entzündungen der [[Speiseröhre]], zu Zahnschäden sowie zu Mangelerscheinungen führen. Da durch einen gestörten Elektrolythaushalt das [[Herz]] angegriffen werden kann, kann es zu Herzversagen und somit zum Tod kommen. |
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Die ''Ess-Brech-Sucht'' kann zu Störungen des [[Elektrolyt]]-[[Stoffwechsel]]s, zu [[Entzündung]]en der [[Speiseröhre]], zu [[Zahn]]schäden sowie zu [[Mangelernährung|Mangelerscheinungen]] führen. Da durch einen gestörten [[Elektrolyte|Elektrolythaushalt]] das [[Herz]] angegriffen werden kann, kann es zu [[Herzinsuffizienz#Laiensprache und Doppeldeutungen|Herzversagen]] und somit zum [[Tod]] kommen, insbesondere wenn die Ess-Brech-Sucht noch mit [[Untergewicht]] einhergeht. |
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„Binge Eating“ ist ein neuer Begriff in der Reihe der Essstörungen, der aus den USA kommt. „Binge“ heißt übersetzt „Gelage“ und wird in den USA üblicherweise im Zusammenhang mit Alkoholmissbrauch verwendet. Die damit angedeutete Nähe zu Suchterkrankungen drückt sich in der Verwendung des Begriffes für eine bestimmte Form der Essstörung aus, nämlich „Essattacken“. Von B„inge Eating“ wird dann gesprochen, wenn mindestens sechs Monate hindurch an zumindest zwei Tagen pro Woche eine Anfall von Heißhunger auftritt, bei dem in kürzester Zeit ungewöhnlich große Mengen an Nahrungsmitteln aufgenommen werden. Eine Kontrolle über die gegessene Menge gibt es nicht. Außerdem müssen mindestens drei der folgenden sechs Kriterien zutreffen: |
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*essen, ohne hungrig zu sein |
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*besonders schnelles Essen |
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*essen, bis ein unangenehmes Gefühl einsetzt |
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*es wird allein gegessen, um Gefühle von Schuld und Scham zu vermeiden |
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*die Ess-Anfälle werden als belastend empfunden |
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*nach dem Ess-Anfall treten Gefühle von Ekel, Scham oder Depressionen auf |
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Die auf recht kurze Zeitspannen beschränkten Essattacken unterscheiden BED (Binge Eating Disorder) von Adipositas, und die ausbleibenden Maßnahmen, eine Gewichtszunahme durch Erbrechen, Intensivsport oder Fasten zu verhindern, von der Bulimie |
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=== Binge-Eating-Störung (BES) === |
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===Pica-Syndrom=== |
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{{Hauptartikel|Binge Eating}} |
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Das [[Pica-Syndrom]] (auch: ''Picazismus'') beschreibt ein seltenes, wenig bekanntes [[Syndrom|Krankheitsbild]], bei dem Menschen ungewöhnliche und ausgefallene Dinge essen, wie zum Beispiel farbige [[Papier]]schnipsel, [[Humus|Gartenerde]], [[Tonmineral|Ton]] oder [[Tafelkreide|Kreide]]. Darunter fallen auch Dinge, die bei anderen Menschen [[Ekel]] hervorrufen können, wie beispielsweise [[Exkrement]]e ([[Koprophagie]]). Diese Essstörung kommt häufiger bei Menschen mit [[geistige Behinderung|geistiger Behinderung]] oder [[Demenz]] vor. Bei kleinen Kindern ist zunächst einmal von einem bloßen Ausprobierverhalten auszugehen, bei dem buchstäblich alles in den Mund genommen wird. Erst dann, wenn es häufig und offenbar absichtsvoll gewollt zu unterschiedslosem Aufessverhalten kommt, besteht möglicherweise Anlass, ein [[Pica-Syndrom ]] anzunehmen. |
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Essattacken treten zum Teil im Zusammenhang mit suchtartigen [[Heißhunger]]gefühlen auf, wobei der Suchtcharakter der Essstörung umstritten ist. Von einer Binge-Eating-Störung wird gesprochen, wenn während mindestens drei Monaten an mindestens einem Tag pro Woche eine Essattacke auftritt, bei der in kurzer Zeit ungewöhnlich große Mengen an [[Nahrungsmittel]]n aufgenommen werden. Der Betroffene verliert die Kontrolle über die Nahrungsaufnahme. |
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Es kann dabei unter anderem zu [[Vergiftung]]en, [[Unterernährung]] oder [[Obstipation|Verstopfung]] führen. Auch bei sonst harmlosen Materialien kann es zu [[Infektion]]en oder Vergiftungen kommen. |
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Außerdem müssen mindestens drei der folgenden fünf Bedingungen zutreffen: |
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===[[Orthorexia nervosa]]=== |
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Orthorexia nervosa bedeutet ''krankhaften „Gesund“-essen''. Betroffene verbringen mehrere Stunden täglich damit, zwanghaft Vitamingehalt und Nährwerte zu berechnen und Lebensmittel auszuwählen, wobei sich die Auswahl der „erlaubten“ Lebensmittel immer mehr verringert. Folgen sind [[Unterernährung|Unter-]] und [[Mangelernährung]] und [[Soziale Isolation]]. Die Betroffenen zeigen oft vor Lebensmitteln, die sie für ungesund halten, Angst, die manchmal auch wahnhafte Formen annehmen kann. |
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* essen, ohne hungrig zu sein |
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===Anorexia athletica=== |
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* besonders schnelles Essen |
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Durch übermäßigen Sport und den damit verbundenen Kalorienverbrauch versuchen die Erkrankten, an Gewicht zu verlieren. Diese Störung ist als Sport-Sucht bekannt und wird als Begleitstörung einer Ess-Sucht beobachtet. Als eigenständiges Krankheitsbild ist sie nicht anerkannt. |
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* essen, bis ein unangenehmes Völlegefühl einsetzt |
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* [[Situativer Einzelesser|allein essen]], aus empfundener [[Schuld (Ethik)|Schuld]] und [[Schamgefühl|Scham]] |
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* nach dem Ess-Anfall treten Gefühle von [[Ekel]], Scham oder [[Depression]]en auf |
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Die Ess-Anfälle werden als belastend empfunden. Obwohl die Essattacken jeweils nur kurz dauern, kann die Binge-Eating-Störung zu [[Adipositas]] führen. Von der [[Bulimie]] unterscheidet sich die BES durch die ausbleibenden Maßnahmen, eine Gewichtszunahme durch Erbrechen, Sport oder Fasten zu verhindern. |
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==Therapie== |
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===Essstörung=== |
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Zur erfolgreichenden Therapie ist meist eine mehrwöchige Arbeit in einer Spezialklinik für Essstörungen oder einer Sucht-Klinik erforderlich (siehe detailliert in [[Psychosomatische Klinik]]), ergänzt durch regelmäßige langjährige Mitarbeit in einer [[Selbsthilfegruppe]] ([[Overeaters Anonymous]]). |
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=== Pica-Syndrom === |
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===Übergewicht und Untergewicht=== |
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{{Hauptartikel|Pica-Syndrom}} |
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Über- oder Untergewicht sind eigenständige Krankheitsbilder und in über 95 % aller Fälle die Folge einer falschen [[Energiebilanz (Ernährung)|Energiebilanz]] als Verhältnis von Essen und Bewegung. Zur Therapie siehe: [[Adipositas]], [[Ernährungsumstellung]] und [[Ernährungslehre]]. |
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Das Pica-Syndrom (auch: ''Picazismus'') ist ein [[Psychiatrie|psychiatrisches Symptom]] und kommt gehäuft bei Menschen mit [[Geistige Behinderung|geistiger Behinderung]], Entwicklungsstörungen oder [[Demenz]] vor. Auch Schwangere können betroffen sein. Wie häufig die Störung ist, ist nicht bekannt.<ref name=":0">{{Literatur |Autor=Nichole R. Kelly, Lisa M. Shank, Jennifer L. Bakalar, Marian Tanofsky-Kraff |Titel=Pediatric Feeding and Eating Disorders: Current State of Diagnosis and Treatment |Sammelwerk=Current Psychiatry Reports |Band=16 |Nummer=5 |Datum=2014-05-01 |ISSN=1523-3812 |Seiten=446 |Online=https://link.springer.com/article/10.1007/s11920-014-0446-z |Abruf=2017-08-05 |DOI=10.1007/s11920-014-0446-z}}</ref> Menschen essen dabei ungewöhnliche Dinge, zum Beispiel [[Boden (Bodenkunde)|Erde]], Stärke, [[Eis]] (in großen Mengen), [[Papier]]schnipsel, [[Lehm|Ton]], [[Tafelkreide]] oder [[Kot]] ([[Koprophagie]]). Der Verzehr kann unter anderem zu [[Vergiftung]]en, [[Unterernährung]] oder [[Verstopfung]] führen. Auch bei sonst harmlosen Materialien sind [[Infektionskrankheit|Infektionen]] möglich. |
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==Medizinische Einordnung und Forschung== |
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===Diagnostik=== |
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Die [[Diagnostik]] der Störungen erfolgt durch Interview mit dem Patienten und über Fragebögen. Unter- und Übergewicht und Adipositas werden mit dem [[BMI]] und anderen Kennzahlen gemessen. |
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[[Säugling|Babys]] und [[Kleinkind]]er explorieren mit dem Mund. Die Diagnose Pica sollte deshalb erst ab einem Alter von zwei Jahren gestellt werden.<ref>{{Literatur |Autor=Sera L. Young |Titel=Craving earth. Understanding pica. The urge to eat clay, starch, ice, and chalk |Verlag=Columbia University Press |Ort=New York |Datum= |ISBN=978-0-231-51789-8 |Seiten=16}}</ref> Das Kind muss dazu ''gezielt'' Substanzen essen, die nicht für den Verzehr geeignet sind. Grundsätzlich ist bei der Diagnosestellung der geistige Entwicklungsstand zu berücksichtigen.<ref name=":0" /> |
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===Kategorisierung=== |
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Krankheiten werden im deutschsprachigen Raum nach den diagnostischen Leitlinien der [[ICD-10]] kategorisiert. ICD-10 ist eine beschreibende Sammlung von Symptomen und hat wenig mit dem Stand der Forschung und klinischer Theorie zu tun. Essstörungen sind dort nur teilwese beschrieben: Im Kapitel sind nur die Bulimie und die Anorexie eindeutig erfasst. Die meisten Patienten zeigen Verhaltensweisen aus verschiedenen Formen der Esstörungen und fallen dadurch unter „Sonstige Essstörungen“, werden aber der Einfachheit halber unter Bulimie oder Anorexie verschlüsselt. |
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Ess-Sucht: F50, F50.3, F50.4, F50.8 eingeordnet, oft in Verbindung mit E66 <br> |
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Magersucht: F50.0, auch in Verbindung mit F50.5 <br> |
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Ess-Brech-Sucht: F50.2, oft in Vebindung mit F50.3 und F50 <br> |
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Binge Eating: in ICD-10 nicht erwähnt, in der amerikanischen DSM-IV Kandidatenstatus <br> |
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Alle anderen Störungen werden unter „Sonstige Essstörungen“ F50.8 oder F50.4 und werden in der Praxis oft durch Kombination mit Schlüsseln anderer Erkrankungen umschrieben. |
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=== Orthorexia nervosa === |
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{{Hauptartikel|Orthorexia nervosa}} |
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Da die Formen der einzelnen Essstörungen oft ineinander übergehen und sich vermischen sind sie schwer zu trennen. Deshalb sind einzelne Zahlen mit Vorsicht zu betrachten. Hier ein paar Zahlen für Deutschland: |
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*''Magersucht'': etwa 100.000 Menschen sind betroffen. 90 % der Betroffenen sind Frauen zwischen 15 und 35 Jahren. 10 % sind Männer. Essstörungen bei Männern sind bisher noch wenig erforscht. |
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*''Ess-Brech-Sucht'': etwa 600.000 Menschen sind betroffen. |
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*''Binge Eating'': etwa 2 % der Bevölkerung ist betroffen, wäre damit die häufigste Essstörung. <br> |
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Orthorexia nervosa bedeutet ''krankhaftes Gesund-Essen''. Betroffene verbringen mehrere Stunden täglich damit, zwanghaft [[Vitamine|Vitamingehalt]] und [[Nährwert]]e zu berechnen und [[Lebensmittel]] auszuwählen, wobei sich die Auswahl der „erlaubten“ Lebensmittel immer mehr verringert. Folgen sind [[Unterernährung]], [[Mangelernährung]] und [[soziale Isolation]]. Die Betroffenen zeigen teilweise [[Angst]] vor Lebensmitteln, die sie für ungesund halten. Die Orthorexie zeigt durch den Missionierungsdrang und die kognitiv nicht zugängliche Symptomatik auch Merkmale einer [[Wahn|Wahn-]] oder [[Zwangsstörung]]. |
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Die Adipositas ist in einem Teil der Fälle Folge einer Essstörung und stellt in ihrer Gesamtzahl ein weltweit zunehmendes Problem dar. So sprechen die [[Weltgesundheitsorganisation]] und die [[Centers for Disease Control and Prevention|CDC]] inzwischen von einer globalen [[Epidemie]] bzw. [[Pandemie]], die ebenso ernst genommen werden sollte wie jede zum Tode führende Infektionskrankheit. |
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Weltweit leben rund eine Milliarde Menschen mit starkem Übergewicht (WHO). Sollte sich dieser Trend fortsetzen, wird die Zahl der übergewichtigen Menschen innerhalb der nächsten 10 Jahren auf 1,5 Milliarden ansteigen. Die gesundheitlichen und durchaus auch finanziellen und sozialwirtschaftlichen Folgen von Übergewicht sind enorm. |
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In der klinischen Psychologie und in der Psychiatrie ist strittig, ob ein solches selbstständiges Krankheitsbild überhaupt existiert. Es wurde weder in das internationale Klassifikationssystem [[Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme|ICD]] noch in das Klassifikationssystem der Vereinigten Staaten ([[DSM-5]]) aufgenommen. |
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===Geschichte=== |
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[[Hilde Bruch]] ''Eating disorders: obesity, anorexia nervosa, and the person within'' (1973), war Wegbereiterin psychotherapeutischer Forschung zu Essstörungen. Seit 1980 gibt es in Deutschland spezifische Sucht-Kliniken und Selbsthilgegruppen (OA). 1999 wurde in Deutschland die [[Gesellschaft für Ernährungsmedizin und Diätetik]] gegründet. |
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=== Anorexia athletica === |
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===Kulturgeschichte, Literatur und Medien=== |
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{{Hauptartikel|Anorexia athletica}} |
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Essstörungen spielen in der Erzählkultur eine Rolle beispielsweise im Märchen „Der süße Brei“ oder vom [[Schlaraffenland]]. In der Literatur in [[Franz Kafka]]s „Hungerkünstler“ (Anf. 20. Jh.), [[François Villon]]'s Ballade (Nachdichtung von [[Paul Zech]]) mit der bekannten Zeile: „Vor vollen Tischen muss ich Hungers sterben...“, Jagger/Richards „I can't get no satisfaction“. Eine genaue Schilderung familiärer Bulimie-Wahrnehmungen enthält „Lange Tage“ von [[Maike Wetzel]]. [[Ulrike Draesner]] hat 2002 den Roman „Mitgift“ zum gleichen Thema vorgelegt. Die bekannte klassische Violonistin [[Midori Goto]] beschreibt in ihrer Biografie, wie sie Bulimie überwindet (dt. 2004). Im Film: „[[Das große Fressen]]“. |
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Durch übermäßigen Sport und den damit verbundenen höheren Energieumsatz versuchen die Erkrankten Gewicht zu verlieren. Als eigenständiges [[Krankheit]]sbild ist sie nicht anerkannt. |
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Internetforen und spezielle Webseiten sind eine ausgezeichnete Quelle für Information, Rat und Hilfe für Betroffene, Angehörige und Behandler. |
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Seit den 1980er und 1990er Jahren wurde von einem gehäuften Auftreten von Essstörungen bei [[Leistungssport]]lern berichtet. Der Begriff [[Anorexia athletica]] wird 2004 in einer Arbeit des [[Graz]]ers Sudi als solcher genannt. Gemeint ist eine Form von Essstörungen, die nicht alle Merkmale einer echten [[Anorexia nervosa]] erfüllt und diagnostisch deshalb als atypische Anorexia nervosa ([[ICD-10]]) oder als [[EDNOS]]s ([[DSM-IV]]) eingeordnet wird. Charakteristisch ist eine zu geringe Zufuhr an Energie (siehe: [[physiologischer Brennwert]]), die zu schweren [[Gesundheit]]sproblemen führt (unter anderem Abnahme der [[Knochendichte]] ([[Osteoporose]]), [[Knochenbruch|Knochenbrüche]] und [[Amenorrhoe]]). |
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== Weblink == |
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* [http://www.overeatersanonymous.de/ Overeaters Anonymous] ([[Selbsthilfegruppe]]n in Deutschland) |
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* [http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=960372458 Anja Hilbert: Körperbild bei Frauen mit 'Binge-Eating'-Störung. Diss. Marburg 2000] |
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* [http://www.binge-eating-forum.de: Binge-Eating-Forum] |
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* [http://www.austauschplattform.de: Viele Infos zu BED] |
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* [http://www.uni-essen.de/psychosomatik/html/adipositas.html: Psychotherapie bei Adipositas] |
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* [http://www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/038-011.htm Kurzfassung der Behandlungsleitlinie Essstörungen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde] |
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* [http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/028-011.htm Leitlinie Essstörungen der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie] |
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* [http://www.ess-stoerungen.net: Ess-stoerungen.net - Hilfe und Beratung bei Essstörungen] |
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* [http://www.praevention-von-essstoerungen.de: praevention-von-essstoerungen.de - Prävention von Essstörungen] |
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* [http://www.hungrig-online.de: Hungrig-Online.de - Informations- und Kommunikationsangebot des Hungrig-Online e.V.] |
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=== Fütterstörungen im frühen Kindesalter, Rumination und Erbrechen === |
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Schon [[Säugling|Babys]] und [[Kleinkind|kleine Kinder]] können Essstörungen entwickeln, allerdings in anderer Ausprägung als beim Erwachsenen. |
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In der [[ICD-10]]-Klassifikation werden unter der Chiffre ''ICD-10 P92'' die ''[[Ernährung]]sprobleme beim [[Neugeborenes|Neugeborenen]]'' aufgelistet, wie etwa [[Erbrechen]] beim Neugeborenen (ICD-10 P92.0), Regurgitation und '''Rumination''' (wiederholtes Hinaufwürgen von [[Flüssigkeit]] oder [[Nahrung]]) (P92.1), Trinkunlust beim Neugeborenen (P92.2), [[Unterernährung]] beim Neugeborenen (P92.3), [[Überernährung]] beim Neugeborenen (P92.4), Schwierigkeiten beim Neugeborenen bei [[Stillen|Brusternährung]] (P92.5) und weitere. |
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Die ICD-10-Chiffre ''ICD-10 F98.2'' bezeichnet eine ''Fütterstörung im frühen Kindesalter'' mit unterschiedlicher [[Symptom]]atik. Es kommt beispielsweise zu [[Nahrung]]sverweigerung bzw. zu extrem wählerischem Essverhalten bei ausreichendem Angebot an Nahrung, ohne dass eine [[Organ (Biologie)|organische]] [[Krankheit]] vorliegt. Begleitend kann Rumination (wiederholtes Hinaufwürgen von Essen ohne [[Übelkeit]] oder eine Krankheit des [[Verdauungstrakt]]es) vorhanden sein. Auch im frühen Kindesalter kann es zu einer Essstörung kommen. Nach der Definition nach ICD-10 (F98.2) spricht der Mediziner von einer Fütterstörung mit unterschiedlicher Symptomatik. Das Kind verweigert die Nahrung und zeigt wählerisches Essverhalten. Dieses Krankheitsbild kann von eventueller Rumination oder einer Erkrankung des [[Magen-Darm-Trakt]]es begleitet werden. Die Essstörung beginnt vor dem 6. Lebensjahr und ist nicht durch andere psychische Ursachen oder Nahrungsmangel erklärbar. Diese Störung kann genetische, psychische, motorische, mentale Störungen zur Ursache haben. |
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Im Mittelpunkt steht die Unlust, Weigerung, oder Unfähigkeit des Kindes, die angebotene Nahrung aufzunehmen. Somit kann die Fütterinteraktion zwischen Mutter und Kind gestört werden. Daraus resultiert ein Überlastungssyndrom der fütternden Person mit fehlender Wahrnehmung der kindlichen Signale und Verstärkung des Problems. Oft wird eine Sondierung zur Nahrungsaufnahme beim Kind eingesetzt. Diese sollte bis zu zwei Jahren nicht ausschließlich angewandt werden, da es sonst zu erheblichen Beeinträchtigungen kommen kann (z. B. mangelnde mundmotorische Erfahrung, sensorische Störung, erhöhte [[Refluxösophagitis|Reflux]]-Gefahr nach PEG, erschwerte Ausbildung des Hungergefühls). |
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== Therapie == |
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=== Essstörung === |
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Erfolgreiche Behandlungen gehen meist von einem multimodalen Ansatz aus. Das bedeutet, dass unterschiedliche Behandlungsstrategien gleichzeitig eingesetzt werden. Im Zentrum steht meist eine [[Psychotherapie]]. Hierbei können sowohl [[Kognitive Verhaltenstherapie|kognitive]] aber auch [[Psychoanalyse|psychodynamische]] Therapien eingesetzt werden. Bei manchen Essstörungen haben sich auch [[Familientherapie|familientherapeutische]] Behandlungsprogramme als sinnvoll erwiesen. Bei Kindern und Jugendlichen ist eine Beratung und [[Psychoedukation]] der Eltern immer notwendig. Gleichzeitig kann ein Ernährungsprotokoll geführt werden. Bei bestimmten Essstörungen ist ein regelmäßiges Wiegen notwendig, aber auch Unterstützung bei einer ausgewogenen Ernährung. Auch eine zusätzliche medikamentöse Therapie kann in manchen Fällen hilfreich sein. Bei Anorexie und Bulimie werden [[Antidepressiva]] eingesetzt. |
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In einer [[Selbsthilfegruppe]] können Betroffene lernen, aus den Berichten anderer Betroffener die Ursachen und Abläufe zu erkennen. In der Gemeinschaft können neue Einstellungen und Werte und daraus abgeleitete neue Verhaltensweisen gelernt und stabilisiert werden. In Deutschland gibt es mehrere Selbsthilfeorganisationen. Teilnehmen kann jeder, unabhängig von einer Therapie, oder auch vorbereitend, begleitend und nach einer Therapie. Gezielt mit Essstörungen befassen sich unter anderem die an das [[Zwölf-Schritte-Programm]] der [[Anonyme Alkoholiker|Anonymen Alkoholiker]] angelehnten Gruppen [[Food Addicts In Recovery Anonymous]] und [[Overeaters Anonymous]]. |
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Wenn die ambulante Behandlung keinen Erfolg bringt, ist zumeist eine stationäre oder teilstationäre Behandlung erforderlich. Insbesondere bei Magersucht ist eine stationäre Behandlung als lebenserhaltende Maßnahme notwendig, |
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* wenn ein kritisches Untergewicht erreicht ist und/oder |
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* wenn körperliche Folgeschäden zu erwarten sind, etwa bei zu geringer Flüssigkeitszufuhr oder bei häufigem Erbrechen. |
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Die von einer Essstörung Betroffenen stehen einer konkreten Behandlung oft ablehnend oder ambivalent gegenüber.<ref>[[Volker Faust]]: Psychische Gesundheit 143: ''Ess-Störungen.'' Stiftung Liebenau, Mensch - Medizin - Wirtschaft, Meckenbeuren-Liebenau, 2018. In: Psychiatrisch-neurologisches Informations-Angebot der Stiftung Liebenau. Unter Mitarbeit von Walter Fröscher und Günter Hole. (Anorexia nervosa mit eingeschränkter Nahrungsaufnahme, Bulimia nervosa mit Ess-Anfällen, Binge-Eating-Störung mit Ess-Anfällen und Kontroll-Verlust über das Essen).</ref> |
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=== Übergewicht und Untergewicht === |
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Über- oder Untergewicht sind eigenständige Krankheitsbilder und in über 95 % aller Fälle die Folge einer falschen [[Energiebilanz (Ernährung)|Energiebilanz]] als Verhältnis von Essen und Bewegung. Zur Therapie siehe: [[Adipositas]], Ernährungsumstellung und [[Ernährungswissenschaft|Ernährungslehre]]. |
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== Medizinische Einordnung == |
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=== Diagnostik === |
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Die [[Diagnostik]] erfolgt durch die Befragung des Patienten und über Fragebögen. Unter- und Übergewicht und Adipositas werden mit dem [[Body-Mass-Index]] und anderen Kennzahlen gemessen. |
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=== Klassifikation === |
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Krankheiten werden weltweit nach den diagnostischen Kriterien der [[ICD-10]] kategorisiert. Die ICD-10 ist eine beschreibende Sammlung von Krankheiten.<ref>{{Literatur |Autor=Hans-Ulrich Wittchen |Hrsg=Hans-Ulrich Wittchen & Jürgen Hoyer |Titel=Diagnostische Klassifikation psychischer Störungen |Sammelwerk=Klinische Psychologie & Psychotherapie |Auflage=2., überarbeitete und erweiterte |Verlag=Springer-Verlag |Ort=Berlin/Heidelberg |Datum=2011 |ISBN= |Seiten=40}}</ref> Essstörungen sind dort unter dem Code F50 und folgenden beschrieben.<ref>{{Webarchiv |url=https://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/kodesuche/onlinefassungen/htmlgm2017/block-f50-f59.htm |wayback=20161128201156 |text=ICD-10 F50 (Esssucht) und Unterkategorien }}</ref> Im ICD-10-GM gehören Essstörungen zu den [[Liste der psychischen und Verhaltensstörungen nach ICD-10#F50–F59 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren|Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren]]. |
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!Umgangssprachliche Bezeichnung!! ICD-10-Code !!Genaue Diagnose |
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|Essstörung |
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|F50 |
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|Essstörung |
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| Magersucht || F50.0 |
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F50.1 |
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| Anorexia nervosa |
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Atypische Anorexia nervosa |
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| Ess-Brech-Sucht || F50.2 |
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F50.3 |
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| Bulimia nervosa |
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Atypische Bulimia nervosa |
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| Binge Eating || - || (Derzeit keine eigene Diagnose, aber F50.4 oder F50.9 möglich) |
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| - |
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|F50.4 |
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|Essattacken bei anderen psychischen Störungen |
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|F50.5 |
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|Erbrechen bei anderen psychischen Störungen |
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| Sonstige Essstörungen ||F50.8 |
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F50.9 |
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| Sonstige Essstörungen<br />Essstörungen, nicht näher bezeichnet |
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== Häufigkeit und Folgen == |
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* Eine 2003 bis 2006 durchgeführte Studie des [[Robert Koch-Institut]]s mit über 17.000 Teilnehmern zwischen 11 und 17 Jahren zeigte bei fast 30 % der Mädchen Essstörungen wie Magersucht, Ess-Brech-Sucht oder Fettsucht. Bei Jungen waren noch 15 % betroffen. Außerdem waren der Studie zufolge Kinder aus sozial benachteiligten Familien fast doppelt so häufig betroffen wie Kinder aus der oberen sozialen Schicht.<ref name="ts">{{Webarchiv |url=http://www.tagesschau.de/inland/meldung95684.html |text=Meldung auf www.tagesschau.de vom 25. September 2006 |wayback=20090222224228}}</ref> |
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* In einer österreichischen Studie (2006) über ''Essstörungen'' bei [[Fotomodell|Models]] fand sich eine [[Prävalenz]] essgestörten Verhaltens von 11,4 % der befragten Personen, über 40 % machten zum Untersuchungszeitpunkt eine Diät.<ref name="KS">aus: Diplomarbeit von Katharina Stempfl, Institut für medizinische Psychologie und Psychotherapie der [[Universität Innsbruck]]</ref> |
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* Die ''Adipositas'' ist in einem Teil der Fälle Folge einer Essstörung und stellt in ihrer Gesamtzahl ein weltweit zunehmendes Problem dar. So sprechen die [[Weltgesundheitsorganisation]] und die [[Centers for Disease Control and Prevention|CDC]] inzwischen von einer globalen [[Epidemie]] bzw. [[Pandemie]], die ebenso ernst genommen werden sollte wie jede zum Tode führende Infektionskrankheit. Weltweit leben rund eine Milliarde Menschen mit starkem Übergewicht (WHO). Sollte sich dieser Trend fortsetzen, wird die Zahl der übergewichtigen Menschen innerhalb der nächsten 10 Jahre auf 1,5 Milliarden ansteigen. Die gesundheitlichen, finanziellen und volkswirtschaftlichen Folgen von Übergewicht sind enorm.<ref>{{Webarchiv |url=http://www.eufic.org/article/de/page/BARCHIVE/expid/basics-fettleibigkeit-ubergewicht/ |text=''Fettleibigkeit und Übergewicht'' (2006) |wayback=20101124132538}}</ref><ref>{{Webarchiv |url=http://www.google.com/hostednews/afp/article/ALeqM5j3a_vKAmz2hcQMYM_y-0jf3YxLnw |text=''US-Forscher berechnen Milliardenschaden durch Übergewicht'', 2010 |archive-is=20120903183513}}</ref> |
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== Geschichte == |
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[[Hilde Bruch]], Autorin von ''Eating disorders: obesity, anorexia nervosa, and the person within'' (1973), war Wegbereiterin psychotherapeutischer Forschung zu Essstörungen. |
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Seit 1980 gibt es in Deutschland spezifische Sucht-Kliniken und Selbsthilfegruppen. |
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1999 wurde in Deutschland die [[Gesellschaft für Ernährungsmedizin und Diätetik]] gegründet. |
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== Kulturgeschichte, Literatur und moderne Medien == |
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Essstörungen spielen in der Erzählkultur eine Rolle, beispielsweise im Märchen „[[Der süße Brei]]“ oder vom [[Schlaraffenland]]. |
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In der Literatur werden sie in [[Franz Kafka]]s „[[Ein Hungerkünstler]]“ (Anf. 20. Jh.) oder in [[François Villon]]s Ballade (Nachdichtung von [[Paul Zech]]) mit der bekannten Zeile: „Vor vollen Tischen muss ich Hungers sterben...“ behandelt. Eine genaue Schilderung familiärer Bulimie-Wahrnehmungen enthält „Lange Tage“ von [[Maike Wetzel]]. [[Ulrike Draesner]] hat 2002 den Roman „Mitgift“ zum gleichen Thema vorgelegt. Die bekannte klassische Violinistin [[Midori Gotō]] beschreibt in ihrer Biografie, wie sie Bulimie überwindet (dt. 2004). |
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Eine filmische Bearbeitung ist „[[Das große Fressen]]“. |
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''Siehe auch:'' [[Anorexia nervosa#In Kunst, Musik und Literatur|Die Magersucht in Kunst, Musik und Literatur]] |
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Internetforen und spezielle Webseiten sind heute eine leicht zugängliche Quelle für Information, Rat und Hilfe für Betroffene, Angehörige und Behandler. |
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== Ursachen und Vorbeugung == |
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=== Wirkmechanismen === |
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Die neurophysiologische Regulation des Essverhaltens erfolgt beim gesunden Menschen durch ein intaktes Wechselspiel von [[Hunger]] bzw. [[Appetit]] und [[Sättigung (Physiologie)|Sättigung]]. Essstörungen führen medizinisch meist zu einer Störung der [[Energiebilanz (Ernährung)|Energiebilanz]]: |
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* [[Überernährung|zu hohe Energiezufuhr]] bei zu geringem Energieverbrauch, z. B. durch mangelnde Bewegung, führt zu [[Übergewicht]] durch dauerhafte Plusbilanz |
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* [[Unterernährung|zu geringe Energiezufuhr]] bei relativ zu hohem Energieverbrauch führt zu [[Mangelernährung]] durch dauerhafte Minusbilanz |
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* [[Fehlernährung|falsche Ernährung]] führt zu Vitaminmangel, Mineralmangel und zu einer Störung des Elektrolythaushalts im Körper |
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Physiologische Regelmechanismen können den Energieumsatz des Körpers über einen gewissen Zeitraum und in begrenzten Ausmaßen an das Energieangebot anpassen. Im Falle des Energiemangels werden Stoffwechselregulationen eingesetzt, um z. B. vorhandene Energievorräte [[Effektivität|effizienter]] auszunutzen und Energie einzusparen. |
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=== Essstörungen im Lichte des Konzepts der emotionalen Intelligenz === |
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Als Apologet des Konzepts der [[Emotionale Intelligenz|emotionalen Intelligenz]] deutet der Psychologe [[Daniel Goleman]] Essstörungen als Ausdruck mangelhafter [[Emotionale Bildung|emotionaler Bildung]]. Er verweist dabei u. a. auf eine Langzeitstudie, die Gloria Leon ([[University of Minnesota]]) in den 1990er Jahren mit 900 Highschool-Schülerinnen durchgeführt hat. Besonders zwei Auffälligkeiten erwiesen sich in dieser Studie als starke Prädiktoren für eine künftige Anorexie oder Bulimie: erstens mangelnde [[Resilienz (Psychologie)|Resilienz]] und zweitens eine gestörte emotionale [[Selbstwahrnehmung]]. Mädchen, die später an einer Essstörung erkrankten, neigten erstens bereits Jahre zuvor dazu, auf Bagatellprobleme und -ärgernisse mit unangemessen negativen Gefühlen zu reagieren, über die sie sich nicht selbst beruhigen konnten; zweitens verstanden sie ihre Gefühle nicht, sondern wurden davon überwältigt und konnten sie nicht effizient managen. Wenn diese zwei emotionalen Tendenzen mit Unzufriedenheit über den eigenen Körper zusammenfielen, entwickelte sich entweder eine Anorexie oder eine Bulimie. Dass ‒ wie oft angenommen ‒ stark kontrollierende Eltern, Sexualangst oder ein vermindertes Selbstwertgefühl die Störungen mitverursachen, hat Leons Studie nicht bestätigt.<ref>Gloria R. Leon u. a.: ''Personality and Behavioral Vulnerabilities Associated with Risk Status for Eating Disorders in Adolescent Girls'', Journal of Abnormal Psychology, Band 102, 1993; {{Literatur |Autor=Daniel Goleman |Titel=Emotional Intelligence |TitelErg=Why It Can Matter More Than IQ |Auflage=1 |Verlag=Bantam |Ort=New York |Datum=1995 |ISBN=0-553-09503-X |Seiten=246‒249}}</ref> |
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Goleman vermutet, dass auch bei [[Überernährung]] eine gestörte emotionale Selbstwahrnehmung eine entscheidende Rolle spielt: Einige Übergewichtige essen deshalb so viel, weil sie zwischen Angst, Wut und Hunger nicht ausreichend unterscheiden können.<ref>{{Literatur |Autor=Daniel Goleman |Titel=Emotional Intelligence |TitelErg=Why It Can Matter More Than IQ |Auflage=1 |Verlag=Bantam |Ort=New York |Datum=1995 |ISBN=0-553-09503-X |Seiten=248}}; P. E. Sifneos: ''Affect, Emotional Conflict, and Deficit: An Overview'', Psychotherapy and Psychosomatics, Band 56, Heft 3, 1991, S. 116‒122</ref> |
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=== Wendy Mogel === |
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[[Datei:Breakfast under the Big Birch. From A Home (26 watercolours) (Carl Larsson) - Nationalmuseum - 24220.tif|mini|Als Prävention gegen Essstörungen empfiehlt Wendy Mogel Eltern, ein profundes [[Umdeutung (Psychologie)|Reframing]] ihrer Wahrnehmung vorzunehmen: weg von der zwanghaften Überwachung der kindlichen Nahrungsaufnahme hin zum Genuss und zum Feiern der gemeinsamen Mahlzeit.]] |
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Die amerikanische Familientherapeutin [[Wendy Mogel]] hat der [[Krankheitsprävention|Prävention]] von Essstörungen ein Kapitel in ihrem 2001 erschienenen Buch ''[[The Blessings of a Skinned Knee]]'' gewidmet. Die Ursache vieler Essprobleme sieht sie in der zwanghaften Gewohnheit gutmeinender, überbehütender Eltern, die Essenseinnahme ihres Kindes zu beobachten und zu regulieren; gleichzeitig versäumen diese Eltern es, die Kapazität des Kindes für Freude an Nahrungsmitteln und am Gemeinschaftserlebnis bei Tisch zu entwickeln. Die Eltern, die in Mogels Praxis kommen, haben regelmäßig eine hohe Sensibilität dafür, dass Kindern Essen und insbesondere bestimmte Lebensmittel nicht aufgezwungen werden dürfen; gleichzeitig aber sind sie äußerst gesundheitsbewusst, haben starke Meinungen über gute und schlechte Nahrungsmittel und sind infolgedessen ständig besorgt um eine mögliche Über-, Unter- oder Fehlernährung ihres Kindes.<ref>Wendy Mogel: ''The Blessings of a Skinned Knee: Using Jewish Teachings to Raise Self-Reliant Children'', New York, London, Toronto, Sydney, Singapore: Scribner, 2001, ISBN 0-684-86297-2, S. 161‒163 (gebundene Ausgabe; {{Google Buch |BuchID=Ux9jnsddvtEC |Seite= |Linktext=eingeschränkte Online-Version |Land=US}})</ref> Dabei stehen sie vor dem Dilemma, dass Kinder eine Vorliebe für gesunde Kost weder von Natur aus haben noch aus eigenem Antrieb entwickeln, sie auf ihr Kind, damit es gesund isst, aber auch keinen Zwang ausüben wollen.<ref>The Blessings of a Skinned Knee, S. 161</ref> Da Kinder derartige Ambivalenzen und Verunsicherungen genau spüren und stets nach Gelegenheit Ausschau halten, ihrem Willen Gewicht zu verschaffen, wird der Esstisch in vielen Familien zu einem Schlachtfeld, an dem emotional stark aufgeladene Auseinandersetzungen geführt werden; vor allem mäkelige und wählerische Esser haben große Macht über ihre Eltern.<ref>The Blessings of a Skinned Knee, S. 162f, 175</ref> |
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Die Suche nach einem Korrektiv für derartige Erziehungsszenarien führt Mogel zur [[Judentum|jüdischen Tradition]], die dem Essen und der gemeinsamen Mahlzeit eine ganz zentrale Bedeutung beimisst; seit der Zerstörung des [[Jerusalemer Tempel]]s ist der eigene Esstisch der heiligste Ort jüdischer Familien.<ref>The Blessings of a Skinned Knee, S. 159f; {{Webarchiv |url=http://www.jewish-holiday.com/blessingfood.html |wayback=20120219234814 |text=The Blessing of Food }}</ref> Zum Umfang des kulturellen Wissens, mit dem das Judentum bei der Ernährungserziehung helfen kann, zählt erstens das Konzept der [[Mäßigung]]; dieses besagt, dass der Mensch sich am Essen einerseits erfreuen soll (weil Gott es gegeben hat), anderseits (weil Gott ihm einen [[Freier Wille|freien Willen]] gegeben hat) aber auch [[Selbstdisziplin|Selbstbeherrschung]] walten lassen soll.<ref>The Blessings of a Skinned Knee, S. 165f</ref> Den Schlüssel für die Vereinbarung dieser beiden scheinbar disparaten Strebungen bieten die jüdischen Konzepte des Feierns (''celebration'') und der Weihe (''sanctification''): wer die Mahlzeit feiert und heiligt, kann sowohl maximales Vergnügen daran haben als auch Mäßigung üben. Für Familien bedeutet das u. a., Mahlzeiten gemeinsam vorzubereiten, in einem nicht ablenkenden Rahmen gemeinsam bei Tisch zu essen, dabei Tischkonversation und gute [[Tischsitten]] zu pflegen, [[Tischgebet]]e zu sprechen und Feiertage mit einer besonderen Mahlzeit zu begehen.<ref>The Blessings of a Skinned Knee, S. 165, 169‒173, 180f</ref> |
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== Siehe auch == |
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* [[Hyperphagie]] |
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== Literatur == |
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'''Essstörungen im medizinischen Sinne''' |
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* Iris Absenger: ''Die verkörperte Essstörung. Anorexie – Bulimie – Adipositas; Erleben erleiden. Umfassender Therapieüberblick und ein Körperausdrucksmodell'', Centaurus, Herbolzheim 2005, ISBN 3-8255-0520-0. |
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* Anja Hilbert: [https://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2000/0089/pdf/dah.pdf Körperbild bei Frauen mit 'Binge-Eating'-Störung]. [[Universität Marburg]] 2000. ([[Dissertation]]) |
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* Lyn Patrick: ''[https://web.archive.org/web/20131214235016/http://www.thorne.com/altmedrev/.fulltext/7/3/184.pdf Eating disorders: a review of the literature with emphasis on medical complications and clinical nutrition] (PDF; 108 kB).'' [[Altern Med Rev]]. 3/2002, S. 184–202. PMID 12126461 |
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* Stefanie Richter: ''Essstörung. Eine fallrekonstruktive Studie anhand erzählter Lebensgeschichten betroffener Frauen'', Transcript, Bielefeld 2006, ISBN 3-89942-464-6. |
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* {{Literatur |
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|Autor=Herpertz, Stephan; Hagenah, Ulrich; Vocks, Silja; Wietersheim, Jörn von; Cuntz, Ulrich; Zeeck, Almut |
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|Titel=Diagnostik und Therapie der Essstörungen |
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|Sammelwerk=Dtsch Arztebl Int |
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|Nummer=108(40) |
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|Datum=2011 |
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|Seiten=678–85 |
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|Online=[https://www.aerzteblatt.de/archiv/diagnostik-und-therapie-der-essstoerungen-254c5c7f-a6e8-42fa-81fd-ee8e6b8bd167 Klinische Leitlinie]}} |
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* [https://idw-online.de/de/news806474 Stephan Herpertz, Martina de Zwaan, Stephan Zipfel (Hg.): Handbuch Essstörungen und Adipositas.] Springer Verlag 2022, 3. Auflage, ISBN 978-3-662-63543-8 |
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'''Mäkelige Esser''' |
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* [[Annette Kast-Zahn]], Hartmut Morgenroth: ''Jedes Kind kann richtig essen'', Oberstebrink, 1999, ISBN 978-3-9804493-9-7. |
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'''Kulturgeschichte''' |
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* Walter Vandereycken, Ron van Deth: ''Hungerkünstler, Fastenwunder, Magersucht. Eine Kulturgeschichte der Eßstörungen.'' Bearbeitet und übersetzt von Rolf Meermann, Zülpich 1990 und München 1992. |
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== Weblinks == |
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* [https://www.bzga-essstoerungen.de/ bzga-essstoerungen.de] unabhängiges Informationsangebot der [[Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung]] (BZgA) |
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== Einzelnachweise == |
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<references /> |
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{{Normdaten|TYP=s|GND=4113475-8}} |
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{{Gesundheitshinweis}} |
{{Gesundheitshinweis}} |
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{{SORTIERUNG:Essstorung}} |
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[[Kategorie:Essstörung| ]] |
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[[Kategorie:Psychische Störung]] |
[[Kategorie:Psychische Störung]] |
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[[Kategorie: |
[[Kategorie:Wikipedia:Qualitätssicherung Medizin]] |
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[[Kategorie:Gesundheit]] |
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[[Kategorie:Essstörung|!]] |
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[[en:Binge eating disorder]] |
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[[fi:BED]] |
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[[fr:Hyperphagie]] |
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[[nl:Eetbuienstoornis]] |
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[[en:Eating disorder]] |
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[[he:?????? ?????]] |
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[[nl:Eetstoornis]] |
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[[ja:????]] |
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[[no:Spiseforstyrrelse]] |
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[[fi:Syömishäiriö]] |
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[[sv:Ätstörningar]] |
Aktuelle Version vom 12. April 2025, 18:13 Uhr
Klassifikation nach ICD-10 | |
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F50.0 | Anorexia nervosa |
F50.1 | Atypische Anorexia nervosa |
F50.2 | Bulimia nervosa |
F50.3 | Atypische Bulimia nervosa |
F50.4 | Essattacken bei anderen psychischen Störungen |
F50.8 | Sonstige Essstörungen |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Eine Essstörung ist eine Verhaltensstörung, bei der die ständige gedankliche und emotionale Beschäftigung mit dem Thema „Essen“ eine zentrale Rolle spielt. Essstörungen betreffen die Nahrungsaufnahme oder deren Verweigerung. Sie hängen meist mit psychosozialen Problemen sowie mit der Einstellung zum eigenen Körper zusammen (Psychosomatik) und können zu ernsthaften und langfristigen Gesundheitsschäden führen.
Von manchen werden Essstörungen zu den Zivilisationskrankheiten gezählt.
Hauptformen
Die bekanntesten, häufigsten und anerkannten Essstörungen sind die unspezifische Ess-Sucht, die Magersucht (Anorexia nervosa), die Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa) und die Fressattacken (englisch „Binge Eating“). Die einzelnen Störungen sind nicht klar voneinander abgrenzbar. Oft wechseln die Betroffenen von einer Form zur anderen und die Merkmale gehen ineinander über und vermischen sich. Zentral ist immer, dass die Betroffenen sich zwanghaft mit dem Thema Essen beschäftigen. Bei allen chronisch gewordenen Essstörungen sind lebensgefährliche körperliche Schäden möglich (Unterernährung, Mangelernährung, Adipositas). Frauen sind verstärkt betroffen. Bei manchen Frauen treten auch Störungen im Menstruationszyklus auf, bis hin zum dauerhaften Aussetzen der Menstruation (Amenorrhoe).
Die Übergänge zwischen „normal“ und „krankhaft“ sind von vielen Faktoren abhängig. Ein Mensch, der aus religiösen oder ideologischen Gründen besondere Ernährungsformen pflegt, ist nicht unbedingt essgestört. Manche Ess-Süchtige sind körperlich und in ihrem Verhalten völlig unauffällig – meist tritt bei ihnen das subjektive Gefühl der Sättigung nicht zu einem physiologisch sinnvollen Zeitpunkt ein; bei ihnen spielt sich die Sucht ausschließlich im Kopf ab, und zwar im Gehirn (Suchtverhalten).
Esssucht
Esssüchtige essen zwanghaft und denken dauernd an „Essen“ und an die Folgen für ihren Körper. Sie essen entweder zu viel oder sie versuchen, ihr Gewicht mit ungeeigneten Systemen von Essen, Diäten, Fasten und Bewegung zu kontrollieren.
Esssucht führt häufig zu Übergewicht oder Adipositas (Fettleibigkeit), mit den zugehörigen gesundheitlichen und sozialen Problemen. Übergewichtige fühlen sich oft als Versager und Außenseiter. Fehlernährung kann zu zusätzlichen Problemen führen.
Magersucht (Anorexia nervosa)
Magersucht (Anorexia nervosa) ist durch einen absichtlich und selbst herbeigeführten Gewichtsverlust gekennzeichnet. Durch Hungern und Kalorienzählen wird versucht, dem Körper möglichst wenig Nahrung zuzuführen, durch körperliche Aktivitäten soll der Energieverbrauch gesteigert werden. Die betroffene Person sieht dabei den eigenen körperlichen Zustand häufig nicht, sie empfindet sich als zu dick, auch noch mit extremem Untergewicht (Körperschemastörung).
Eine spezielle Form der Anorexie ist die Magersucht während der Schwangerschaft, auch Pregorexie genannt.
Folgen der Magersucht sind Unterernährung, Muskelschwund und Mangelernährung. Langzeitfolgen sind beispielsweise Osteoporose und Unfruchtbarkeit. 5 bis 15 % der Betroffenen sterben meist nicht durch Verhungern, sondern durch Infektionen des geschwächten Körpers oder durch Suizid.
Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa)
Bei der Ess-Brech-Sucht (Bulimie, Bulimia nervosa) sind die Betroffenen meist normalgewichtig, haben aber große Angst vor der Gewichtszunahme, dem „Dickwerden“; man kann das als „Gewichtsphobie“ umschreiben. Sie ergreifen deshalb ungesunde Gegenmaßnahmen wie Erbrechen, exzessiven Sport, Abführmittelgebrauch, Fasten oder Einläufe. Dadurch kommt der Körper in einen Mangelzustand und es kommt zu so genannten Ess-Attacken, wobei große Mengen Nahrung auf einmal verzehrt werden. Neben diesen Heißhunger-bedingten Fressattacken kommt es noch zu stressbedingten. Das Überessen und Erbrechen wird häufig als „entspannend“ erlebt.
Die Ess-Brech-Sucht kann zu Störungen des Elektrolyt-Stoffwechsels, zu Entzündungen der Speiseröhre, zu Zahnschäden sowie zu Mangelerscheinungen führen. Da durch einen gestörten Elektrolythaushalt das Herz angegriffen werden kann, kann es zu Herzversagen und somit zum Tod kommen, insbesondere wenn die Ess-Brech-Sucht noch mit Untergewicht einhergeht.
Binge-Eating-Störung (BES)
Essattacken treten zum Teil im Zusammenhang mit suchtartigen Heißhungergefühlen auf, wobei der Suchtcharakter der Essstörung umstritten ist. Von einer Binge-Eating-Störung wird gesprochen, wenn während mindestens drei Monaten an mindestens einem Tag pro Woche eine Essattacke auftritt, bei der in kurzer Zeit ungewöhnlich große Mengen an Nahrungsmitteln aufgenommen werden. Der Betroffene verliert die Kontrolle über die Nahrungsaufnahme.
Außerdem müssen mindestens drei der folgenden fünf Bedingungen zutreffen:
- essen, ohne hungrig zu sein
- besonders schnelles Essen
- essen, bis ein unangenehmes Völlegefühl einsetzt
- allein essen, aus empfundener Schuld und Scham
- nach dem Ess-Anfall treten Gefühle von Ekel, Scham oder Depressionen auf
Die Ess-Anfälle werden als belastend empfunden. Obwohl die Essattacken jeweils nur kurz dauern, kann die Binge-Eating-Störung zu Adipositas führen. Von der Bulimie unterscheidet sich die BES durch die ausbleibenden Maßnahmen, eine Gewichtszunahme durch Erbrechen, Sport oder Fasten zu verhindern.
Pica-Syndrom
Das Pica-Syndrom (auch: Picazismus) ist ein psychiatrisches Symptom und kommt gehäuft bei Menschen mit geistiger Behinderung, Entwicklungsstörungen oder Demenz vor. Auch Schwangere können betroffen sein. Wie häufig die Störung ist, ist nicht bekannt.[1] Menschen essen dabei ungewöhnliche Dinge, zum Beispiel Erde, Stärke, Eis (in großen Mengen), Papierschnipsel, Ton, Tafelkreide oder Kot (Koprophagie). Der Verzehr kann unter anderem zu Vergiftungen, Unterernährung oder Verstopfung führen. Auch bei sonst harmlosen Materialien sind Infektionen möglich.
Babys und Kleinkinder explorieren mit dem Mund. Die Diagnose Pica sollte deshalb erst ab einem Alter von zwei Jahren gestellt werden.[2] Das Kind muss dazu gezielt Substanzen essen, die nicht für den Verzehr geeignet sind. Grundsätzlich ist bei der Diagnosestellung der geistige Entwicklungsstand zu berücksichtigen.[1]
Orthorexia nervosa
Orthorexia nervosa bedeutet krankhaftes Gesund-Essen. Betroffene verbringen mehrere Stunden täglich damit, zwanghaft Vitamingehalt und Nährwerte zu berechnen und Lebensmittel auszuwählen, wobei sich die Auswahl der „erlaubten“ Lebensmittel immer mehr verringert. Folgen sind Unterernährung, Mangelernährung und soziale Isolation. Die Betroffenen zeigen teilweise Angst vor Lebensmitteln, die sie für ungesund halten. Die Orthorexie zeigt durch den Missionierungsdrang und die kognitiv nicht zugängliche Symptomatik auch Merkmale einer Wahn- oder Zwangsstörung.
In der klinischen Psychologie und in der Psychiatrie ist strittig, ob ein solches selbstständiges Krankheitsbild überhaupt existiert. Es wurde weder in das internationale Klassifikationssystem ICD noch in das Klassifikationssystem der Vereinigten Staaten (DSM-5) aufgenommen.
Anorexia athletica
Durch übermäßigen Sport und den damit verbundenen höheren Energieumsatz versuchen die Erkrankten Gewicht zu verlieren. Als eigenständiges Krankheitsbild ist sie nicht anerkannt.
Seit den 1980er und 1990er Jahren wurde von einem gehäuften Auftreten von Essstörungen bei Leistungssportlern berichtet. Der Begriff Anorexia athletica wird 2004 in einer Arbeit des Grazers Sudi als solcher genannt. Gemeint ist eine Form von Essstörungen, die nicht alle Merkmale einer echten Anorexia nervosa erfüllt und diagnostisch deshalb als atypische Anorexia nervosa (ICD-10) oder als EDNOSs (DSM-IV) eingeordnet wird. Charakteristisch ist eine zu geringe Zufuhr an Energie (siehe: physiologischer Brennwert), die zu schweren Gesundheitsproblemen führt (unter anderem Abnahme der Knochendichte (Osteoporose), Knochenbrüche und Amenorrhoe).
Fütterstörungen im frühen Kindesalter, Rumination und Erbrechen
Schon Babys und kleine Kinder können Essstörungen entwickeln, allerdings in anderer Ausprägung als beim Erwachsenen.
In der ICD-10-Klassifikation werden unter der Chiffre ICD-10 P92 die Ernährungsprobleme beim Neugeborenen aufgelistet, wie etwa Erbrechen beim Neugeborenen (ICD-10 P92.0), Regurgitation und Rumination (wiederholtes Hinaufwürgen von Flüssigkeit oder Nahrung) (P92.1), Trinkunlust beim Neugeborenen (P92.2), Unterernährung beim Neugeborenen (P92.3), Überernährung beim Neugeborenen (P92.4), Schwierigkeiten beim Neugeborenen bei Brusternährung (P92.5) und weitere.
Die ICD-10-Chiffre ICD-10 F98.2 bezeichnet eine Fütterstörung im frühen Kindesalter mit unterschiedlicher Symptomatik. Es kommt beispielsweise zu Nahrungsverweigerung bzw. zu extrem wählerischem Essverhalten bei ausreichendem Angebot an Nahrung, ohne dass eine organische Krankheit vorliegt. Begleitend kann Rumination (wiederholtes Hinaufwürgen von Essen ohne Übelkeit oder eine Krankheit des Verdauungstraktes) vorhanden sein. Auch im frühen Kindesalter kann es zu einer Essstörung kommen. Nach der Definition nach ICD-10 (F98.2) spricht der Mediziner von einer Fütterstörung mit unterschiedlicher Symptomatik. Das Kind verweigert die Nahrung und zeigt wählerisches Essverhalten. Dieses Krankheitsbild kann von eventueller Rumination oder einer Erkrankung des Magen-Darm-Traktes begleitet werden. Die Essstörung beginnt vor dem 6. Lebensjahr und ist nicht durch andere psychische Ursachen oder Nahrungsmangel erklärbar. Diese Störung kann genetische, psychische, motorische, mentale Störungen zur Ursache haben. Im Mittelpunkt steht die Unlust, Weigerung, oder Unfähigkeit des Kindes, die angebotene Nahrung aufzunehmen. Somit kann die Fütterinteraktion zwischen Mutter und Kind gestört werden. Daraus resultiert ein Überlastungssyndrom der fütternden Person mit fehlender Wahrnehmung der kindlichen Signale und Verstärkung des Problems. Oft wird eine Sondierung zur Nahrungsaufnahme beim Kind eingesetzt. Diese sollte bis zu zwei Jahren nicht ausschließlich angewandt werden, da es sonst zu erheblichen Beeinträchtigungen kommen kann (z. B. mangelnde mundmotorische Erfahrung, sensorische Störung, erhöhte Reflux-Gefahr nach PEG, erschwerte Ausbildung des Hungergefühls).
Therapie
Essstörung
Erfolgreiche Behandlungen gehen meist von einem multimodalen Ansatz aus. Das bedeutet, dass unterschiedliche Behandlungsstrategien gleichzeitig eingesetzt werden. Im Zentrum steht meist eine Psychotherapie. Hierbei können sowohl kognitive aber auch psychodynamische Therapien eingesetzt werden. Bei manchen Essstörungen haben sich auch familientherapeutische Behandlungsprogramme als sinnvoll erwiesen. Bei Kindern und Jugendlichen ist eine Beratung und Psychoedukation der Eltern immer notwendig. Gleichzeitig kann ein Ernährungsprotokoll geführt werden. Bei bestimmten Essstörungen ist ein regelmäßiges Wiegen notwendig, aber auch Unterstützung bei einer ausgewogenen Ernährung. Auch eine zusätzliche medikamentöse Therapie kann in manchen Fällen hilfreich sein. Bei Anorexie und Bulimie werden Antidepressiva eingesetzt.
In einer Selbsthilfegruppe können Betroffene lernen, aus den Berichten anderer Betroffener die Ursachen und Abläufe zu erkennen. In der Gemeinschaft können neue Einstellungen und Werte und daraus abgeleitete neue Verhaltensweisen gelernt und stabilisiert werden. In Deutschland gibt es mehrere Selbsthilfeorganisationen. Teilnehmen kann jeder, unabhängig von einer Therapie, oder auch vorbereitend, begleitend und nach einer Therapie. Gezielt mit Essstörungen befassen sich unter anderem die an das Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker angelehnten Gruppen Food Addicts In Recovery Anonymous und Overeaters Anonymous.
Wenn die ambulante Behandlung keinen Erfolg bringt, ist zumeist eine stationäre oder teilstationäre Behandlung erforderlich. Insbesondere bei Magersucht ist eine stationäre Behandlung als lebenserhaltende Maßnahme notwendig,
- wenn ein kritisches Untergewicht erreicht ist und/oder
- wenn körperliche Folgeschäden zu erwarten sind, etwa bei zu geringer Flüssigkeitszufuhr oder bei häufigem Erbrechen.
Die von einer Essstörung Betroffenen stehen einer konkreten Behandlung oft ablehnend oder ambivalent gegenüber.[3]
Übergewicht und Untergewicht
Über- oder Untergewicht sind eigenständige Krankheitsbilder und in über 95 % aller Fälle die Folge einer falschen Energiebilanz als Verhältnis von Essen und Bewegung. Zur Therapie siehe: Adipositas, Ernährungsumstellung und Ernährungslehre.
Medizinische Einordnung
Diagnostik
Die Diagnostik erfolgt durch die Befragung des Patienten und über Fragebögen. Unter- und Übergewicht und Adipositas werden mit dem Body-Mass-Index und anderen Kennzahlen gemessen.
Klassifikation
Krankheiten werden weltweit nach den diagnostischen Kriterien der ICD-10 kategorisiert. Die ICD-10 ist eine beschreibende Sammlung von Krankheiten.[4] Essstörungen sind dort unter dem Code F50 und folgenden beschrieben.[5] Im ICD-10-GM gehören Essstörungen zu den Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren.
Umgangssprachliche Bezeichnung | ICD-10-Code | Genaue Diagnose |
---|---|---|
Essstörung | F50 | Essstörung |
Magersucht | F50.0
F50.1 |
Anorexia nervosa
Atypische Anorexia nervosa |
Ess-Brech-Sucht | F50.2
F50.3 |
Bulimia nervosa
Atypische Bulimia nervosa |
Binge Eating | - | (Derzeit keine eigene Diagnose, aber F50.4 oder F50.9 möglich) |
- | F50.4 | Essattacken bei anderen psychischen Störungen |
- | F50.5 | Erbrechen bei anderen psychischen Störungen |
Sonstige Essstörungen | F50.8
F50.9 |
Sonstige Essstörungen Essstörungen, nicht näher bezeichnet |
Häufigkeit und Folgen
- Eine 2003 bis 2006 durchgeführte Studie des Robert Koch-Instituts mit über 17.000 Teilnehmern zwischen 11 und 17 Jahren zeigte bei fast 30 % der Mädchen Essstörungen wie Magersucht, Ess-Brech-Sucht oder Fettsucht. Bei Jungen waren noch 15 % betroffen. Außerdem waren der Studie zufolge Kinder aus sozial benachteiligten Familien fast doppelt so häufig betroffen wie Kinder aus der oberen sozialen Schicht.[6]
- In einer österreichischen Studie (2006) über Essstörungen bei Models fand sich eine Prävalenz essgestörten Verhaltens von 11,4 % der befragten Personen, über 40 % machten zum Untersuchungszeitpunkt eine Diät.[7]
- Die Adipositas ist in einem Teil der Fälle Folge einer Essstörung und stellt in ihrer Gesamtzahl ein weltweit zunehmendes Problem dar. So sprechen die Weltgesundheitsorganisation und die CDC inzwischen von einer globalen Epidemie bzw. Pandemie, die ebenso ernst genommen werden sollte wie jede zum Tode führende Infektionskrankheit. Weltweit leben rund eine Milliarde Menschen mit starkem Übergewicht (WHO). Sollte sich dieser Trend fortsetzen, wird die Zahl der übergewichtigen Menschen innerhalb der nächsten 10 Jahre auf 1,5 Milliarden ansteigen. Die gesundheitlichen, finanziellen und volkswirtschaftlichen Folgen von Übergewicht sind enorm.[8][9]
Geschichte
Hilde Bruch, Autorin von Eating disorders: obesity, anorexia nervosa, and the person within (1973), war Wegbereiterin psychotherapeutischer Forschung zu Essstörungen.
Seit 1980 gibt es in Deutschland spezifische Sucht-Kliniken und Selbsthilfegruppen.
1999 wurde in Deutschland die Gesellschaft für Ernährungsmedizin und Diätetik gegründet.
Kulturgeschichte, Literatur und moderne Medien
Essstörungen spielen in der Erzählkultur eine Rolle, beispielsweise im Märchen „Der süße Brei“ oder vom Schlaraffenland.
In der Literatur werden sie in Franz Kafkas „Ein Hungerkünstler“ (Anf. 20. Jh.) oder in François Villons Ballade (Nachdichtung von Paul Zech) mit der bekannten Zeile: „Vor vollen Tischen muss ich Hungers sterben...“ behandelt. Eine genaue Schilderung familiärer Bulimie-Wahrnehmungen enthält „Lange Tage“ von Maike Wetzel. Ulrike Draesner hat 2002 den Roman „Mitgift“ zum gleichen Thema vorgelegt. Die bekannte klassische Violinistin Midori Gotō beschreibt in ihrer Biografie, wie sie Bulimie überwindet (dt. 2004).
Eine filmische Bearbeitung ist „Das große Fressen“.
Siehe auch: Die Magersucht in Kunst, Musik und Literatur
Internetforen und spezielle Webseiten sind heute eine leicht zugängliche Quelle für Information, Rat und Hilfe für Betroffene, Angehörige und Behandler.
Ursachen und Vorbeugung
Wirkmechanismen
Die neurophysiologische Regulation des Essverhaltens erfolgt beim gesunden Menschen durch ein intaktes Wechselspiel von Hunger bzw. Appetit und Sättigung. Essstörungen führen medizinisch meist zu einer Störung der Energiebilanz:
- zu hohe Energiezufuhr bei zu geringem Energieverbrauch, z. B. durch mangelnde Bewegung, führt zu Übergewicht durch dauerhafte Plusbilanz
- zu geringe Energiezufuhr bei relativ zu hohem Energieverbrauch führt zu Mangelernährung durch dauerhafte Minusbilanz
- falsche Ernährung führt zu Vitaminmangel, Mineralmangel und zu einer Störung des Elektrolythaushalts im Körper
Physiologische Regelmechanismen können den Energieumsatz des Körpers über einen gewissen Zeitraum und in begrenzten Ausmaßen an das Energieangebot anpassen. Im Falle des Energiemangels werden Stoffwechselregulationen eingesetzt, um z. B. vorhandene Energievorräte effizienter auszunutzen und Energie einzusparen.
Essstörungen im Lichte des Konzepts der emotionalen Intelligenz
Als Apologet des Konzepts der emotionalen Intelligenz deutet der Psychologe Daniel Goleman Essstörungen als Ausdruck mangelhafter emotionaler Bildung. Er verweist dabei u. a. auf eine Langzeitstudie, die Gloria Leon (University of Minnesota) in den 1990er Jahren mit 900 Highschool-Schülerinnen durchgeführt hat. Besonders zwei Auffälligkeiten erwiesen sich in dieser Studie als starke Prädiktoren für eine künftige Anorexie oder Bulimie: erstens mangelnde Resilienz und zweitens eine gestörte emotionale Selbstwahrnehmung. Mädchen, die später an einer Essstörung erkrankten, neigten erstens bereits Jahre zuvor dazu, auf Bagatellprobleme und -ärgernisse mit unangemessen negativen Gefühlen zu reagieren, über die sie sich nicht selbst beruhigen konnten; zweitens verstanden sie ihre Gefühle nicht, sondern wurden davon überwältigt und konnten sie nicht effizient managen. Wenn diese zwei emotionalen Tendenzen mit Unzufriedenheit über den eigenen Körper zusammenfielen, entwickelte sich entweder eine Anorexie oder eine Bulimie. Dass ‒ wie oft angenommen ‒ stark kontrollierende Eltern, Sexualangst oder ein vermindertes Selbstwertgefühl die Störungen mitverursachen, hat Leons Studie nicht bestätigt.[10]
Goleman vermutet, dass auch bei Überernährung eine gestörte emotionale Selbstwahrnehmung eine entscheidende Rolle spielt: Einige Übergewichtige essen deshalb so viel, weil sie zwischen Angst, Wut und Hunger nicht ausreichend unterscheiden können.[11]
Wendy Mogel

Die amerikanische Familientherapeutin Wendy Mogel hat der Prävention von Essstörungen ein Kapitel in ihrem 2001 erschienenen Buch The Blessings of a Skinned Knee gewidmet. Die Ursache vieler Essprobleme sieht sie in der zwanghaften Gewohnheit gutmeinender, überbehütender Eltern, die Essenseinnahme ihres Kindes zu beobachten und zu regulieren; gleichzeitig versäumen diese Eltern es, die Kapazität des Kindes für Freude an Nahrungsmitteln und am Gemeinschaftserlebnis bei Tisch zu entwickeln. Die Eltern, die in Mogels Praxis kommen, haben regelmäßig eine hohe Sensibilität dafür, dass Kindern Essen und insbesondere bestimmte Lebensmittel nicht aufgezwungen werden dürfen; gleichzeitig aber sind sie äußerst gesundheitsbewusst, haben starke Meinungen über gute und schlechte Nahrungsmittel und sind infolgedessen ständig besorgt um eine mögliche Über-, Unter- oder Fehlernährung ihres Kindes.[12] Dabei stehen sie vor dem Dilemma, dass Kinder eine Vorliebe für gesunde Kost weder von Natur aus haben noch aus eigenem Antrieb entwickeln, sie auf ihr Kind, damit es gesund isst, aber auch keinen Zwang ausüben wollen.[13] Da Kinder derartige Ambivalenzen und Verunsicherungen genau spüren und stets nach Gelegenheit Ausschau halten, ihrem Willen Gewicht zu verschaffen, wird der Esstisch in vielen Familien zu einem Schlachtfeld, an dem emotional stark aufgeladene Auseinandersetzungen geführt werden; vor allem mäkelige und wählerische Esser haben große Macht über ihre Eltern.[14]
Die Suche nach einem Korrektiv für derartige Erziehungsszenarien führt Mogel zur jüdischen Tradition, die dem Essen und der gemeinsamen Mahlzeit eine ganz zentrale Bedeutung beimisst; seit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels ist der eigene Esstisch der heiligste Ort jüdischer Familien.[15] Zum Umfang des kulturellen Wissens, mit dem das Judentum bei der Ernährungserziehung helfen kann, zählt erstens das Konzept der Mäßigung; dieses besagt, dass der Mensch sich am Essen einerseits erfreuen soll (weil Gott es gegeben hat), anderseits (weil Gott ihm einen freien Willen gegeben hat) aber auch Selbstbeherrschung walten lassen soll.[16] Den Schlüssel für die Vereinbarung dieser beiden scheinbar disparaten Strebungen bieten die jüdischen Konzepte des Feierns (celebration) und der Weihe (sanctification): wer die Mahlzeit feiert und heiligt, kann sowohl maximales Vergnügen daran haben als auch Mäßigung üben. Für Familien bedeutet das u. a., Mahlzeiten gemeinsam vorzubereiten, in einem nicht ablenkenden Rahmen gemeinsam bei Tisch zu essen, dabei Tischkonversation und gute Tischsitten zu pflegen, Tischgebete zu sprechen und Feiertage mit einer besonderen Mahlzeit zu begehen.[17]
Siehe auch
Literatur
Essstörungen im medizinischen Sinne
- Iris Absenger: Die verkörperte Essstörung. Anorexie – Bulimie – Adipositas; Erleben erleiden. Umfassender Therapieüberblick und ein Körperausdrucksmodell, Centaurus, Herbolzheim 2005, ISBN 3-8255-0520-0.
- Anja Hilbert: Körperbild bei Frauen mit 'Binge-Eating'-Störung. Universität Marburg 2000. (Dissertation)
- Lyn Patrick: Eating disorders: a review of the literature with emphasis on medical complications and clinical nutrition (PDF; 108 kB). Altern Med Rev. 3/2002, S. 184–202. PMID 12126461
- Stefanie Richter: Essstörung. Eine fallrekonstruktive Studie anhand erzählter Lebensgeschichten betroffener Frauen, Transcript, Bielefeld 2006, ISBN 3-89942-464-6.
- Herpertz, Stephan; Hagenah, Ulrich; Vocks, Silja; Wietersheim, Jörn von; Cuntz, Ulrich; Zeeck, Almut: Diagnostik und Therapie der Essstörungen. In: Dtsch Arztebl Int. Nr. 108(40), 2011, S. 678–85 (Klinische Leitlinie).
- Stephan Herpertz, Martina de Zwaan, Stephan Zipfel (Hg.): Handbuch Essstörungen und Adipositas. Springer Verlag 2022, 3. Auflage, ISBN 978-3-662-63543-8
Mäkelige Esser
- Annette Kast-Zahn, Hartmut Morgenroth: Jedes Kind kann richtig essen, Oberstebrink, 1999, ISBN 978-3-9804493-9-7.
Kulturgeschichte
- Walter Vandereycken, Ron van Deth: Hungerkünstler, Fastenwunder, Magersucht. Eine Kulturgeschichte der Eßstörungen. Bearbeitet und übersetzt von Rolf Meermann, Zülpich 1990 und München 1992.
Weblinks
- bzga-essstoerungen.de unabhängiges Informationsangebot der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Einzelnachweise
- ↑ a b Nichole R. Kelly, Lisa M. Shank, Jennifer L. Bakalar, Marian Tanofsky-Kraff: Pediatric Feeding and Eating Disorders: Current State of Diagnosis and Treatment. In: Current Psychiatry Reports. Band 16, Nr. 5, 1. Mai 2014, ISSN 1523-3812, S. 446, doi:10.1007/s11920-014-0446-z (springer.com [abgerufen am 5. August 2017]).
- ↑ Sera L. Young: Craving earth. Understanding pica. The urge to eat clay, starch, ice, and chalk. Columbia University Press, New York, ISBN 978-0-231-51789-8, S. 16.
- ↑ Volker Faust: Psychische Gesundheit 143: Ess-Störungen. Stiftung Liebenau, Mensch - Medizin - Wirtschaft, Meckenbeuren-Liebenau, 2018. In: Psychiatrisch-neurologisches Informations-Angebot der Stiftung Liebenau. Unter Mitarbeit von Walter Fröscher und Günter Hole. (Anorexia nervosa mit eingeschränkter Nahrungsaufnahme, Bulimia nervosa mit Ess-Anfällen, Binge-Eating-Störung mit Ess-Anfällen und Kontroll-Verlust über das Essen).
- ↑ Hans-Ulrich Wittchen: Diagnostische Klassifikation psychischer Störungen. In: Hans-Ulrich Wittchen & Jürgen Hoyer (Hrsg.): Klinische Psychologie & Psychotherapie. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg 2011, S. 40.
- ↑ ICD-10 F50 (Esssucht) und Unterkategorien ( vom 28. November 2016 im Internet Archive)
- ↑ Meldung auf www.tagesschau.de vom 25. September 2006 ( vom 22. Februar 2009 im Internet Archive)
- ↑ aus: Diplomarbeit von Katharina Stempfl, Institut für medizinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Innsbruck
- ↑ Fettleibigkeit und Übergewicht (2006) ( vom 24. November 2010 im Internet Archive)
- ↑ US-Forscher berechnen Milliardenschaden durch Übergewicht, 2010 ( vom 3. September 2012 im Webarchiv archive.today)
- ↑ Gloria R. Leon u. a.: Personality and Behavioral Vulnerabilities Associated with Risk Status for Eating Disorders in Adolescent Girls, Journal of Abnormal Psychology, Band 102, 1993; Daniel Goleman: Emotional Intelligence. Why It Can Matter More Than IQ. 1. Auflage. Bantam, New York 1995, ISBN 0-553-09503-X, S. 246‒249.
- ↑ Daniel Goleman: Emotional Intelligence. Why It Can Matter More Than IQ. 1. Auflage. Bantam, New York 1995, ISBN 0-553-09503-X, S. 248. ; P. E. Sifneos: Affect, Emotional Conflict, and Deficit: An Overview, Psychotherapy and Psychosomatics, Band 56, Heft 3, 1991, S. 116‒122
- ↑ Wendy Mogel: The Blessings of a Skinned Knee: Using Jewish Teachings to Raise Self-Reliant Children, New York, London, Toronto, Sydney, Singapore: Scribner, 2001, ISBN 0-684-86297-2, S. 161‒163 (gebundene Ausgabe; eingeschränkte Online-Version in der Google-Buchsuche-USA)
- ↑ The Blessings of a Skinned Knee, S. 161
- ↑ The Blessings of a Skinned Knee, S. 162f, 175
- ↑ The Blessings of a Skinned Knee, S. 159f; The Blessing of Food ( vom 19. Februar 2012 im Internet Archive)
- ↑ The Blessings of a Skinned Knee, S. 165f
- ↑ The Blessings of a Skinned Knee, S. 165, 169‒173, 180f