„Schwarzbuch Kapitalismus“ – Versionsunterschied
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[[Datei:Robert Kurz, Schwarzbuch Kapitalismus 1999.jpg|mini|hochkant|Cover der Ausgabe von 1999 aus dem [[Eichborn Verlag]]]] |
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Das '''''Schwarzbuch Kapitalismus''''' (Untertitel: ''Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft'') ist eine 1999 erschienene [[Monographie]] von [[Robert Kurz]], die sich kritisch mit der Geschichte und der Zukunft des [[Kapitalismus]] auseinandersetzt. Es gilt als das Hauptwerk des der [[Wertkritik]] zuzurechnenden Autors und löste eine Debatte über die vorgenommene Beschreibung der Entstehungsgeschichte des Kapitalismus, seine Gegenwartsdiagnose sowie über die Folgen der Kritik an den herrschenden Verhältnissen aus. |
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== Überblick == |
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Die kapitalistischen Staaten der Gegenwart und der Vergangenheit werden als ein „System der totalitären Weltmarkt-Demokratien“, als „totalitärer [[Markt]]“, „sozialökonomischer Totalitarismus“ beschrieben. Die kapitalistischen [[Diktatur]]en und Demokratien sind nach Aussage des Autors nicht die Überwindung des [[Totalitarismus]] sondern seine Vollendung, der „freie Markt“ totalitärer als der totalitäre Staat, welcher nur williger Erfüllungsgehilfe der Marktwirtschaft sei. |
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=== Grundgedanken === |
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Der [[Kapitalismus]] zerstöre sich selbst, da er alles der „[[Entfremdung|entfremdeten]] Arbeit, dem Geldeinkommen und Warenkonsum unterordnet“ und da er zur „Entzivilisierung der Welt“ führe. |
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Im Zentrum des [[Schwarzbuch]]es steht die „Soziale Frage“ der Gegenwart. Der Kapitalismus treibe gegenwärtig auf eine „ausweglose Situation“ zu; die [[Marktwirtschaft]] werde mit ihren Produktivitätssprüngen – [[Automatisierung]] und [[Globalisierung]] – nicht mehr fertig. Der Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten sinke, die [[Arbeitslosigkeit]] nehme zu und der Ausweg in die [[Dienstleistungsgesellschaft]] erweise sich als Illusion. Wenn der notwendige „Bewusstseinssprung“ unterbleibe, drohe letztlich eine „Wegrationalisierung“ des Menschen und eine zunehmende „[[Kulturkritik|Entzivilisierung der Welt]]“. |
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Kurz ist der Ansicht, dass der Kapitalismus bezüglich der Wohlfahrtssteigerung eine „verheerende“ Gesamtbilanz aufweise (S. 7).<ref>Zitiert wird nach der 2002 erschienenen Ullstein Taschenbuch-Ausgabe.</ref> Zwar beschleunige der Kapitalismus die Entwicklung der [[Produktivkräfte]], eine Steigerung der Wohlfahrt aber sei damit jedoch „merkwürdigerweise immer nur zeitweilig verbunden“ gewesen, begrenzt auf „bestimmte soziale Segmente und Weltregionen“ (S. 7). Der Kapitalismus sei niemals imstande gewesen, die von ihm hervorgebrachten Potenzen für eine Verbesserung des Lebens aller Menschen anzuwenden. |
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Am Ende des Buch fordert der Autor auf, aufzustehen „gegen die kapitalistische Krisenverwaltung jeglicher Couleur mit ihrer trostlosen Perspektive von demokratischer [[Zwangsarbeit]] und Billiglohn-Sklaverei“. |
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Um eine neue, andere Alternative wieder denken zu können, müsse der als Naturfaktum auftretende, „scheinbar ahistorisch gewordene Kapitalismus“ [[Historisierung|historisiert]] werden (S. 5). Zu diesem Zweck analysiert Kurz die Geschichte des Kapitalismus von ihrem Beginn im 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Er geht von einer Prägung durch drei große industrielle Revolutionen aus: die Ersetzung der menschlichen Muskel- durch Maschinenkraft in der [[Industrielle Revolution|ersten]], die Rationalisierung der menschlichen [[Arbeit (Philosophie)#Industriegesellschaft|Arbeit]] in der [[Zweite industrielle Revolution|zweiten]] und die Automatisierung, wodurch die menschliche [[Arbeitskraft]] überflüssig gemacht werde, in der [[Dritte industrielle Revolution|dritten industriellen Revolution]]. |
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==Einführung== |
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Der Autor zählt die Opfer des Kapitalismus auf - die Opfer der [[Krieg]]e, von Hunger, [[Armut]]skrankheiten und Umweltzerstörung. Die soziale Marktwirtschaft der Nachkriegszeit sei „nur die Vollendung des [[Faschismus]] mit anderen, gemeineren Mitteln". Auch die Staatswirtschaft der sozialistischen Staaten bezeichnet er als Kapitalismus, da sich die dortigen [[Bürokrat]]en in Wahrheit nach den Richtlinien und Dogmen des kapitalistischen Weltsystems verhielten und nach dessen Kriterien den westlichen Kapitalismus überflügeln wollten - durch höhere [[Arbeitsproduktivität]], mittels [[Zins]]wirtschaft und höherer [[Effizienz]]. |
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Der zentrale Motor der Geschichte war dabei für Kurz |
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Den [[Ideologe]]n der Marktwirtschaft, des [[Neoliberalismus]] und Kapitalismus (unter anderem auch den Autoren des „[[Schwarzbuch des Kommunismus]]") wirft er vor, einseitig die russischen, chinesischen und antikapitalistischen [[Revolutionär]]e wegen Gewaltanwendung zu verurteilen, nicht jedoch ihre Gegner, den [[Zarismus]] und die kapitalistischen [[Tyrannei]]en - und nicht die prokapitalistischen bürgerlichen Revolutionen in England ([[1648]]), in Frankreich ([[1789]]) und den USA ([[1777]]), wo es sich um blutige Gemetzel gehandelt habe, wie in der Analyse des Autors die Geschichte der Durchsetzung und der Herrschaft des Kapitalismus überhaupt mit Hunderten Millionen Todesopfern, mit [[Folter]], [[Elend]], hoher Kindersterblichkeit, Armutkrankheiten, Massenmorden, [[Terror]], Zwang, Unfreiheit, Kriegen, Menschenhandel, Zwangsarbeit, Zwangs- und Kinderprostitution, Obdachlosigkeit, Massenenteignung und Hungersnöten begleitet ist. Er wirft auch dem gegenwärtigen Kapitalismus - der „freien Welt" und der [[Marktwirtschaft]] - vor, durchaus gleiche bzw. weitaus höhere Opferzahlen als der Kommunismus zu produzieren, z.B. innerhalb der „Dritten Welt" pro Tag über 100.000 [[Hunger]]tote, jährlich 7 Millionen verhungerte Kinder, in beiden [[Weltkrieg]]en etwa 75 Millionen Kriegstote. Dagegen und gegen die Säulen, Verteidiger und Repräsentanten des Kapitalismus gewaltsam vorgegangen zu sein, könne nach Meinung des Autors kein Vorwurf sein. |
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die Selbstunterwerfung des Menschen unter den ökonomischen Prozess der Geldvermehrung, was er mit dem von [[Adam Smith]] geprägten Bild der „schönen Maschine“ (S. 41) umschreibt. Deren „völlig unpersönlicher“ (S. 41) und „blinder Mechanismus“ werde als quasi „Naturgesetzlichkeit“ unreflektiert vorausgesetzt. Das einzige „Ziel“ der „schönen Maschine“ sei die „Verwertung des Werts“ (S. 85), die unaufhörliche Anhäufung von „Geld“ und „Quanten [[Abstrakte Arbeit|abstrakter Arbeit]]“ (S. 145). Mit diesem von [[Karl Marx]] übernommenen Begriff charakterisiert Kurz die Unterwerfung unter eine Form des Produzierens, die letztlich „sinnvergessen“ (S. 16) sei, da es nicht mehr auf ihre Inhalte ankomme, sondern nur noch um die „Verausgabung von Arbeitskraft schlechthin“, die Auslieferung an den „abstrakten Selbstzweck des Geldes“, um eine „fremdbestimmte, jenseits der eigenen Bedürfnisse und außerhalb der eigenen Kontrolle liegenden Tätigkeit“. Das Festhalten an diesem Prinzip der „abstrakten Arbeit“ bilde letztlich die große Gemeinsamkeit aller Gesellschaften und ihrer Kritiker seit Beginn der Neuzeit. Selbst die Vertreter der bürgerlichen Revolutionen und der [[Arbeiterbewegung]] hätten sich von diesem Paradigma nicht lösen können. |
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=== Einordnung === |
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Robert Kurz schlägt vor, die Reichtümer der Erde, die Bodenschätze, die Landwirtschaft und die Maschinen so einzusetzen, „dass allen Menschen ein gutes, genussvolles Leben frei von Armut und Hunger gewährleistet ist". Als ersten Schritt rät er, „sich der [[Gehirnwäsche]] durch den Kapitalismus/Wirtschafts[[liberalismus]] zu entziehen". |
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Das Werk ist im Kontext des „Manifest gegen die Arbeit“<ref>„Gruppe Krisis“, diverse Autoren, Juni 1999: [https://www.krisis.org/diverse_manifest-gegen-die-arbeit_1999.html Manifest gegen Arbeit].</ref> und anderen Publikationen von Autoren der [[Kapitalismuskritik|kapitalismuskritischen]] Zeitschrift ''[[Krisis (Zeitschrift)|Krisis]]'' zu sehen.<ref>Alfred Baumann: [https://www.heise.de/tp/features/Ein-Leichnam-regiert-die-Gesellschaft-3445105.html ''Ein Leichnam regiert die Gesellschaft''.] [[Telepolis]], 8. Januar 2000</ref> |
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<!--Zitate anderer Autoren im Buch: |
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*"Entsetzt sehen wir, dass der Kapitalismus, seitdem sein Bruder, der Sozialismus, für tot erklärt wurde, vom Größenwahn bewegt ist und sich ungehemmt auszutoben begonnen hat". ([[Günter Grass]] in seiner Nobelpreisrede)--> |
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Es ist eingebettet in eine von Kurz vertretene [[Zusammenbruchstheorie]].<ref>Zum folgenden vgl. Robert Kurz: ''Das Weltkapital'', S. 7 f.</ref> Den Ausgangspunkt bildet seine Publikation ''Der Kollaps der Modernisierung'' (1991), in der Robert Kurz „den Zusammenbruch des Staatssozialismus und das Ende der traditionellen marxistischen Weltinterpretation“ untersucht. Das ''Schwarzbuch Kapitalismus'' ist hierbei Aufarbeitung der „kapitalistischen Geschichte“ als eine Abfolge von drei industriellen Revolutionen – mit dem Fokus auf die Darstellung der „Schübe der Produktivkräfte“ und der „Ideologiegeschichte“. Die Fortsetzung zum „Schwarzbuch“ stellt eine Trilogie zum Prozess der Globalisierung dar: „Weltordnungskrieg“ ist eine Aufarbeitung der „traditionellen Imperialismusdebatte“, „Das Weltkapital“ eine Analyse der Globalisierungsdebatte. Hinzu kommt eine – bisher unveröffentlichte – Darstellung der Rolle der USA in der Weltwirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg. |
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== Inhalt == |
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=== Prolog=== |
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Der Ausgangspunkt des Buches bildet die Feststellung Kurz', dass das kapitalistische Gesellschaftssystem sich so absolut gesetzt habe „wie noch kein Gesellschaftssystem in der menschlichen Geschichte“ vor ihm. Dies drücke sich nicht nur durch eine Verfälschung, sondern durch den Versuch einer vollkommenen Auslöschung seiner Geschichte aus. Es wolle so einen „homo oeconomicus“ schaffen, der quasi „im Zeithorizont eines kleinen Kindes; nämlich in einer ewigen Gegenwart von Markthandlungen“ lebe. Um in diesem Kontext eine neue Alternative wieder denken zu können, müsse zuerst der scheinbar „ahistorisch gewordene Kapitalismus“ historisiert werden. Erst dann sei eine „Überwindung der Marktwirtschaft“ und der Beginn einer „anderen Geschichte“ möglich. Diese Historisierung durchzuführen ist Kurz’ Anliegen auf den folgenden knapp 800 Seiten des Buches. |
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=== Rezeption === |
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=== Kapitel 1: Modernisierung und Massenarmut === |
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Kurz’ Buch und seine grundlegende Kritik am Kapitalismus sind provokativ. Entsprechend kontrovers und teilweise polemisch fällt die Rezeption insbesondere der Presse aus. Von einigen wird das ''Schwarzbuch Kapitalismus'' als bedeutender Beitrag zur Zeitkritik aufgefasst und wegen seines historischen Detailreichtums sowie gerade aufgrund der umfassend historischen Herangehensweise gelobt. Kritisiert wird dagegen, dass Kurz den Begriff 'Kapitalismus’ unreflektiert verwende. Auch sei seine angestrebte Historisierung selektiv, teilweise verfälschend oder sogar überhaupt der falsche Ansatz. Seine Schlussfolgerungen stoßen ebenfalls auf Widerspruch. Trotz seiner grundlegenden und historischen Abrechnung gehe er die bestehenden Defizite des Kapitalismus nicht an. Seine Forderung nach einem [[Rätesystem]] sei problematisch, genauso wie die nach einer Systemverweigerung des Einzelnen. Wirklich praktische Konsequenzen ziehe Kurz aus seinen Erkenntnissen nicht. |
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Im ersten Kapitel versucht Kurz anhand verschiedener empirischer Beispiele eine seiner Grundthesen zu belegen, dass der Kapitalismus bezüglich der Wohlfahrtssteigerung eine „verheerende“ Gesamtbilanz aufweise. Kurz konzidiert zwar, dass durch den Kapitalismus „die Entwicklung der Produktivkräfte verwissenschaftlicht und ihre Entwicklung ungeheuer beschleunigt“ wurde. Eine „Steigerung der Wohlfahrt war damit jedoch merkwürdigerweise immer nur zeitweilig verbunden, begrenzt auf bestimmte soziale Segmente und Weltregionen“. |
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Der Kapitalismus sei niemals imstande gewesen, „die von ihm hervorgebrachten Potenzen für eine Verbesserung des Lebens aller Menschen anzuwenden, die er unter sein Gesetz gezwungen hat. Dieses Defizit ist bis heute nicht kleiner, sondern im Gegenteil hinsichtlich der gesamten Weltbevölkerung immer größer geworden. Deshalb kann es sich dabei um keinen bloß zufälligen, äußerlichen Zusammenhang handeln, sondern es muß zum Wesen der Marktwirtschaft gehören, daß sie mit ihren eigenen Potenzen nichts Besseres anzufangen weiß“. |
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== Theorie und Inhalt == |
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{|border="1" cellpadding="2" cellspacing="1" style="float:left; empty-cells:show; margin-right:15px; clear:right" width="180px" |
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=== Kulturgeschichtliche Grundlagen === |
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==== Geistesgeschichtliche Entwicklung ==== |
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|width="70%" |'''Zeit'''||width="30%"|'''Reallohn''' |
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Kurz beginnt seine historische Analyse des Kapitalismus mit dem Anfang des 17. Jahrhunderts, in dem sich ein Gesellschaftsmodell der „totalen Konkurrenz“ (S. 18) entwickelt habe. Dessen zugrunde liegendes [[Weltbild|Welt-]] und [[Menschenbild]] sei seiner Meinung nach „für das gesamte westliche Denken der Moderne bis zum heutigen Tag hegemonial“ geworden. |
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|1301-1350|| 94,6 |
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|1401-1450|| 155,1 |
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|1601-1650|| 48,3 |
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|1701-1750|| 94,6 |
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|1751-1800|| 79,6 |
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|1801-1850|| 94,6 |
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!colspan="2" align="left" |<small>Abb.1: Entwicklung des Reallohns eines engl. Zimmermanns (kg Weizen/Tag) nach [[Immanuel Wallerstein|Wallerstein]]</small> |
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Das aufstrebende marktwirtschaftliche Unternehmertum habe sich eine starke gesellschaftliche Stellung gesichert. Gleichzeitig habe es sich jedoch „nicht mehr an die traditionelle Struktur der autoritären Hierarchie gebunden“ (S. 18) gefühlt und seine eigene „Herrschaftsideologie“ zur [[Legitimität|Legitimierung]] seiner spezifischen Interessen entwickelt. |
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Kurz behauptet, es sei „der großen Mehrzahl der Menschheit [...] sowohl in der kapitalistischen Frühgeschichte seit dem 16. Jahrhundert als auch in dem Vierteljahrtausend von 1750 bis heute in nahezu jeder Hinsicht schlechter gegangen als im 14. und 15. Jahrhundert“ (vgl. Abb.1). Er vergleicht das frühkapitalistische Europa mit einer „[[Dante]]schen Hölle der Verelendung [..], die in ihrer Dichte und Ausdehnung historisch beispiellos war und nur mit den Zuständen im heutigen Afrika (ebenfalls einem Schreckensprodukt des Kapitalismus) vergleichbar ist“. Die fremdbestimmte Arbeitszeit der Massen sei während der Modernisierungsgeschichte im Vergleich zu allen vorkapitalistischen Gesellschaften exorbitant erhöht worden. Der Lebensstandard im industrialisierten 19. Jahrhundert hatte gerade einmal wieder „das Niveau des hohen Mittelalters [erreicht], ohne auch nur im entferntesten an den spätmittelalterlichen Standard des 15. Jahrhunderts heranzukommen“. |
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Die gesamte Geschichte des [[Frühkapitalismus]] sei durch einen steilen Absturz des Lebensniveaus gekennzeichnet. Selbst heute noch würde das Lebensniveau in vielen Ländern der Dritten Welt weit unter dem ihrer vorkolonialen und vorkapitalistischen Geschichte liegen. |
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[[Datei:Leviathan frontispiece cropped British Library.jpg|mini|Titelbild von Hobbes’ ''[[Leviathan (Thomas Hobbes)|Leviathan]]'' (1651) – Hobbes sah die menschliche Gesellschaft als eine „Gesellschaft von Ungeheuern“]] |
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Kurz betrachtet den Kapitalismus bzw. Liberalismus als ein Produkt „aus dem Geist des [[Absolutismus]]“. Beide „gehören derselben historischen Entfesselungsbewegung des Geldes und der ‚[[abstrakte Arbeit|abstrakten Arbeit]]‘ an“. Der Liberalismus enthalte wie der Absolutismus ein totalitäres Moment, einen „Totalitarismus des Marktes“, dem sich die Menschen bedingungslos unterwerfen sollen. Die spätere Wendung des Liberalismus gegen die autoritäre staatsabsolutistische Doktrin - wie z.B. in der [[Französische Revolution|Französischen Revolution]] - sei „wie so oft in der Geschichte - bloß ein Vatermord innerhalb derselben historisch-gesellschaftlichen Konstellation“ gewesen. |
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Der „große Stammvater des Liberalismus“ (S. 18) ist für Kurz [[Thomas Hobbes]]. Da jener den Menschen als ein prinzipiell von Natur aus [[Egoismus|egoistisches]] Wesen auffasse, der sich natürlicherweise in einem „Krieg aller gegen alle“ (''[[bellum omnium contra omnes]]'') (S. 20) befinde, bedürfe es laut Hobbes einer übergeordneten Macht, des [[Staatstheorie|Staates]], der den „menschlichen Raubaffen zur negativen Gesellschaftlichkeit zähmen sollte“ (S. 21). Dieser Rechtfertigungsgedanke des „absoluten Staates“ finde sich laut Kurz bis heute (S. 22). „Freiheit“ bestehe für Hobbes vor allem darin, „zu kaufen und zu verkaufen und miteinander Handel zu treiben“ (S. 19), nicht etwa in der Möglichkeit, „sich nach eigenen Bedürfnissen und Vereinbarungen kooperativ zu verhalten“. |
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Die Wendung des Konkurrenzstrebens zu einer positiven Eigenschaft – was Kurz als „[[Umwertung aller Werte]]“ (S. 25) bezeichnet – sei durch [[Bernard Mandeville]] vorgenommen worden. Durch gegenseitige Konkurrenz könnte der naturgemäß faule, egoistische und geldgierige Mensch eine Gesellschaft im Endresultat zu einer „blühenden Gemeinschaft“ (S. 25) machen. Dabei wird das „Mit-Fühlen und Mit-Leiden bei Unglück und Elend anderer“ zu einem Gefühl der „schwächlichsten Gemüter“ erklärt, dem die „Männer des Marktes“ nicht nachgeben dürften (S. 27). |
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=== Kapitel 2: Die schwarze Utopie der totalen Konkurrenz === |
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Mit dem Beginn des 17. Jh. sicherte sich das aufstrebende marktwirtschaftliche Unternehmertum „eine starke gesellschaftliche Stellung, war jedoch gleichzeitig nicht mehr an die traditionelle Struktur der autoritären Hierarchie gebunden“. Zur Legitimierung seiner spezifischen Interessen sah es sich daher genötigt, seine eigene Herrschaftsideologie hervor zu bringen. Es folgte einer „Formulierung einer Welterklärung und eines umfassendes Bild des Menschen, wie es seither für das gesamte westliche Denken der Moderne bis zum heutigen Tag hegemonial werden sollte und gegenwärtig dominierender ist als jemals zuvor“. Kurz' Anliegen ist es nun, anhand zentraler Gestalten der europäischen Geistesgeschichte „die historischen Wurzeln dieser marktwirtschaftlichen Ideologie des sogenannten Liberalismus freizulegen“. Dieser Abschnitt hat eine Schlüsselbedeutung im weiteren Gedankengang des Buches. |
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Übertroffen, so Kurz, werde dieser Zynismus von [[Donatien Alphonse François de Sade|Marquis de Sade]], der die Ideologie vom „[[Recht des Stärkeren]]“ in einer radikalisierten Gestalt bis hin zum [[Mord]] vertritt (S. 31). Jegliches soziale Mitleid werde von De Sade als eine negative „Natureigenschaft“ der Frauen gebrandmarkt (S. 32). Durch die Reduzierung der [[Sexualität]] auf die Verrichtung des [[Koitus]] verwandele er sie „gewissermaßen in einen (analog zum kapitalistischen Produktionsprozess) maschinellen Vollzug“ (S. 34). |
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[[Bild:Thomas Hobbes (portrait).jpg|140px|thumb|Hobbes sah die menschliche Gesellschaft als eine „Gesellschaft von Ungeheuern“]] |
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==== Thomas Hobbes==== |
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Nach Kurz stellten die Ansichten von [[Immanuel Kant]] insofern eine weitere Steigerung dar, als bei diesem die Konkurrenz egoistischer Einzelner als Entwicklungsgesetz der Menschheit schlechthin unterstellt werde. Kant betrachte den Mechanismus des weltumspannenden Kapitals „als ein Werk der ‚Hand Gottes‘“, als „Resultat eines von göttlicher Vorsehung bestimmten Gesamtzusammenhangs, einer ‚höheren Natur‘ des Systems“ (S. 38). |
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Der „große Stammvater des Liberalismus“ ist für Kurz [[Thomas Hobbes]]. Hobbes fasse den Menschen als ein prinzipiell egoistisches Wesen auf, das „von Natur aus“ einsamer als ein Tier ist und das um seine individuelle Selbsterhaltung kämpft. Der Naturzustand des Menschengeschlechts sei der „Krieg aller gegen alle“ („[[bellum omnium contra omnes]]“), der in Reinkultur überall dort vorzufinden ist, wo es noch keine institutionelle Zähmung gibt. „Freiheit“ bestehe für Hobbes darin, „zu kaufen und zu verkaufen und miteinander Handel zu treiben“, nicht etwa darin, sich nach eigenen Bedürfnissen und Vereinbarungen kooperativ zu verhalten. Die menschliche Gesellschaft werde von ihm als „eine Gesellschaft von Ungeheuern“ betrachtet, weswegen es einer übergeordneten Macht, des Staates, bedürfe, der den „menschlichen Raubaffen zur negativen Gesellschaftlichkeit zähmen sollte“. Dieser Rechtfertigungsgedanke des „absoluten Staates“ aufgrund der missratenen „menschlichen Natur“ findet sich laut Kurz bis heute; er versucht dies an Texten von [[Ralf Dahrendorf]], [[Vaclav Havel]] und [[Antje Vollmer]] zu belegen. |
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Dieser Gedanke des „weisen Schöpfers“ führe dann zu der „unsichtbaren Hand“ der Theorie von [[Adam Smith]]. Dieses Sinnbild zeige nach Kurz auf, „wie das Weltbild der modernen Ökonomie systematisch auf dem der mechanischen Physik aufbaut“. Smith beteuere, dass „durch den besessenen Aktivismus der kapitalistischen ‚Macher‘ die größtmögliche Verbesserung und die bestmögliche Verteilung“ erzielt werde, so dass sich jede Kritik erübrige. Dabei werde die „unabhängige und für sich seiende ‚Schönheit der Ordnung‘ und den Glanz der ökonomischen ‚Maschine‘, der regelmäßigen und harmonischen Bewegung des Systems‘“ verherrlicht. Smith entwickelte das Weltbild der modernen Ökonomie, das letztlich auf dem der [[Klassische Mechanik|mechanischen Physik]] aufbaue. Die Tätigkeit dieser neuen „[[Nationalökonomie]]“ besteht für Kurz darin, die kapitalistische Ökonomie mit dem Anspruch der Naturwissenschaft zu erforschen und gleichzeitig ihre eigene Existenznotwendigkeit stets aufs Neue zu „beweisen“. |
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==== Bernard Mandeville ==== |
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Das [[Ethik|ethische]] Prinzip des „[[Utilitarismus|größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl]]“ von [[Jeremy Bentham]] propagiere eine Gesellschaft, „die jedem Menschen das Recht gibt bzw. geben sollte, ‚sein Glück zu machen‘“ wie es auch in der Formel des ''pursuit of happiness'' in die [[Unabhängigkeitserklärung der USA]] Eingang gefunden habe. Der objektive Maßstab für Glück sei letztlich das Geld, wobei nach Bentham das Eigentumsrecht in keiner Weise angetastet werden dürfe. |
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Die Wendung des Konkurrenzstrebens zu einer positiven Eigenschaft - was Kurz als „Umwertung aller Werte“ bezeichnet - wurde durch [[Bernard Mandeville]] vorgenommen. Der Mensch werde von ihm im Prinzip als faul, egoistisch und geldgierig betrachtet; durch die gegenseitige Konkurrenz könnten aber diese unschönen Eigenschaften eine Gesellschaft im Endresultat zu einer „blühenden Gemeinschaft“ machen. Bei ihm werde erstmals eine Mentalität deutlich, dass sich die „Vertreter bürgerlicher Ehrbarkeit“ bis heute als zu etwas Besserem und zu Höherem berufen fühlten, „während es eine minderbemittelte Masse von Menschenmaterial geben muss, das zur ‚Arbeit’ schicksalhaft ausersehen, jedoch auf eine uneinsichtige und geradezu ‚unmoralische’ Weise störrisch und von Natur aus faul ist und einer starken Hand bedarf“. Im Umgang mit den Armen und Schwachen werde das „Mit-Fühlen und Mit-Leiden bei Unglück und Elend anderer“ zu einem Gefühl der „schwächlichsten Gemüter“, vor allem der Frauen und Kinder erklärt, dem die Männer des Marktes nicht nachgeben dürften. Nach Mandeville gälte es, „selbst noch die Alten, Kranken und Schwachen, die Blinden und Lahmen in die Verwertungsmaschine des Kapitals einzuspannen und das Letzte an Reserven aus ihnen herauszuholen“; dies sei eine „Quelle, aus der ein [[Ronald Reagan]] und eine[[ Margaret Thatcher]], ein [[Newt Gingrich]] oder ein [[Otto Graf Lambsdorff|Graf Lambsdorff]] heute immer noch schöpfen“. |
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==== Biologistischer Unterbau ==== |
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[[Bild:Sade (van Loo).png|140px|thumb|de Sade brandmarkte soziales Mitlied als „negative Natureigenschaft“ der Frau]] |
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Eine zentrale Entwicklung im 19. Jahrhundert ist für Kurz der [[Darwinismus]], der einen für die moderne Naturwissenschaft typischen Charakter aufweise: |
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==== Donatien de Sade ==== |
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Übertroffen werde dieser Zynismus nur noch von [[de Sade]], der die Ideologie vom „Recht des Stärkeren“ in einer radikalisierten Gestalt bis hin zum Mord vertrete. Im Umgang mit den Armen und Schwachen steigere sich de Sade geradezu in eine Art „existentiellen Hass“ hinein, indem er selbst noch gegen die kümmerlichste Staatsfürsorge der Armenhäuser hetze. Für Kurz formuliert de Sade bereits die Gedanken voraus, „die erst der Sozialdarwinismus an der Schwelle des 20. Jahrhunderts systematisieren und schließlich auf deutschem Boden in die gesellschaftliche Mordtat umsetzen sollte“. Jegliches soziale Mitleid werde von ihm als eine negative „Natureigenschaft“ der Frau gebrandmarkt. Die Frau werde von de Sade „als Hündin des Mannes“ und als Sexmaschine herabgewürdigt, wobei die Sexualität auf einen puren physiologischen Akt reduziert werde, um sie von allen gefährlichen emotionalen Elementen zu reinigen und sie „gewissermaßen in einen (analog zum kapitalistischen Produktionsprozess) maschinellen Vollzug zu verwandeln“. |
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: „Eine wirkliche große Entdeckung verschmolz vollständig mit einem irrationalen ideologischen Impuls und unreflektierten Interessen des kapitalistischen Fetisch-Systems, um sich schließlich mit einer enormen Zerstörungskraft aufzuladen“ (S. 154). |
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==== Immanuel Kant und Adam Smith ==== |
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Kurz sieht [[Charles Darwin|Darwin]] in der Tradition der [[Aufklärung]] und ihrem Programm der „Vernaturwissenschaftlichung“ der Welt (S. 155). Die Freigeister hätten jedoch keine echte Aufklärung im Sinn gehabt: die scheinbare Aufhebung der Religion durch die Naturwissenschaften sei nur der intellektuellen Elite vorbehalten gewesen bzw. habe doch nur einer raffinierteren Form der Gängelung und Selbst-Disziplinierung der Massen gedient. |
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Bei [[Immanuel Kant]] schließlich werde die Konkurrenz egoistischer Einzelner als Entwicklungsgesetz der Menschheit schlechthin genommen und auf ein geradezu göttliches Gesetz zurückgeführt. Kant betrachte den Mechanismus des weltumspannenden Kapitals „als ein Werk der ‚Hand Gottes‘“, als „Resultat eines von göttlicher Vorsehung bestimmten |
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Gesamtzusammenhangs, einer ‚höheren Natur‘ des Systems“. |
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Darwin habe geglaubt, den Mechanismus für die [[Evolution]], d. h. die allmähliche Veränderung und Höherentwicklung der Lebewesen, im ‚Kampf ums Dasein‘, d. h. in der [[Selektion (Evolution)|Selektion]] gefunden zu haben. Die Rückprojektion dieser Lehre auf die Gesellschaft sei eine willkommene ‚naturwissenschaftliche‘ Rechtfertigung für das kapitalistische Konkurrenzkonzept gewesen. Der sogenannte „[[Sozialdarwinismus]]“ sei dann schon bald von „imperialistischen Ideologen wie [[Friedrich Naumann]], [[Walther Rathenau]] oder [[Max Weber]]“ zur Formulierung deutscher Weltmachtansprüche verwendet worden. |
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[[Image:Adam Smith.jpg|120px|thumb|Adam Smith sah in der Ökonomie eine „unsichtbare Hand“ am Werk]] |
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Der Gedanke des „weisen Schöpfers“ bei Kant führe zu dem der „unsichtbaren Hand“ in der Theorie von [[Adam Smith]]. Noch wichtiger als deren „angeblich wohltätige Wirkungen“ sei für Smith „die Anbetung dieses säkularisierten Gottes, der keinen anderen neben sich duldet“. Das Bild von der „unsichtbaren Hand“ zeige, „wie das Weltbild der modernen Ökonomie systematisch auf dem der mechanischen Physik aufbaut“. Smith beteuere, dass „durch den besessenen Aktivismus der kapitalistischen ‚Macher‘ die größtmögliche Verbesserung und die bestmögliche Verteilung (die dennoch ganz selbstverständlich die Existenz von Bettlern einschließt!) erzielt werde, so dass sich jede Kritik erübrige“. Die Bedeutung der Befriedigung der sinnlichen Bedürfnisse werde herabgesetzt, „um die unabhängige und für sich seiende ‚Schönheit der Ordnung‘ und den Glanz der ökonomischen ‚Maschine‘, ‚der regelmäßigen und harmonischen Bewegung des Systems‘ zu verherrlichen“. Smith habe das Weltbild der modernen Ökonomie entwickelt, das letztlich auf dem der mechanischen Physik aufbaue. Dies sei die Geburtsstunde der Nationalökonomie, das „ein historisches Wahnsystem der Menschheit mit dem Anspruch der Naturwissenschaft erforscht und gleichzeitig dessen Existenznotwendigkeit stets aufs neue ‚beweist‘“. |
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Für Kurz verbinden sich Darwinismus und Kapitalismus in den „[[Eugenik]]“-Bewegungen, die eine „wissenschaftlich“ basierte menschliche „Zuchtwahl“ hätten entwickeln wollen. Der Sozialdarwinismus habe die „negative Selektion“ zur Ausschaltung der „biologisch Minderwertigen“ der Gesellschaft eingeführt, die besonders Kriminelle und alle, die im „kapitalistischen Sinne“ arbeitsuntauglich gewesen seien, betroffen habe. Diese Ideologie des Sozialdarwinismus sei zunächst als eine Art „Fortpflanzungshygiene“ realisiert worden: |
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==== Jeremy Bentham ==== |
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: „Während die ‚Minderwertigen‘ und ‚Entarteten‘ notfalls gesetzlich und mit Polizeigewalt daran gehindert werden sollten, sich fortzupflanzen, galt es andererseits als gesellschaftspolitisches Ziel, ‚erbgesundes‘ Menschenmaterial nach landwirtschaftlichen Gesichtspunkten zusammenzuführen“ (S. 161). |
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Als letzten „Stammideologen“ des Liberalismus sieht Kurz [[Jeremy Bentham]]. Bentham propagiere das ethische Prinzip des „größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl“. Dieses Prinzip interpretiere den Kapitalismus als eine Gesellschaft, „die jedem Menschen das Recht gibt bzw. geben sollte, ‚sein Glück zu machen‘“ wie es auch in der Formel des „pursuit of happiness“ (Streben nach Glück) der [[Unabhängigkeitserklärung der USA|Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika]] Eingang gefunden habe. Maßstab, wie dieser Nutzen objektiv gemessen werden könne, sei bei Bentham letztlich das Geld. Das Prinzip der allgemeinen Glücksmaximierung dürfe bei Bentham aber nicht dazu führen, dass das Eigentumsrecht in irgendeiner Weise angetastet werde; die Umverteilung nach unten sei von Übel und gehe an die Substanz des Reichtums. Die Akkumulationsbewegung des Kapitals dürfe auf keinen Fall gestört werden und „selbst ein bescheidenes Wohlstandsverlangen des kapitalistischen Menschenmaterials [könnte] als verderbliche ‚Gleichmacherei’ erscheinen“. |
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Mit dem Darwinismus habe sich auch der moderne [[Rassismus]] verbunden, der von [[Kant]] („Race“) über [[Hegel]] bis zu [[Auguste Comte]] („[[Drei-Stadien-Gesetz|Stadientheorie]]“) gereicht hätte und Joseph Arthur Graf de [[Gobineau]] den „Mythos der ‚[[Arier|arischen]] [[Herrenrasse|Edelrasse]]‘“ habe erfinden lassen. |
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=== Kapitel 3: Die Geschichte der Ersten industriellen Revolution === |
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Die mit dem Darwinismus verschmolzene Rassentheorie habe – so Kurz – unmittelbar [[Biologismus|biologistischen]] Charakter angenommen. [[Houston Stewart Chamberlain]] sei dabei der Lieferant einer Interpretation der „gesamten Geschichte einschließlich der Kunstformen nach ‚rassischen‘ Gesichtspunkten“ gewesen (S. 164). Diese Verbindung von Darwinismus und Rassenwahn im Kapitalismus habe zu einer dualistischen Rangordnung zwischen „[[Herrenmensch]]en“ und biologisch inferiorem „Menschenmaterial“ geführt. Der gesellschaftliche Wahn habe eine Projektionsfläche für die „Verkörperung seiner eigenen Negativität“ und einen ‚negativen [[Übermensch]]en‘ „in Gestalt der [[Juden]]“ gefunden; eine Entwicklung, in der sich für Kurz die europäische Tradition des [[Antisemitismus (bis 1945)|Antisemitismus]] in die kapitalistische Moderne transformiert habe: vor allem in der Idee einer ‚[[Weltjudentum|jüdischen Weltverschwörung]]‘. Kurz glaubt, dass die kapitalistische Logik der Marktgesetze letzten Endes nur die physische Vernichtung des „Konkurrenten“ zugelassen hätte. |
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==== Die Durchsetzung des betriebswirtschaftlichen Kalküls ==== |
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Kurz sieht auch in der Tradition des Sozialismus antisemitische Tendenzen, die er bereits bei [[Charles Fourier]] ausmacht, dessen 1808 erschienene Schrift ''Theorie des quatre mouvements'' ein antisemitisches Weltbild vertreten habe. Auch [[Pierre-Joseph Proudhon]] habe den Begriff des „Kapitalismus“ auf das zinstragende Kapital der reinen Geldverleiher reduziert, seine Kapitalismuskritik sei daher nur eine antisemitische Umdeutung dieser Gesellschaftsform gewesen. Auch Marx habe in Ansätzen „immer wieder in Richtung einer Identifikation von ‚Geld überhaupt‘ oder ‚Schacher‘ und ‚[[Wucher]]‘ mit dem ‚jüdischen Wesen‘“ tendiert (S. 178). |
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Robert Kurz betrachtet den Durchbruch des Liberalismus’ in der Ersten industriellen Revolution als einen „Vatermord“ am Absolutismus. Nach seiner Etablierung hatte es die „kapitalistische Aufklärungsvernunft eilig gehabt, „mit der großen Gesellschaftstheorie zum Schluss zu kommen, um die erreichten Grundlagen nicht mehr zu gefährden“. [[Hegel]] erklärte den Weltgeist in seiner Person und dem konstitutionellen preußischen Staat für „zu sich gekommen“. Die Gedanken neuer Umwälzungen wurden aufgegeben und man machte sich daran, das warenproduzierende System „auszubauen, zu versittlichen und die Einsicht in ihre Notwendigkeit zu verallgemeinern“. Die „kapitalistische Selbstzweck-Maschine“ wurde „als selbstverständlich vorausgesetzt“ und das bürgerliche Denken „verlegte seinen Schwerpunkt zunehmend auf die Organisations- und Naturwissenschaft“. Die „Mängel und Fehler“ in der „besten aller möglichen Welten“ ([[Leibniz]]) sollten „durch technokratische Intelligenz“ behoben werden. |
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=== Historische Analyse === |
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Mit der größer werdenden Anzahl kapitalistischer Unternehmen „machte sich die Konkurrenz als ‚[[stummer Zwang]]’ (Marx) geltend“. „Die Marktteilnehmer wurden zu einer permanenten ‚[[Produktivkraft]]entwicklung’ genötigt, um das eigene Angebot marktfähig zu halten. In demselben Maße, wie der Motor der Konkurrenz ansprang, wurde der Durchbruch der Ersten industriellen Revolution unvermeidlich“. Mit dem Konkurrenzprinzip begann bereits zu Anfang der Industrialisierung ein Kampf um die Preise und eine Art „Standortdebatte“ um die günstigsten Arbeitslöhne. „Die durchaus realen Zwänge der beginnenden internationalen Konkurrenz wurden als Mittel der sozialen Erpressung benutzt, um die Textilarbeiter auf ein noch tieferes Armutsniveau zu setzen. Nicht die Unhaltbarkeit der kapitalistischen Produktionsweise war die Schlußfolgerung, sondern die Hoffnung auf eine naturwissenschaftlich-technische Erlösung, die doch irgendwann einmal aus den Maschinenkräften selber kommen sollte“. Der noch kaum als solcher identifizierte Kapitalismus wurde als „gesellschaftliches Naturereignis“ betrachtet. Er stand vor dem Paradoxon, dass er einerseits eine „bis dahin niemals für möglich gehaltene Arbeitsersparnis durch das Maschinenwesen“ erreichte, diese aber andererseits „nicht als Steigerung der gesellschaftlichen Wohlfahrt und als Lösung der sozialen Probleme in Erscheinung treten“ konnte. Der Produktivitätsgewinn wurde „restlos für die Konkurrenz verausgabt, „um zusätzliche Marktanteile zu gewinnen bzw. bestehende zu halten“. Kurz führt dies auf die „Vernunft“ der Betriebswirtschaft zurück, die nur auf den Konkurrenzvorteil bedacht sei. Dies bewirke, „dass die einen gänzlich ‚arbeitslos’ und von allen Subsistenzmitteln abgeschnitten werden, während für die anderen, vermeintlich Glücklicheren, die ihre ‚Arbeitsplätze’ behalten, sich umgekehrt die Arbeitszeit sogar verlängern und die Arbeitsintensität erhöhen kann“. Die kapitalistische Produktionsweise gerate dadurch in einen „unlösbaren logischen Selbstwiderspruch“, da sie einerseits die „[[abstrakte Arbeit]]“ in ökonomische Werte verwandeln wolle, andererseits menschliche Arbeit fortlaufend „durch technisch-wissenschaftliche Agenzien“ ersetze und so die Substanz der „Wertschöpfung“ selbst aushöhle. |
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==== Erste industrielle Revolution ==== |
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; Durchsetzung des betriebswirtschaftlichen Kalküls |
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Mit der Durchsetzung des Liberalismus gegenüber dem [[Absolutismus]] in der [[Erste industrielle Revolution|Ersten industriellen Revolution]] begann man nach Kurz die warenproduzierende Gesellschaftsform „auszubauen, zu versittlichen und die Einsicht in ihre Notwendigkeit zu verallgemeinern“ (S. 57). Dabei werde die „kapitalistische Selbstzweck-Maschine“ als selbstverständlich vorausgesetzt und das „bürgerliche Denken“ habe „seinen Schwerpunkt zunehmend auf die Organisations- und Naturwissenschaft“ und auf „durch technokratische Intelligenz“ verlegt (S. 57). Die Konkurrenz der Unternehmen habe die [[Marktteilnehmer]] nun zu einer permanenten [[Produktivkraft]]entwicklung genötigt, um das eigene Angebot marktfähig zu halten. Im Kampf um die Preise sei es zu einer Art „Standortdebatte“ um die günstigsten Arbeitslöhne gekommen, die beginnende internationale Konkurrenz habe als Mittel der sozialen Erpressung gedient (S. 59). |
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Kurz sieht diese „innere Krisenpotenz des Kapitalismus“ als „Quittung dafür, dass die menschliche Kommunikation in gesellschaftlichen Institutionen durch eine paradoxe Kommunikation der Waren und ihrer Preise untereinander auf dem anonymen Markt ersetzt worden ist“. [[Produzent]]en und [[Konsument]]en seien bis auf die Ebene des Individuums hinab nicht mehr identisch und verträten gegensätzliche Interessen. Der daraus entstehende Systemprozess führe „mit logischer Konsequenz immer wieder in dasselbe Dilemma, weil er immer nur dasselbe eingebaute Programm abspulen kann“. Die Konsequenz daraus sei, dass die Steigerung der technisch-wissenschaftlichen Potenzen „auf diese Weise im allgemeinen Verdrängungskampf der Konkurrenzen verschleudert“ werde, „während die Menschen durch die blinde Gesamtresultante ihres eigenen beschränkten, ökonomisch ungesellschaftlichen Ego-Kalküls sich gegenseitig in eine groteske Selbstschädigung treiben“. |
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Bald sei der Kapitalismus gewissermaßen als „gesellschaftliches Naturereignis“ betrachtet worden. Das Paradoxon, dass er einerseits eine „bis dahin niemals für möglich gehaltene Arbeitsersparnis durch das Maschinenwesen“ erreicht, diese aber andererseits „nicht als Steigerung der gesellschaftlichen Wohlfahrt und als Lösung der sozialen Probleme“ (S. 59) habe nutzen können, begegnete man nach Kurz’ Ansicht allein mit der Hoffnung auf eine „naturwissenschaftlich-technische Erlösung, die doch irgendwann einmal aus den Maschinenkräften selber kommen sollte“. |
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==== Die Opfer ==== |
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Kurz glaubt, dass die kapitalistische Produktionsweise in einen „unlösbaren logischen Selbstwiderspruch“ geriete, da sie einerseits „abstrakte Arbeit“ in Waren verwandele, andererseits aber menschliche Arbeit fortlaufend „durch technisch-wissenschaftliche Agenzien“ ersetzt und so die Substanz der „Wertschöpfung“ selbst aushöhle. |
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[[Image:Adolf_Friedrich_Erdmann_von_Menzel_021.jpg|280px|thumb|<small>„Die ‚Arbeitsplätze‘ der Ersten industriellen Revolution waren wahre Höllenlöcher“ - Das „Eisenwalzwerk“ von [[Adolph Menzel]]</small>]] |
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Kurz schildert im weiteren Verlauf des Kapitels die Auswirkungen dieses betriebswirtschaftlichen Kalküls während der Ersten industriellen Revolution. Bereits zu Beginn kam es „zu einer ersten technologisch forcierten, strukturellen [[Massenarbeitslosigkeit]]“, die vor allem „die untergehenden handwerklichen Produzenten“ betraf. „Sowohl in England selbst als auch in ganz Europa wurde das gesamte [[Textilindustrie|Textilhandwerk]] durch die billige englische Fabrikware ruiniert“. „Das gesamte [[Verlagssystem|Verlagswesen]] und damit die abhängige Heimindustrie schmolzen dahin und wurden durch [[Fabrik]]en mit großen, immer häufiger dampfgetriebenen Maschinenaggregaten ersetzt. Aus der von den Verlegern ausgepressten „arbeitenden Armut“ nach dem Muster der schlesischen und böhmischen Webersiedlungen wurde die vollständige Arbeitslosigkeit und die soziale Verödung ganzer Landstriche“. |
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Nur ein Teil der arbeitslosen ehemaligen Textilproduzenten fand im entstehenden Fabriksystem eine neue Existenz. „Die völlig entwurzelten Menschen mußten sich um jeden Preis verkaufen und wurden Arbeitsformen unterworfen, die jeder Beschreibung spotten“. Es entstand eine neue Kategorie von „arbeitenden Armen“: das Fabrikproletariat. Das betriebswirtschaftliche Kalkül „erzwang gerade durch die arbeitssparenden Maschinen ein drakonisches Arbeitsregime, das bis zur totalen physischen Auspowerung der Arbeitenden ging“. In vielen Fällen wurden erwachsene Männer arbeitslos, während Kinder und Frauen zu Niedriglöhnen in den industriellen Fabriken beschäftigt wurden. |
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; Opfer und Revolten |
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==== Revolten ==== |
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[[Datei:Adolph Menzel - Eisenwalzwerk - Google Art Project.jpg|mini|„Die ‚Arbeitsplätze‘ der Ersten industriellen Revolution waren wahre Höllenlöcher“ – Das „[[Eisenwalzwerk (Moderne Cyklopen)|Eisenwalzwerk]]“ von [[Adolph Menzel]] (1872–1875)]] |
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Diese „Opfer der Ersten industriellen Revolution“ wurden aber nicht widerstandslos hingenommen. Kurz geht ausführlich auf die [[Revolte]]n ein, deren Spuren „in den Geschichtsbüchern und Epochenbegriffen sorgfältigst gelöscht“ wurden. Den Kern der sozialen Revolten bildete die seit der Ersten industriellen Revolution von England ausgehende neue Bewegung der „Maschinenstürmer“ oder „[[Ludditen]]“ – v.a. in den Hauptzentren [[Nottingham]] und [[Yorkshire]]. Ihre Mittel waren Streiks, Demonstrationen, Brandstiftungen, Plünderungen, Drohbriefe und die Zerstörung von Maschinen und Fabrikeinrichtungen. Kurz beurteilt die Ludditen als zwar einerseits rückwärtsgewandt, da sie die alte handwerkliche Lebenswelt und damit teilweise auch deren soziale Beschränktheit wiederherstellen wollten. Auf der anderen Seite klagten sie aberr „elementare und universelle Bedingungen menschlicher Freiheit ein, die durch das kapitalistische Markt- und Fabriksystem von Grund auf zerstört wurden“: „überlieferte Dorfrechte“, „rechtliche Gleichheitsvorstellungen“, ein kulturelles Muster, „das einen ‚Rhythmus von Arbeit und Muße’ ebenso einschloß wie die Vorstellung eines ‚gerechten Preises‘ und eines ‚angemessenen Lohnes‘“, was „völlig unvereinbar war mit den blind-mechanistischen Gesetzen eines sogenannten Arbeitsmarktes.“ Die Ludditen waren dabei „nur die Speerspitze einer in ganz Europa verbreiteten fundamentalen Oppositionshaltung der Produzenten“. |
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Die Folgen dieses betriebswirtschaftlichen Kalküls zu Beginn der [[Industrielle Revolution|Ersten industriellen Revolution]] seien [[Massenarbeitslosigkeit]] und die soziale Verödung ganzer Landstriche gewesen. Mit dem Fabrik[[proletariat]] sei eine neue Kategorie von „arbeitenden Armen“ entstanden, Kinder und Frauen seien zu [[Niedriglohn|Niedriglöhnen]] in den Fabriken beschäftigt worden. Die Opfer hätten aber Widerstand geleistet, wodurch es zu Sozial[[revolte]]n gekommen sei. |
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Kurz betrachtet die neue Bewegung der radikalen, auch gewalttätigen, „[[Ludditen]]“ als Kern der Auflehnung. Sie seien zwar rückwärtsgewandt gewesen, hätten aber „elementare und universelle Bedingungen menschlicher Freiheit ein[geklagt], die durch das kapitalistische Markt- und Fabriksystem von Grund auf zerstört wurden“. Auf dem Kontinent spielten sich die „[[Brotunruhen]]“ vor allem in der Zeit des [[Vormärz]] ab, „in der die Realexistenz des sozialen Kriegs- und Belagerungszustands zum Randphänomen der ‚notwendigen’ Modernisierungsopfer degradiert“ worden sei. |
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Bezüglich der Stellung der [[Frau]]en hält Kurz es für „eine grobe Irreführung, den Aufstieg der Marktwirtschaft als Bedingung der weiblichen [[Emanzipation]] darzustellen“. Wenn auch die bäuerlich-handwerkliche Produktionsweise im Kern patriarchalisch gewesen sei, bedeutete dies „jedoch keineswegs eine Recht- und vor allem auch keine Machtlosigkeit der Frauen, denn aufgrund ihres eigenen Platzes in der Produktion konnten sie durchaus mitreden. Wie eine selbstbestimmte Produktivkraftentwicklung nicht grundsätzlich ausgeschlossen war, so war auch eine Beteiligung und Mitbestimmung der Frauen daran im Prinzip denkbar.“ Erst der Kapitalismus habe den Frauen einen eigenständigen Platz in der „offiziellen“ Gesellschaft abgesprochen, „um sie auf ein Hausfrauendasein zu verpflichten, das sie einerseits zur Mutterschaft und andererseits zur ‚Sexmaschine’ im Sinne von de Sade degradierte“. Kurz hält es für möglich, dass „die Frauen der Unterschichten in jener Umbruchphase, als der Kapitalismus noch auf den Massenwiderstand sozialer Revolten stieß, einer Emanzipation viel näher [standen] als in den späteren Domestizierungs- und Anpassungsprozessen der ‚Modernisierung’“, was sich schon daran zeige, dass „in der ganzen Frühgeschichte der Industrialisierung [..] Frauen als Anstifterinnen von Unruhen“ aufgetreten seien. |
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Das so genannte [[Bevölkerungsgesetz]] des Pfarrers [[Thomas Robert Malthus]] stellt für Kurz den Beginn der „[[Biologismus|Biologisierung]] der gesellschaftlichen Krise“ dar. Malthus habe mit der These, die Menschheit würde sich stets stärker als die zur Verfügung stehenden Nahrungsressourcen vermehren, eine Art „Endlösung“ für die Erklärung der Massenarmut und Massenarbeitslosigkeit gefunden. Damit seien die eigentlich selbstgeschaffenen Probleme des Kapitalismus zu unabänderlichen Naturgesetzen erhoben worden. |
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Auf dem Kontinent waren die sozialen Revolten hauptsächlich durch die sog. „[[Brotunruhen]]“ gekennzeichnet, die durch Handwerker, Fabrik- und Manufakturarbeiter und Teile der Landbevölkerung getragen wurden. Beispiel hierfür ist der sogenannte „[[Kartoffelaufstand]]“ in Berlin vom April 1847. Diese Ereignisse spielten sich in einer Epoche ab, die später in Deutschland „[[Biedermeier]]“ genannt wurde, ein Begriff, der für Kurz die soziale Ignoranz der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland ausdrückt: er stelle eine „Krisenverdrängung“ und „Vernebelung der wirklichen Geschichte“ dar, „in der die Realexistenz des sozialen Kriegs- und Belagerungszustands zum Randphänomen der ‚notwendigen’ Modernisierungsopfer degradiert“ wurde. An dieser „Mentalität des deutschen Mittelstands“, „noch auf jede Krise seiner marktwirtschaftlichen Religion und ihrer Heiligtümer einerseits mit beinharter Besitzstandswahrung, andererseits mit sentimentaler Verniedlichung und Verdrängung“ zu reagieren, habe sich bis heute nichts geändert. |
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; Märzrevolution und Sozialdemokratie |
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[[Bild:Thomas Malthus.jpg|thumb|140px|Malthus erfand das Bevölkerungsgesetz]] |
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Die aus dem Geist des [[Nationalismus]] – der Suche nach einer „identitätsstiftenden Konstruktion“ – resultierende [[Märzrevolution|Revolution von 1848]] hatte Kurz zufolge im Ziel des Liberalismus, die beiden „Pole“ Staat und Markt selbst zu besetzen, ihre Ursache. Das liberale Bürgertum kämpfte dabei auch gegen eine drohende Sozialrevolte. Seine Niederlage in der März-Revolution habe maßgeblich dazu beigetragen, |
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: „die entstehende Linke (bzw. den späteren Sozialismus) für immer an die Probleme des Liberalismus zu fesseln und in eine lange historische Sackgasse hineinlaufen zu lassen“. |
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Der moderne Sozialismus entstand nach Kurz aus Reformgruppen (u. a. [[Arbeiterverein]]en), die vornehmlich versucht hätten, Sozialrevolten zu verhindern oder zu dämpfen und die Widersprüche und Restriktionen des Kapitalismus auf äußere Einflüsse zurückzuführen. Nur wenige Intellektuelle – allen voran [[Karl Marx]] und [[Friedrich Engels]] – seien durch persönliche Erfahrungen „umgedreht“ worden. Historische Folgen seien jedoch ausgeblieben. Marx habe zwar stets Sympathie für die sozialen Aufstände geäußert, deren Impuls aber „im wesentlichen als eine Verirrung gegen ‚die Produktivkräfte’ betrachtet“. Kurz wirft dem [[Marxismus]] die Übernahme des „[[Positivismus|positivistischen]], technisch-naturwissenschaftlich verkürzten Fortschrittsbegriff des Liberalismus“ vor. Eine radikale Kritik an der Modernisierungsgeschichte und ihres gewandelten Arbeitsbegriffs sei auch in der „Linken“ bis heute ausgeblieben. |
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==== Das Bevölkerungsgesetz von Malthus ==== |
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==== Zweite industrielle Revolution ==== |
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Die anschwellenden Massenarmut und Massenarbeitslosigkeit wurde als permanente Bedrohung und Anklage gegen die Marktwirtschaft empfunden. Die „Endlösung“ des Problems kam aus England, in Gestalt des wirtschaftsliberalen Pfarrers [[Thomas Robert Malthus]] (1766-1834). Malthus erfand das sogenannte [[Bevölkerungsgesetz]], um „der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Welt eine neue furchtbare Rechtfertigung zu liefern“. „Und wieder einmal musste dabei die Natur bzw. ‚Natürlichkeit’ der kapitalistischen Verhältnisse als wissenschaftliche Begründung herhalten“ – ein Rechtfertigungsmuster, das sich für Kurz während der gesamten Geschichte des Kapitalismus’ durchhält. Malthus machte „den ersten großen Schritt zur Biologisierung der gesellschaftlichen Krise, darin die Phantasien des Marquise de Sade fortführend“. Malthus habe aus der biologischen Natur „willkürlich die ‚dauernde Neigung aller Lebewesen, sich weit über das Maß der für sie bereitgestellten Nahrungsmittel zu vermehren’“ entnommen und diese auf den Menschen übertragen. Wenn diese Neigung nicht gehemmt werde, „verdoppele sich die Bevölkerung alle 25 Jahre und nehme somit in geometrischer Progression zu, während die Lebensmittel bestenfalls in arithmetischer Reihe vermehrt werden könnten“. Er habe damit „die kapitalistisch erzeugte künstliche Armut, ja sogar „Überflüssigkeit“ von Menschen auf die Ebene von Karnickeln oder Bibern zu bringen [versucht], die sich unter bestimmten Bedingungen ‚zu stark vermehren’“. Malthus habe zwar zugegeben, „dass sein Konstrukt nur unter kapitalistischen Bedingungen gilt“, diese jedoch als „natürlich“ und „unabänderlich“ betrachtet. Trotzdem habe Malthus „jede Form der Sexualität ohne Kinderwunsch als ‚im hohen Grade unnatürlich, unsittlich’ und als ‚verabscheuungswürdig’“ gebrandmarkt und „stattdessen den ‚überflüssigen’ Massen allen Ernstes ein Leben in ‚sittlicher Enthaltsamkeit’“ vorgeschlagen. |
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; Bis zum Zweiten Weltkrieg |
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Kurz charakterisiert den Beginn des 20. Jahrhunderts als eine |
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: „eigentümliche schizophrene Mischung aus Fortschrittsgläubigkeit und Untergangsphantasie, technokratischem Machbarkeitsdenken und biologistischer ‚Veterinärphilosophie’, Staatsräson und Marktkonkurrenz, individuellen Ansprüchen und wahnhafter Kollektivsubjektivität von ‚Nation’ und ‚Rasse’“. |
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Die aus der [[Agrargesellschaft]] überkommenen traditionellen Bindekräfte der Gesellschaft hätten sich immer schneller aufgelöst, die Ideen und Programme der sozialistischen Arbeiterbewegung seien zugleich „hohl und als vermeintliche historische Alternative unglaubwürdig“ geworden, da sie von Grund auf „mit den kapitalistischen Denkformen, Handlungsmustern und Interessenkategorien kontaminiert“ gewesen seien. |
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==== Der Begriff der Nation ==== |
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Den [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieg]] hält Kurz – in Anlehnung an [[George F. Kennan]] – für die „[[Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts]]“. Er habe ein Aufblühen des „Sozialdemokratismus“ bewirkt: Weil die Sozialdemokraten ihren „Blutzoll treu entrichtet“ hätten, sei ihnen nun „der lang ersehnte Eintritt in die Zentren der Macht“ gewährt worden; die ausgegrenzten Sozialistenführer seien zu staatsmännischen Juniorpartnern mutiert und zum Teil der „‚schönen’ Maschine“ geworden. |
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Der im 19. Jh. entstehende [[Nationalismus]] in Deutschland hatte Kurz zufolge seine Ursache darin, dass der Liberalismus „eine identitätsstiftende Konstruktion“ suchte, eine „vermeintlich zugrundeliegende historische Substanz oder Entität“. Er „fand die sogenannte [[Nation]]“, ein Begriff für einen „nirgends eindeutig definierbaren Zusammenhang, der bestimmte geografische Einheiten und kulturelle Gemeinsamkeiten wie die Sprache in einer vorher nicht bekannten Art und Weise als primäres Aktionsfeld und äußere Begrenzung für die ‚schöne Maschine’ und ihren staatlichen Moderator absteckte“. Kurz interpretiert die [[Märzrevolution|Revolution von 1848]] als „Zweifrontenkrieg“ des liberalen Bürgertums „sowohl gegen den scheinbar ungebrochenen Absolutismus der fürstlichen Kleinstaaterei als auch gegen die flackernde Sozialrevolte von unten“. Die Zielrichtung der Studentenschaft ging „auf Mitbeteiligung und Mitsprache an der Politik, auf Freiheitsrechte und Ausbau der Verfassung - soziale Verantwortung verspürten sie nicht“. Kurz trifft in diesem Zusammenhang die generelle Aussage, dass „die deutsche Linke immer wieder in den liberal-aufklärerischen Heimatstall zurückgetrottet ist, bevor sie die Frage der sozialen Emanzipation ernsthaft auch nur zu denken bereit war“. Sie ist für ihn letztlich „immer nur der ‚linke Flügel’ des Liberalismus [gewesen] und deshalb in der antikapitalistischen Konsequenz gelähmt“. |
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; Weltwirtschaftskrise und Inflation |
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==== Sozialdemokratie und Sozialismus ==== |
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[[Datei:Lange-MigrantMother02.jpg|mini|Die Wirtschaftskrise stürzte viele Familien in bittere Not – verelendete Wanderarbeiterin in Kalifornien 1936 (Photographie von [[Dorothea Lange]])]] |
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In den [[Roaring Twenties|1920er Jahren]] schien eine „neue Epoche eines weltweiten Kapitalismus von Massenproduktion und Massenkonsum“ anzubrechen, doch der strukturelle Umbruch der [[Zweite industrielle Revolution|Zweiten industriellen Revolution]] sei von der bis dahin größten „sozialökonomischen Transformationskrise“ überlagert worden. Trotz einer neuen Qualität und Quantität des Massenkonsums durch das „investive Konsumtionsmittel“ Automobil war der [[Fordismus]] nicht in der Lage, nahtlos an die Erste industrielle Revolution anzuschließen; es habe dabei vor allem an der benötigten [[Infrastruktur]], den dafür notwendigen Investitionen und einem intakten [[Weltmarkt]] mit weltweiten Absatzmärkten gefehlt. |
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Der Staat habe versucht, die im Krieg aufgenommenen Schulden zu kompensieren, indem er die Geldmenge erhöhte. Die dadurch ausgelöste Krise der [[Inflation]] habe nahezu überall in Europa das Geldsystem zerrüttet. Kurz sieht hier die seiner Meinung nach „tiefe Irrationalität“ des Kapitalismus herausbrechen und den „Fetischismus“ dieses Gesellschaftssystems sichtbar werden. Den verelendeten Massen habe nun eine entstehende kleine Schicht von spekulativen Krisengewinnlern gegenübergestanden. |
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Die „historische Niederlage des Liberalismus gegen den deutschen Absolutismus“ in der „März-Revolution“ war für Kurz der maßgebliche Grund, der dazu beitrug, „die entstehende Linke (bzw. den späteren [[Sozialismus]]) für immer an die Probleme des Liberalismus zu fesseln und in eine lange historische Sackgasse hineinlaufen zu lassen“. Der moderne Sozialismus entstand „aus den kreuzbraven Reformgruppen der unterbürgerlichen Schichten, organisiert in sogenannten [[Arbeiterverein]]en“, die Kurz als „eine Art sozialpolitische [[Sonntagsschule]] der bürgerlichen [[Philanthropie]]“ bezeichnet. Sie wurden meist „von freisinnigen Bürgern guten Willens geführt“ und verfolgten letztlich den Zweck, „auf die unterbürgerlichen Schichten [...] Einfluss zu nehmen, sie auch außerhalb der Fabriken zu ‚erziehen’, ihnen [...] Grundbegriffe der ‚Volkswirtschaftslehre’ beizubringen, die Sozialrevolte zu verhindern oder zu dämpfen und die Widersprüche und Restriktionen des Kapitalismus einseitig auf den absolutistischen Konservatismus zurückzuführen“. |
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|align="left" valign="top"|[[Bild:Karl_Marx.jpg|120px]] |
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|align="left" valign="top"|[[Bild:Friedrich Engels.jpg|120px]] |
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!colspan="2" align="left" |<small>Karl Marx und Friedrich Engels - die beiden herausragendsten Vertreter „verwandelter“ liberaler Intellektueller</small> |
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Einige dieser „liberalen Intellektuellen“ wurden allerdings „durch ihre Erfahrungen ‚umgedreht’“ - allen voran [[Karl Marx]] und [[Friedrich Engels]]. Die historische Alternative, die sich aus der Verbindung dieser neuen revolutionären Intellektuellen mit den „gefährlichen Klassen“ ergeben konnte, wurde jedoch verpasst. |
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Besonders in Deutschland habe „die Mischung aus Krisenangst, phantasmagorischen Projektionen und Spekulantenhatz den alten, tiefsitzenden Dämon des Antisemitismus“ erneut geweckt, insbesondere in Gestalt der [[Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei|Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei]]. |
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Marx habe sich zwar „stets mit Sympathie für soziale Aufstände geäußert, aber sein negatives Urteil über das Bewußtsein der „Maschinenstürmer“ zeige doch, „dass er deren Impuls im wesentlichen als eine Verirrung gegen ‚die Produktivkräfte’ betrachtete“. Kurz wirft an dieser Stelle dem [[Marxismus]] die Übernahme des „[[Positivismus|positivistischen]], technisch-naturwissenschaftlich verkürzten Fortschrittsbegriff des Liberalismus“ vor. Dies habe letztlich zur Folge gehabt, dass „auch der abstrakte Arbeitsbegriff des Liberalismus weitgehend übernommen“ wurde. Kurz resümiert, dass eine radikale Kritik an der Modernisierungsgeschichte und ihres gewandelten Arbeitsbegriffs bis heute ausgeblieben sei. Mit dem „Standpunkt der „[[Arbeiterklasse]] […] wurde in Wahrheit ein Standpunkt innerhalb der bürgerlichen, kapitalistischen Welt und ihrer permanenten, bewusstlosen Modernisierung eingenommen“. Nach Ansicht Kurz' war die Sozialdemokratie „überhaupt nicht mehr in der Lage, ihren positiven Arbeitsbegriff von dem des Liberalismus abzugrenzen“. Er bezeichnet sie bzw. den Sozialismus als den „linken Flügel des Liberalismus“, der „auf die formale, nationalstaatsbürgerliche ‚Befreiung’ gegen den Absolutismus fixiert“ gewesen sei. Sie sei „in eine auf sich selbst rückgekoppelte [...] historische Zeitschleife“ eingeschlossen, in der „endlos ‚die Moderne’ als ‚ein unvollendetes Projekt’ ([[Jürgen Habermas|Habermas]])“ wiederholt werde, „ohne doch je zum Ziel eines herrschaftsfreien ‚[[kommunikatives Handeln|kommunikativen Handelns]]’ zu gelangen, das a priori vereitelt wird durch die fetischistischen Formen des Kapitals und der ‚abstrakten Arbeit’“. |
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; Spekulation und die Krise der Deflation |
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=== Kapitel 4: Das System der nationalen Imperien === |
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Den Regierungen sei es in dieser Situation gelungen, durch drastische Maßnahmen die Inflation zurückzudrängen. Diese Entwicklung lief im Endeffekt darauf hinaus, dass sich die Staaten bei ihren Bürgern als Gläubigern gewaltsam entschuldet, und damit sowie auch durch die inflationsbekämpfenden Maßnahmen einen gewaltigen Verarmungsschub ausgelöst hätten. Der sich anschließende Aufschwung der sog. [[Goldene Zwanziger|Goldenen Zwanziger Jahre]] habe vor allem im Reich der Spekulation stattgefunden, mit der Folge einer beispiellosen Spekulationswelle auf den Aktien- und Immobilienmärkten, wo sich zahlreiche „Aktienkünstler“ zusammengeschlossen hätten, „um den Preis für eine bestimmte Aktie hochzutreiben“.<ref>Zitiert nach [[John Kenneth Galbraith]]: ''Die Geschichte der Wirtschaft im 20. Jahrhundert. Ein Augenzeuge berichtet'', Hamburg 1995.</ref> |
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Gegen Ende des 19. Jahrhundert hatte die Geschichte der Ersten industriellen Revolution – nach einem „langen Anlauf der marktwirtschaftlichen Objektivierung durch die absolutistischen Regimes, das Aufkommen des Liberalismus und die Kampagnen der Disziplinierung“ - „eine neue kapitalistische ‚Weltordnung’ heraufgeführt: das System der nationalstaatlichen Imperien. An die „Stelle der dynastischen Bürokratien“ waren „bürgerliche [[Nationalstaat]]en auf der Grundlage eines weitverzweigten industriellen Privatkapitalismus getreten“. |
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Als die Blase dieses „fiktiven Kapitals“ 1929 im New Yorker [[Börsenkrach]] geplatzt sei, war dies der Auftakt zur bislang größten Depression der kapitalistischen Geschichte. Das Ergebnis dieser zweiten [[Weltwirtschaftskrise]] war nach Kurz ein „globaler [[deflation]]ärer [[Schock (Volkswirtschaftslehre)|Schock]]“: |
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Kurz attestiert einen „eigenartigen Prozess der Homogenisierung“ in den bürgerlichen Nationalstaaten, den „Bezug aller sozialen Gruppen auf ein gemeinsames System abstrakter ökonomischer ‚Interessen’, die bereits die kapitalistischen Kategorien als gesellschaftliche Naturgrundlage voraussetzten und nun durch das ebenso abstrakte übergeordnete Bezugssystem der Nation und des Nationalstaats jenseits der alten dynastischen Strukturen komplettiert wurden“. Eine Entwicklung, die den „zunehmend verblassten und ohnehin niemals unversöhnlichen Gegensatz von liberalem Unternehmertum und ehemals absolutistischen Staatsapparaten […] vollends verschwinden“ ließ. Der Industriekapitalismus „war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts überall gleichermaßen zur führenden und dynamischen Kraft, zum Leitsektor der Gesellschaft geworden, der die weitere Entwicklung bestimmen sollte“. |
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: „In den USA irrten nahezu mittellose Massen in ihren Ford-Autos, dem einzigen noch verbliebenen Besitz, hilflos durch das Land auf der Suche nach Gelegenheitsjobs, um ein wenig Essen und Benzin zu verdienen […]. Außer diesen bizarren mobilen [[Slum]]s entstanden in den Vorstädten auch riesige neue Elendsviertel, die nie mehr ganz verschwinden sollten“. |
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Analog zur Verselbständigung der „Struktur der Geldverwertung als gesellschaftliche |
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‚Maschine’“ sieht Kurz im 19. Jh. nun die Verselbständigung einer „komplementären Struktur der staatlichen Regulation“ im Gange. Es begann ein Konkurrenzkampf „der staatlich zusammengefaßten Nationen“ untereinander. Der Staat und seine Apparate gewannen „gerade dadurch eine neue Bedeutung, dass die industrialisierte kapitalistische Marktwirtschaft sich derart dynamisch ausgedehnt hatte“. Die ökonomischen Probleme der industriellen Expansion selbst, ihre Bedingungen und Folgeprozesse, „machten sogar den Liberalismus mehr und mehr geneigt, dem Staat über seine Schreckensfunktion als [[Leviathan]] hinaus auch wieder soziale und ökonomische Eingriffe zuzugestehen“. Liberalismus und [[Konservatismus]] verschmolzen ineinander, was zu einer „Verflachung“ der „strengen Doktrin der freien Märkte“ führte. „Das Zeitalter der industriellen nationalen Imperien wurde für ein volles Jahrhundert auch zur Epoche eines neuen, auf die industrielle Konkurrenz bezogenen Staats[[interventionismus]], der in mehreren Wellen ansteigen sollte“. |
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Kurz’ Fazit: Die Wirtschaftskrise habe binnen kürzester Zeit die sozialen Standards wieder auf das Niveau des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zurückfallen lassen. |
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==== Die Rolle des Staates ==== |
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[[Bild:Bismarck1896.jpg|140px|thumb|Bismarck wollte mit seiner Sozialgesetzgebung „dem Staate ein paar Tropfen socialen Oeles im Rezepte beisetzen“]] |
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Kurz konstatiert für die zweite Hälfte des 19. Jh. eine vorübergehend konsolidierte gesellschaftliche Situation. Der „ökonomische Zusammenbruch [war] durch die Entfesselung des industriellen Schneeballsystems“ vorest abgewendet, die „arbeitenden Armen“ hatte man „endlich disziplinarisch im Griff der ‚abstrakten Arbeit’“. So „konnten sich die kapitalistischen Eliten neue Gedanken über die ‚soziale Frage’ machen“. Der Liberalkonservatismus nach 1850 wollte bei möglichen zukünftigen Krisen nicht wieder in eine ähnliche Lage wie zu Beginn des Jahrhunderts mit seinen sozialen Revolten geraten und war „geneigt, dem Staat eine gewisse soziale Verantwortung zu übertragen - selbstverständlich in seiner Eigenschaft als Leviathan, also untrennbar vermengt und verbunden mit seiner Repressionsfunktion“. Kurz bezeichnet dies als „Wiederverheiratung des Liberalismus mit dem industriekapitalistisch geläuterten ehemals absolutistischen Apparat und seinen konservativen Repräsentanten“. Diese „Verschmelzung“ fand zwar „in allen wichtigen Ländern Europas“ stat, „am meisten aber in Deutschland, wo die verspätete Konstitution des bürgerlichen Nationalstaats ja ‚von oben’, also formell durch die alte dynastische Macht selbst vollzogen worden war. Das [[Wilhelminismus|Wilhelminische deutsche Kaiserreich]] mauserte sich daher zur Avantgarde in der neuen kapitalistischen Sicht des Staates. Der Leviathan sollte künftig Krisen verhindern und die [[Helot]]en des Kapitals einigermaßen sozial befrieden“. |
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; Diktatur und Kapitalismus |
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Die „blanke Naturgesetzlichkeit des Marktes“, der man „insgeheim nicht mehr völlig vertrauen mochte“, sollte durch „staatlich gemanagtes Sozialwesen“ ergänzt werden. In der Sprache [[Bismarck]]s sah man sich genötigt, „dem Staate ein paar Tropfen socialen Oeles im Rezepte beizusetzen“. Kurz zufolge entstand so ein neuer „Paternalismus“, der nicht mehr die Rolle eines Leviathans spielte, sondern „nun als ‚Vater Staat’zu firmieren“ begann. Bismarck fuhr „eine klassische Doppelstrategie: Parallel zum Verbotsdruck nach alter leviathanischer Manier machte seine Regierung in einer ‚klassisch’ gewordenen Weise mit den [[Paternalismus|paternalistischen]] sozialstaatlichen Überlegungen des Liberalkonservatismus ernst und brachte eine Art ‚[[weiße Revolution]]’ von oben in der [[Sozialgesetzgebung]] hervor, die zum Prototyp des modernen [[Wohlfahrtsstaat]]es im 20. Jahrhundert werden sollte“. |
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[[Datei:Auschwitz gate june2005.jpg|mini|„Arbeit macht frei“ – menschenverachtendes Motto am Eingangstor des [[KZ Auschwitz-Birkenau|KZ Auschwitz]] – für Kurz die Verkörperung der nicht mehr zu überbietenden äußersten Konsequenz der „liberalen Ideologie“]] |
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Bismarck wurde bei seiner Sozialgesetzgebung nach Ansicht Kurz’ „selbstverständlich weniger von philanthropischen Erwägungen als vielmehr von machtpolitischem Kalkül geleitet. Schon 1880 hatte er festgestellt, seine geplante Sozialgesetzgebung solle ‚in der großen Masse der Besitzlosen die konservative Gesinnung erzeugen, welche das Gefühl der Pensionsberechtigung mit sich bringt’“. Dabei löste aber „die Bismarcksche Sozialgesetzgebung alle Ansätze einer selbstbestimmten und emanzipatorisch selbstverwalteten ‚gegenseitigen Hilfe’ der Lohnarbeiter ab“. |
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Kurz bezeichnet es als „Selbstbetrug“ und „Geschichtsklitterung“, wenn die Diktaturen des 20. Jahrhunderts in der „bürgerlichen Erklärungsweise“ als das schlechthin „Andere“ und „Fremde“ behandelt würden, „das aus den Tiefen der Geschichte emporgestiegen ist und die dunkle, antizivilisatorische Seite des Menschen überhaupt repräsentiert“. Bei einer Betrachtung der gesamten Modernisierungsgeschichte liege es Kurz zufolge nahe, „Kapitalismus, Liberalismus und Marktwirtschaftsdemokratie nicht als übergreifendes Positivum zu verstehen“, sondern als „negative und repressive Zwangsvergesellschaftung durch die monströse ‚schöne Maschine’ der ‚Verwertung des Werts’“. |
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Die Diktaturen des 20. Jahrhunderts wurzeln für Kurz in der kapitalistischen Produktionsweise und seien Erscheinungsformen des liberalen Kapitalismus. Er behauptet weiter: |
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Kurz bezweifelt die Wirksamkeit der Anfänge des modernen Sozialstaats, „zumindest wenn man Maßstäbe einer ernsthaften Besserstellung der ‘arbeitenden Armen’anlegt“. Es sei „lediglich der Schritt vom beispiellosen Massenelend zu einer ‚normalisierten’ Massenarmut […] ‚gelungen’“. |
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: „Aus dieser negativen, kritischen Perspektive kann besonders [[KZ Auschwitz-Birkenau|Auschwitz]] nur als die nicht mehr zu überbietende äußerste Konsequenz der liberalen Ideologie in der Tradition von Hobbes, Mandeville, de Sade, Bentham, Malthus u. Co. verstanden werden“, |
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====Gründerschwindel und Große Depression==== |
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deren „Naturalisierung und Biologisierung des Sozialen“ eine „historische Schicht von Auschwitz“ darstelle. |
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Die „staatsinterventionistische Wende der kapitalistischen Eliten nach 1870“ hatte für Kurz eine wesentliche Ursache in ihrer „tiefsitzenden Furcht vor Verelendung und Aufstand einer Bevölkerung, die blinden Wachstums- und Krisenzyklen ausgeliefert wurde“. Nach 1850 hatte v.a. im Deutschen Reich ein Aktienboom eingesetzt. Dieser erreichte in der sog. [[Gründerzeit]] (1871 - 73) seinen Höhepunkt. „Die immer hektischer und unseriöser werdenden Aktiengesellschaften schossen wie die Pilze aus dem Boden“. Die Eisenbahn- und Immobilien[[Spekulation (Wirtschaft)|spekulation]] nahm absurde Dimensionen an. „Als Folge stieg die Wohnungsnot in Städten wie Berlin dramatisch an; die Kluft zwischen obszönem Spekulationsreichtum und wieder zunehmender Massenarmut wurde immer größer. Die „spekulative Mentalität [ging] quer durch alle Schichten, auch wenn sie insgesamt nur jenen kleinen Teil der Bevölkerung erfassen konnte, der überhaupt über liquide Mittel verfügte“. Die „kleinen Leute“ trugen „ihr Erspartes zu den überall aufkommenden Börsen“. |
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In den Diktaturen des 20. Jahrhunderts habe sich „nur der liberale Terror des Frühkapitalismus auf höherer Stufenleiter der Entwicklung und mit verschobenen ideologischen Legitimationsmustern“ wiederholt. |
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„Es kam, was kommen mußte, nämlich der große ‚[[Gründerkrach]]’ von 1873, eingeleitet durch den Zusammenbruch der Wiener Kreditanstalt“. „Zahlreiche Familien wurden vollständig ruiniert, darunter auch solche der alteingesessenen ‚guten Gesellschaft’“. Rund „ein Drittel des deutschen Nationalvermögens [war] verlorengegangen. In Berlin standen Zehntausende Wohnungen leer, und unzählige Hausbesitzer konnten ihre Bankkredite nicht mehr zurückzahlen“. Zahlreiche Banken gingen pleite. Der Zusammenbruch war breiter als in allen früheren Finanzkrisen, aber er schnitt noch nicht so tief in das gesellschaftliche Leben ein, „weil Deutschland und Österreich als Zentren des europaweiten Bebens ja noch immer zu großen Teilen agrarisch strukturiert waren und der Industriekapitalismus erst einen Teil des gesellschaftlichen Territoriums besetzt hatte“. In ganz Europa ging die stürmische Industrialisierung „für nahezu zwei Jahrzehnte bis Anfang der 90er Jahre in eine schleichende Stagnation über, die später als ‚[[Große Depression]]’ […] bezeichnet wurde“. |
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; ''[[Staatskapitalismus]]'' |
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==== Das Gesetz der zunehmenden Staatstätigkeit==== |
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In der Geschichte der [[Sowjetunion]] erkennt Kurz einen „Prototyp(en) der staatsökonomischen ‚nachholenden Modernisierung’ im 20. Jahrhundert“. Die Sowjetunion habe seiner Ansicht nach in einer doppelten „historischen Zwangslage“ gesteckt: |
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* Konfrontiert mit der „Präsenz des kapitalistisch vorausgeeilten Westens“ habe sie keinen grundsätzlich anderen Entwicklungspfad mehr einschlagen können; vielmehr sei auch das ‚Weltbewußtsein’ bereits ein kapitalistisch geformtes gewesen. |
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Der „Gründerkrach“ veranlasste nach Meinung von Kurz „immer mehr kapitalistische Wirtschaftssubjekte nach dem Staat zu rufen“. Es folgte eine Rückkehr zum [[Schutzzoll]]-System und zu einer zunehmenden Staatstätigkeit. Diese ergab sich „nicht bloß aus dem wachsenden Rechts-, Verwaltungs- und Exekutivbedarf“. Vielmehr fordert für Kurz der industrielle Kapitalismus generell „logistische Strukturen, die nicht selbst wieder kapitalistisch nach den Gesetzen rein betriebswirtschaftlicher Rationalität betrieben werden können, weil sie sonst ihre Aufgabe als gesamtgesellschaftliche Voraussetzung der Produktionsweise als solcher nicht mehr erfüllen würden“. Die Infrastruktur der Marktwirtschaft sei „etwas anderes als die Marktwirtschaft selbst, weil sie weder partikular als isoliertes Unternehmen darstellbar ist noch den konjunkturellen Schwankungen und Kapitalbewegungen unterworfen werden darf, sondern flächendeckend, permanent und ohne Fluktuationen zur Verfügung stehen muss“. Da der Staat „im liberalkonservativen Verständnis selber kein gewinnproduzierender ‚Unternehmer‘ mehr sein konnte, sondern diese Funktion der ‚schönen Maschine’ den Privaten überlassen hatte, entstand logischerweise ein ‚Finanzierungsproblem’ seiner wachsenden Aufgaben in der industriellen Marktwirtschaft“. Unter den Bedingungen der Industrialisierung wuchs der Geldbedarf des Staates, wobei als einzige Möglichkeit die Besteuerung von „Markteinkommen“ blieb, „um Investitionen und Konsum als Motoren des Wachstums nicht zu ruinieren“. So blieb „dem neu entstandenen industriekapitalistischen Regulationsstaat nichts anderes übrig, als sich über seine regulären Einnahmen hinaus zu verschulden“. Diese Tatsache formulierte der zeitgenössische Ökonom [[Adolph Wagner]] als das [[Wagnersches Gesetz|Gesetz der zunehmenden Staatstätigkeit]]. |
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* Sie sei in einer von den Standards der vom zeitgenössischen Kapitalismus bestimmten Welt gezwungen gewesen, direkt auf dem Niveau des 20. Jahrhunderts einzusteigen. |
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Kurz ist daher der Meinung, dass die „Verbrechen des [[Kommunismus]]“ nichts anderes gewesen seien als „die zeitlich komprimierte Wiederholung der frühkapitalistischen Schrecken“. Der Hungertod von Millionen in den frühen 1930er Jahren sei die Folge einer rigiden Industrialisierungspolitik zum gewaltsamen Aufbau von (staats)kapitalistischen Industriesystemen gewesen, mit deren Hilfe man sich mit frühkapitalistischen Methoden an die Spitze der Weltentwicklung setzen wollte. |
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====Sozialistischer Absolutismus==== |
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Kurz konstatiert allerdings in der „sowjetischen‚ nachholenden Modernisierung’“, wie auch in der Ideologie der „Arbeiterbewegung und der Linken überhaupt“ ein bis heute „uneingelöstes Moment“: den „Traum“ von der „freien und bewussten [[Selbstorganisation]]“, der sich – wenn auch nur kurzzeitig – insbesondere im Begriff des „[[Sowjet]]“ manifestiert hätte, bevor diese zu „bloßen Attrappen“ degeneriert seien. |
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In dieser Situation der „Entfesselung des industriellen Schneeballsystems“ „wuchs die Sozialdemokratie in der Epoche der nationalen Imperien zur gesellschaftlichen Kraft an“. Sie entfaltete für Kurz den ihr eigenen inneren Widerspruch: „nämlich einerseits abstrakt die soziale Emanzipation gegen die ‚Ungerechtigkeiten’ des Kapitalismus zu propagieren und andererseits diese Emanzipation in den blind übernommenen kapitalistischen Kategorien selbst vollziehen zu wollen“. Ein wichtiger Grund ist für Kurz die Herkunft der Sozialdemokratie aus dem Liberalismus. Von großer Bedeutung sei aber auch der „qualitative Wandel in der Massenbewegung“ gewesen. Die liberalen Arbeitervereine, aus denen die Sozialdemokratie entstammt, hätten sich nicht mehr „gegen die kapitalistischen Zumutungen als solche gerichtet“, wie dies noch in den Massenrevolten in den Anfängen der Industrialisierung gewesen sei. Kurz bezeichnet die Arbeitervereine daher „als Hilfstruppen der bürgerlichen Modernisierer gegen den Absolutismus“. Als die Sozialdemokratie in der Zeit von 1850 bis zum l. Weltkrieg allmählich eine Massenbasis gewann, konnten „die Arbeiterpopulationen, die nun bereits in zweiter oder dritter Generation im Fabriksystem arbeiteten, keine kollektive Erinnerung an relativ bessere vorkapitalistische bzw. vorindustrielle Zustände mehr imaginativ besetzen“. Sie hatten „sich weitgehend an die Fabrikdisziplin gewöhnt“, was sich selbst „bis in die Organisation der ‚Freizeit’ hinein“ ausgewirkt habe. Kurz bezeichnet die Arbeiterschaft daher als „vom Kapitalismus ‚verhausschweinte’ Arbeiterklasse“. Der „als Fernziel angestrebte sozialistische Staat“, der ein „vermeintlich ganz anderer“ sein sollte, rückte dabei in „eine ferne und unwirkliche Zukunft“. |
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; Keynes und Keynesianismus |
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[[bild:SMS_Bluecher.jpg|SMS Blücher|280px|thumb|Flottenrüstung als „zentraler Moment des neuen Imperialismus“ - Die [[SMS Blücher (1908)|SMS Blücher]] auf einer zeitgenössischen Postkarte]] |
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Nach der Weltwirtschaftskrise war nach Kurz der Glaube an die „Doktrin der ‚unsichtbaren Hand’“ verloren gegangen, was sich im Übergang „zu einer allgemeinen staatsökonomischen Regulation, zum Staat als wesentlichem Wirtschaftssubjekt“ ausgedrückt habe. Für die USA habe der [[New Deal]] [[Franklin D. Roosevelt|Roosevelts]] den tiefsten Einschnitt in ihrer Wirtschaftsgeschichte dargestellt. Die staatsökonomischen Ansätze der Krisenbewältigung seien dabei Hand in Hand mit der Schaffung der bislang unzureichenden logistischen Rahmenbedingungen für die Zweite industrielle Revolution gegangen. In Nazi-Deutschland seien die staatsökonomischen Eingriffe „weitaus stärker als im New Deal vorangetrieben“ worden. Der eigentlich „fordistische Durchbruch“ wurde so für Kurz mit den „Finanzmethoden der Kriegswirtschaft“ erreicht, in dem die absolute Schranke des „kapitalistischen Selbstwiderspruch“ noch einmal hinausgeschoben hätte werden können. |
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Parallel zu diesen Entwicklungen habe der britische Ökonom [[John Maynard Keynes]] „die dazugehörige Theorie des ‚[[Deficit spending]]’“ entwickelt. Keynes hielt das bis dahin gültige [[Saysches Theorem|Saysche Theorem]] für im Grundsatz falsch. Kurz bemerkt kritisch, dass Keynes selbst zugegeben habe, dass es sich bei dessen Theorie „im Grunde nur um einen ‚Aufschub‘ der absoluten Grenze kapitalistischer Produktion handeln kann. Ebenso unfreiwillig enthüllt er die Absurdität der dem Kapitalverhältnis inhärenten Logik“. Die erste Runde des ‚Keynesianismus‘ sei in einen neuen Rüstungswettlauf gemündet: wieder einmal sei der Krieg der Vater aller Dinge, Hitler gewissermaßen der „Exekutor dieser mörderischen ‚List‘“ des Aufschubs gewesen. |
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====Panzerkreuzer und Raubnationalismus==== |
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Als Ergebnis dieser Entwicklung sieht Kurz den [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkrieg]], über den er das folgende Resümee zieht: |
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Das neue Verhältnis von Staatsapparat und Ökonomie konnte für Kurz „nicht auf die inneren Verhältnisse der entstandenen Nationalökonomien beschränkt bleiben“. Es entstand ein „ökonomischer Konkurrenzkampf der Nationen“, der „die staatliche Außenpolitik zu einem ökonomischen Parameter“ machte. |
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: „Dieser neuerliche Triumph der ‚schönen Maschine‘ kostete insgesamt 55 Millionen Menschen das Leben, große Teile Europas und Asiens wurden verwüstet. Aber merkwürdig: Die abermaligen und ungeheuerlichen ‚Kosten der Modernisierung‘, die quantitativ wie qualitativ allen bisherigen Terror und Horror des Kapitalismus übertrafen, riefen kein geistiges Echo der tiefen Erschütterung mehr hervor […] Es war, als liefe das bis ins Mark demoralisierte Menschenmaterial geradezu gleichgültig und bereits roboterhaft kalt durch eine Feuerwand in den kommerziellen, endgültig entgeistigten Stumpfsinn des kommenden trostlosen Konsumparadieses hinein.“ |
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Der Staat wurde „zum politisch-ökonomischen Großsubjekt der Konkurrenz nach außen“ - in der Sprache von Marx zu einem „ideellen Gesamtkapitalisten“. In ihm fielen „die Momente der politischen Souveränität und der ökonomischen Konkurrenz“ nahezu zusammen. Er fungierte als „Hilfs-, Garantie- und Durchsetzungsmacht“ „seiner Unternehmen“. Die zwischenstaatlichen und außenwirtschaftlichen Verhältnisse wurden „zur ‚freien Wildbahn’ der leviathanischen Raubmonster“, der Krieg zur „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ([[Carl von Clausewitz]]). |
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In der Nachkriegszeit sei es dann darum gegangen, „die kriegswirtschaftlichen Strukturen […] in ‚zivilökonomische’ Regulationsformen zu überführen und zu einem dauerhaften System auszubauen“. |
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„Die imperiale Rivalität der europäischen Großmächte forderte zu einem neuen Rüstungswettlauf heraus, der alle früheren militärischen Anstrengungen bei weitem übertreffen sollte“. Die „forcierte Rüstung fand nun auf der technologischen Höhe des Industriekapitalismus statt, der neue oder ‚verbesserte’ Vernichtungstechniken und Waffensysteme hervorbrachte“. |
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[[Bild:AlfredNobel2.jpg|140px|thumb|Alfred Nobel - Erfinder des Dynamits und Stifter des Friedensnobelpreises]] |
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Kurz erwähnt die Erfindung des Dynamits durch den schwedischen Chemiker [[Alfred Nobel]]. Die „zutiefst symbolische Tatsache, dass der renommierteste internationale Wissenschafts- und sogar der ‚[[Friedensnobelpreis|Friedenspreis]]’, der auf der ganzen Welt mit Ehrfurcht betrachtet wird, vom größten Sprengstoffkonzern gestiftet und nach einem Rüstungsindustriellen benannt ist“, ist für Kurz ein Beispiel für den „Zynismus der kapitalistischen Modernisierungszivilisation“. Kurz ist der Ansicht, dass der „im wahrsten Sinne des Wortes ‚irre’ Aufwand“ für die Aufrüstung und Kolonialisierung sich nicht „gelohnt“ habe – ein Faktum, das „gerade die marxistische Imperialismustheorie niemals wahrhaben“ wollte. Die „koloniale Expansion ebenso wie die maritime Rüstungspolitik“ seien nur als irrationale Fortsetzung der „wahnhaften“ Struktur der „abstrakten Arbeit“ auf dem Gebiet der Außenpolitik zu begreifen. |
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; Nachkriegszeit |
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Das Faktum, dass „am Ende nicht einmal ein gesamtkapitalistisch profitables Resultat herauskam“, erscheine dadurch, „dass im Namen der räuberischen kolonialen Eroberungspolitik Millionen von Menschen umgebracht, verstümmelt und erniedrigt, ganze Länder verwüstet und durch Raubbau ruiniert wurden“ , „nur in einem um so grelleren Licht“. |
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Nach dem Zweiten Weltkrieg schien – so Kurz – der Kapitalismus wie „ein Phönix aus der Asche“ emporzusteigen. Es habe den Anschein gehabt, dass tatsächlich ein ‚[[goldenes Zeitalter]]’ heranbrechen werde. Diese Nachkriegsprosperität sei eine mehr oder weniger globale Erscheinung gewesen. In Deutschland sei sogar das „Zauberwort“ des [[Wirtschaftswunder]]s geprägt worden – wobei der Begriff nach Kurz’ Ansicht bereits das Exzeptionelle dieser Entwicklung ausdrücke. |
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Kurz bezeichnet den Versuch, Kolonialismus und Imperialismus „als bloßen ‚historischen Irrtum’, als eine dem Kapitalismus äußerliche und eigentlich fremde Erscheinung und womöglich als fatales Residuum absolutistischer und vordemokratischer Denkweisen“ zu begreifen, als „verharmlosend“ und „apologetisch“. Dies zeige sich empirirsch schon daran, dass „die postkoloniale formal gleichberechtigte Teilnahme der späteren ‚Dritte Welt’-Regimes am Weltmarkt den Prozess der |
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Verelendung und Erniedrigung für die Mehrheit der Menschen in diesen Ländern nicht etwa gestoppt, sondern quantitativ und strukturell sogar noch forciert“ habe. |
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Bis ca. 1950 sei der Markt nicht einheitlich kapitalistisch gewesen. Erst der „Nachkriegs-Fordismus“ habe eine „flächendeckende Erzeugung und Distribution aller Gebrauchsgüter durch das fordistische Industriekapital und seinen ‚Arbeitsstaat’“ geschaffen und brachte die „traditionellen Sektoren“ (Subsistenzproduktion, Familienproduktion, Landwirtschaft) fast völlig zum Verschwinden. Dies bedeute, dass die Bevölkerung insgesamt „in einem höheren Maße der kapitalistischen Gesellschaftsmaschine ausgeliefert“ gewesen sei. |
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Für Kurz ist der „irrationale Raubnationalismus“ eng mit der „inneren Logik des Kapitals“ verknüpft. Der Austausch auf dem Markt unterscheide sich zwar seiner Natur nach vom gewaltsamen Raub, da er ein „Rechtsverhältnis und die Äquivalenz der getauschten Güter“ voraussetze. Der „Zweck der Veranstaltung“ sei aber - im Unterschied zu vormodernen Märkten – „eben nicht der Austausch von beiderseits benötigten Gütern“, sondern „der irrationale Selbstzweck der ‚schönen Maschine’, unaufhörlich Geld (ökonomischen Wert, Quanten ‚abstrakter Arbeit’) aufzuhäufen“. Die Marktwirtschaft sei „nur eine sekundäre Funktionssphäre der kapitalistischen Selbstzweck-Produktion“. Dieser Selbstzweck sei zwar nicht identisch mit einfachem Raub, seine Gewaltätigkeit zeige sich aber in dem „mit äußerster Brutalität durchgesetzten ‚stummen Zwang der Verhältnisse’ (Marx)“ und in den „Apparaten der bürokratischen Menschenverwaltung und der offenen Repression“, die „bereitstehen, um sofort jeden Versuch des Menschenmaterials im Keim zu ersticken, sich den ‚Mühlen des Teufels’ zu entziehen“. Auch „direkt mit Gewalt erzwungene Sklavenarbeit für den Weltmarkt“ gehöre „zur Aufstiegsgeschichte des Kapitalismus“ und „sogar der vermeintlich freie Austausch auf dem Markt kann mit vorgehaltener Waffe erzwungen werden, wenn sich die ‚Tauschpartner’ nicht zu kapitalistischen Formen des Austauschs und zu den Konditionen der westlichen Länder bequemen wollen“. |
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; ''Kapitalistischer Totalitarismus'' und ''Mobilmachung'' |
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Der Hintergrund „dieses räuberischen und gewaltsames Element“ sei dass der „Standpunkt des Gesamtkapitals“ „von keiner Instanz praktisch eingenommen wird; auf dieser Ebene findet auch keine praktisch relevante Kostenrechnung statt, denn diese ist auf die partikulare betriebswirtschaftliche Ebene beschränkt, und die Rechnungsführung des Staates kann ebenfalls keine gesamtkapitalistische sein, sondern beschränkt sich auf seine eigenen Einnahmen und Ausgaben“. |
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Kurz sieht die zweite industrielle Revolution wesentlich durch den Begriff des „[[Totalitarismus|Totalitären]]“ gekennzeichnet. Er wirft den gängigen Totalitarismus-Theorien vor, dass in ihnen der Begriff „totalitär“ nur im „staatlich-politischen“ Sinne definiert werde, „während der ökonomische völlig ausgeblendet“ bliebe, obwohl der politische Totalitarismus eine ökonomische Grundlage habe. So seien „sowohl die stalinistische als auch die Nazi-Diktatur ebenso wie der italienische Faschismus auf dem Boden des warenproduzierenden Systems entstanden“. |
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In den Nachkriegsdemokratien zeige sich eine „totale [[Mobilmachung]]“ in der Aufforderung zu sich „ständig steigernden, immer unsinnigeren Warenkonsum“, „Leistung“ und „Konkurrenz“, von der vor allem die Frauen durch die „Industrialisierung der Hausarbeit“ betroffen seien, die durch den nötigen Beruf zur Deckung der Kosten für die Haushaltselektronik die Doppelbelastung der Frau verursacht habe. Weiterhin empfindet Kurz den massenhaften Autoverkehr als „totale Automobilmachung“, als kriegsähnlichen Zustand, der im Laufe des 20. Jahrhunderts etwa 17 Millionen Tote gefordert habe. Diese „[[Menschenopfer]]“ würden als normal, notwendig und schicksalhaft dargestellt. |
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==== Die Rolle der Arbeiterbewegung ==== |
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Kurz wirft auch der [[Arbeiterbewegung]] vor, dass sie „in kapitalistischen Erwerbskategorien“ gedacht habe und auf die „bürgerlichen Formen der Nation und der Demokratie fixiert“ gewesen sei, „womit sie schon den Keim des Sozialimperialismus in sich“ getragen habe. Die deutsche Sozialdemokratie habe zwar im Reichstag regelmäßig gegen das Budget für den Flottenbau gestimmt, doch rührte dies hauptsächlich daher, dass „die sozialistischen und gewerkschaftlichen Apparate von den imperialistischen Eliten weiterhin aus der staatlichen Mitverwaltung ausgegrenzt wurden, und weniger aus einer wirklich prinzipiellen Gegnerschaft“. Die Arbeiterbewegung habe den „Hurra-Nationalismus“ „sozusagen mit der linksliberalen Muttermilch aufgesogen“. Im [[Deutsch-Französischer Krieg|Deutsch-Französischen Krieg]] von 1870/71 sei „schon nahezu ein halbes Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg deutlich geworden, wo die Sozialisten beiderseits des Rheins wirklich standen, nämlich auf der Seite ihres jeweiligen kapitalistischen ‚Vaterlandes’- bereit zum Brudermord“. |
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Kurz glaubt, dass die Vorstellung, dass mit dem Kapitalismus immer mehr Freizeit und Spaß für den Menschen einhergehen werde, im Hinblick auf den Zusammenhang mit einer „Arbeitszeitverkürzung“ zu relativieren sei. Diese beschränke sich zum ersten nur auf wenige reiche kapitalistische Zentren, vor allem die Länder des kontinentalen Westeuropas. Zum zweiten sei die Arbeitszeitverkürzung nur eine temporäre Erscheinung in der Phase schnellen Wirtschaftswachstums gewesen. Zum dritten würde die Zeitverkürzung durch eine übermäßige Steigerung der Arbeitsbelastung für den einzelnen überkompensiert. Auf der anderen Seite sei [[Freizeit]] nur „scheinbar frei disponible Zeit“, denn im „Freizeitkonsum“ – im [[Massentourismus]] etwa würde die „Mobilmachung“ auch auf die freie Zeit ausgedehnt – setze sich die „kapitalistische Konditionierung“ fort, so dass es letztlich keinen sozialen Raum mehr außerhalb dieser gebe. |
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Kurz bezeichnet es als „Urformel aller linken ‚Realpolitiker’ bis heute, dass zu den an sich und eigentlich ‚verdammenswerten’ Scheußlichkeiten des Kapitalismus keine ‚rein verneinende Haltung’ eingenommen werden könne, und so müsse man leider das genaue Gegenteil von dem praktisch tun, was man theoretisch (angeblich) für richtig halte“. |
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Die „offiziell ‚antimilitaristische’ Sozialdemokratie“ sei in allen kapitalistischen Ländern hinter den Kulissen schon Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg integraler Bestandteil eines |
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von der Basis getragenenen „‚volkstümlichen’ Militarismus“ gewesen. „Die preußische Tüchtigkeitsideologie mit ihrer Verherrlichung der sogenannten Sekundärtugenden wie Disziplin, Pünktlichkeit usw. als moralische Werte ‚an sich’ war nicht nur in den Massen der Lohnarbeiter nach einer langen Epoche der Eintrichterung und Gehirnwäsche durch Fabriksystem und ‚Volkspädagogik’ tief verwurzelt, sondern schloß auch wie selbstverständlich die Armee als ‚Schule der Nation’ein“. |
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; Totalitäre Demokratie |
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Auch hinsichtlich des Kolonialismus sei „das leviathanische Erbe des Liberalismus“ immer stärker zum Durchbruch gekommen. Die offizielle sozialistische Ablehnungspolitik habe sich „mehr aus dem Frust über die Ausgrenzung aus der Herrschaft und ihrer Verwaltung als aus einer prinzipiellen Gegnerschaft“ gespeist. „Hinter der Fassade des offiziellen Antikolonialismus kamen daher in allen wichtigen sozialistischen Parteien Europas immer stärkere Signale einer Annäherung des Interesses an die imperialistische Expansion, die von einer stärker werdenden Minderheit bei den internationalen Sozialistenkongressen offen befürwortet wurde“. |
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Kurz ist der Ansicht, dass auch die [[Demokratie]] ein totalitäres Element enthalte. So habe bereits [[Erich Ludendorff]] erkannt, dass „das Menschenmaterial des Verwertungsprozesses in keiner anderen Staatsform so widerspruchslos und kostengünstig an der Leine geführt werden kann wie in der Demokratie“.<ref>Vgl. [[Erich Ludendorff]]: ''Der totale Krieg''. München 1935.</ref> Der Grund sei, dass das gesellschaftliche Leben letzten Endes nicht durch bewusste gemeinsame Entscheidung der demokratischen Gesellschaftsmitglieder gesteuert werde, da die demokratischen Prozeduren von freier Meinungsäußerung, politischer Willensbildung und freien Wahlen den Wirkungen der ‚Gesellschaftsphysik’ von anonymen Märkten nur nachgeschaltet seien: alle demokratischen Entscheidungen seien immer schon im Voraus durch die Automatik des ökonomischen, naturgesetzhaft verstandenen Systems festgelegt. |
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„Große Teile der Sozialdemokratie betrachteten den Kolonialismus nicht als grundsätzlich verdammenswert, sondern eher im Gegenteil als Moment jener ‚zivilisatorischen Mission’ des Kapitalismus, von der Marx in ganz anderem Zusammenhang gesprochen hatte“. |
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Hinter den drei staatlichen Gewalten [[Legislative]], [[Exekutive]] und [[Judikative]] stehe nach Kurz also immer auch die strukturelle (vierte) Gewalt eines totalitären Marktsystems, welches seit [[Jean-Jacques Rousseau|Rousseau]] unter dem Namen des abstrakten „[[Gemeinwohl]]s“ firmiere, und auf die sich die postulierte ‚[[Volkssouveränität]]’ nicht erstrecke. Ein letzter totalitärer Charakter zeige sich ebenfalls in der totalen [[Bürokratie]] der Menschenverwaltung in den Demokratien. |
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=== Kapitel 5: Die Biologisierung der Weltgesellschaft === |
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[[Image:Hw-darwin.jpg|140px|thumb|Darwin leitete die „Biologisierung der Weltgesellschaft“ ein]] |
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; Weltzerstörung und Bewusstseinskrise |
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Eine zentrale Entwicklung im 19. Jh. ist für Kurz der Darwinismus und die daraus folgende „Biologisierung der Weltgesellschaft“. Dabei sei [[Charles Darwin]] „biologistische Welterklärung“ den typischen Charakter der Leistungen der modernen Naturwissenschaft: „Eine wirkliche große Entdeckung verschmolz vollständig mit einem irrationalen ideologischen Impuls und unreflektierten Interessen des kapitalistischen Fetisch-Systems, um sich schließlich mit einer enormen Zerstörungskraft aufzuladen“. |
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Am Wendepunkt der wirtschaftlichen Prosperität Anfang der 1970er Jahre wurden laut Kurz deren Folgen sichtbar: die umfassende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Er führt diese Entwicklung auf die Logik der „abstrakten Arbeit“ zurück, die ihre Kosten auf die Gesamtgesellschaft, die Zukunft und eben auch auf die Natur abwälze. Letzteres sei bereits dem jungen [[Friedrich Engels]] in seiner Analyse „[[Die Lage der arbeitenden Klasse in England]]“<ref name="Engels-Lage">[[Friedrich Engels]]: [http://www.mlwerke.de/me/me02/me02_225.htm Die Lage der arbeitenden Klasse in England], Leipzig 1845.</ref> aufgefallen. Jedoch erst mit der kapitalistischen „Totalmobilmachung“ sei die Natur nun der abstrakten betriebswirtschaftlichen Vernutzungslogik vollständig ausgeliefert gewesen. |
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Im Jahr 1972 seien erstmals die „[[Grenzen des Wachstums]]“ nach einer gleichnamigen Studie des [[Club of Rome]] weltweit debattiert worden, in der das Verhältnis von [[Wachstumszwang]] und natürlichen Rohstoffen zur Sprache gekommen sei. Kurz kritisiert an dieser Studie, dass darin „der destruktive Charakter betriebswirtschaftlicher Rationalität bestenfalls indirekt“, als „bedauerliche Nebenwirkung der ‚Industriegesellschaft’“ vorkomme. Kurz meint zu erkennen, dass die offizielle Gesellschaft die Debatte über die Grenzen und destruktiven ökologischen Folgen des Wachstums nur aufnahm, um das Problem besser verdrängen zu können: die eigentliche Ursache der ökologischen Katastrophe sei folgenlos zerredet, oder in die unverbindliche Propaganda einer „Versöhnung von Ökonomie und Ökologie“ überführt worden. |
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==== Der Kampf ums Dasein ==== |
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Erst die revoltierende [[Studentenbewegung]] habe wieder von einer Welt träumen können, die „vom kapitalistischen Selbstzweck der ‚schönen Maschine’ erlöst“ sei und die Produktionstätigkeit auf vielleicht zwei oder drei Stunden am Tag reduzieren würde. |
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Kurz sieht Darwin in der Tradition der Aufklärung und ihrem Programm der „Vernaturwissenschaftlichung“ und „Entzauberung“ der Welt. Dieses war für Kurz „in Wahrheit alles andere als befreiend“, weil sie längst an die Stelle des christlichen Gottes die Selbstzweckhaftigkeit des Kapitals gesetzt habe, was er als „Vergöttlichung der schönen Maschine“ bezeichnet, die in einem „säkularisierten quasi-religiösen Bewußtsein“ verehrt wurde. |
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In diesem Prozess der Entzauberung bestand nach Meinung von Kurz ein „Widerspruch zwischen naturwissenschaftlicher Freigeisterei und konservativ-klerikaler Gesinnung“, der aber bloß ein „Familienzwist innerhalb des Liberalismus und seiner herrschenden Eliten“ gewesen sei. Die Freigeister hatten keine echte Aufklärung im Sinne gehabt. Sie „wollten entweder die naturwissenschaftliche Scheinaufhebung der Religion für die Eliten reservieren, während ‚das Volk‘ aus disziplinarischen Gründen weiterhin mit christlicher Glaubensdemut gefüttert werden sollte“. Oder die Ersetzung der Religion durch die Naturwissenschaft sollte „die rohe Form einer äußerlichen Gängelung der Massen durch die raffiniertere Form einer massenhaften Selbst-Disziplinierung ablösen, nunmehr nach angeblich ‚naturwissenschaftlichen’ und sogar biologischen Gesetzmäßigkeiten“. |
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: „Erstmals seit vielen Jahrzehnten gab es wieder so etwas wie den Versuch, eine authentische Reformulierung der Marxschen fundamentalen Kapitalismuskritik zu wagen. Der [[Pariser Mai]] schien das System in seinen Grundfesten zu erschüttern“. |
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In letzterem Sinne sei auch die Lehre Darwinis zu verstehen. Darwin glaubte, den Mechanismus für die Evolution der Arten darin gefunden zu haben, „dass die jeweils ‚zu große’ Anzahl der Lebewesen einer Art einen ‚Kampf ums Dasein’ führt, aus dem nur die Lebenstüchtigsten als Sieger hervorgehen und somit durch ‚Auslese’ (Selektion) eine allmähliche Veränderung und Höherentwicklung bewirken“. Der Schritt, diese Lehre „auf die Gesellschaft zurückzuprojizieren und darin eine wunderbare ‚naturwissenschaftliche’ Rechtfertigung für die kapitalistische Konkurrenz und ihre existenz- und lebensvernichtende Wirkung zu erkennen“ habe keiner großen theoretischen Anstrengung“ mehr bedurft. Dieser – bereits bei Darwin grundgelegte - „[[Sozialdarwinismus]]“ entwickelte sich dann sehr bald zu einem Instrument, das von „imperialistischen Ideologen wie [[Friedrich Naumann]], [[Walter Rathenau]] oder [[Max Weber]]“ benutzt wurde, um „die deutschen Weltmachtansprüche“ zu formulieren. |
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Kurz zieht allerdings die Bilanz, dass die „[[68er-Bewegung|Bewegung von 1968]] im Sinne der sozialen Emanzipation restlos gescheitert“ sei. Die radikale Kritik an Warenform und ‚abstrakter Arbeit’ sei schließlich nicht weiter verfolgt worden, stattdessen seien die Studenten wie schon zuvor die Arbeiterbewegung „auf die schiefe Bahn der ‚Politik’“ geraten. |
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[[Image:Eugenics congress logo.png|240px|thumb|<small>Logo des 1921 unter der Honorarpräsidenschaft von [[Alexander Graham Bell]] in New York stattfindenen Eugenik-Kongresses, der das Ziel verfolgte, Gesetze zur Verhinderung der Ausweitung von „defekten Rassen“ einzuführen</small>]] |
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==== Menschenzucht und Fortpflanzungshygiene==== |
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==== Dritte industrielle Revolution ==== |
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Für Kurz verbinden sich Darwinismus und Kapitalismus in dem Gedanken der „biologischen |
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Die [[Dritte industrielle Revolution]] hat für Kurz ihre technologische Basis in der [[Elektronik]] und den [[Informationswissenschaft]]en. Die mit ihr verbundene [[Automatisierung]] führt seiner Ansicht nach „zu einer qualitativ neuen Stufe der Massenarbeitslosigkeit und damit der Systemkrise“. Die logisch einzig mögliche Verlaufsform der Automatisierung im Kapitalismus sei Massenarbeitslosigkeit. Das Hauptproblem bestehe darin, dass jene Menschen, die nun „überflüssig“ seien, aus dem System des Geldverdienens und der Konkurrenz ausgestoßen würden, obwohl dieses weiterhin ihre unausweichliche Existenzgrundlage bilde. Das „Ende der Arbeitsgesellschaft“ droht Kurz zufolge in einen „wirklichen historischen Systemzusammenbruch“ zu münden, da mit der Arbeit die „Substanz des Kapitals selbst“ auszugehen drohe. |
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[[Sozialtechnologie]]“, einer Methode, „der Natur auf die Sprünge zu helfen und die gesellschaftlich-soziale ‚Zuchtwahl’ bewußt zu beschleunigen und gewissermaßen zu vollstrecken“. Sie habe sich vor dem Hintergrund des Imperialismus zu einer „Flut sozialdarwinistischer Ideen und Organisationen zur Utopie der ‚Menschenzüchtung’ für den kapitalistischen ‚Kampf ums Dasein’ und zwecks Überlebensfähigkeit der eigenen Nation gesteigert“. Diese Bewegungen hatten sich unter dem Namen „[[Eugenik]]“ als „menschenzüchterische Bewegungen für ‚nationale Erbgesundheit’ vor allem in den angelsächsischen Ländern und in Deutschland“ gebildet und „bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Bestand“ gehabt. In den USA habe es z.B. dazu in der Zwischenkriegszeit unter dem Titel „Fitter Families“ sogar Wettbewerbe gegeben; auf Märkten – „wo sonst besonders wohlgeratene Schweine und Kürbisse mit Preisen bedacht wurden“, seien „ Familien mit ausgezeichnetem Erbgut prämiert“ worden. Die „Wissenschaft menschlicher Zuchtwahl [sollte] nach den Prinzipien der wissenschaftlichen Landwirtschaft“ entwickelt werden. |
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Für die Dritte industrielle Revolution waren nach Kurz im Wesentlichen zwei Innovationen maßgebend: die [[Kybernetik]] und die elektronische [[Rechenmaschine]]. |
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Sehr rasch haben sich – so Kurz – „auch die entsprechenden Vorstellungen einer negativen Selektion“ gebildet, wozu bereits Darwin in seinem Buch über die „Abstammung des Menschen“ die Stichworte geliefert habe. Grundlage dieser Vorstellung sei die Auffassung einer biologischen Determination sozial-moralischer Eigenschaften gewesen. Diese führte dazu, dass „die Sieger im erbärmlichen Wettkampf der ökonomischen Konkurrenz sich als die auch biologisch höherwertigen Menschen, geradezu als von der Natur selbst determinierte ‚Übermenschen’ definieren konnten; ein Terminus, den nicht zufällig [[Friedrich Nietzsche|Nietzsche]] in derselben Zeit erfand“. Gemäß dieser Anschauung waren „die ‚Arbeitsscheuen’ und Delinquenten dann auf eine ebenso biologisch prädestinierte Weise grundsätzlich unverbesserlich und durch moralisierende Pädagogik gar nicht zu erreichen; sie konnten nur irgendwie aus der Geschichte ausgeschaltet werden“. |
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Parallel zum Aufstieg der mikroelektronischen Revolution nach dem Zweiten Weltkrieg – besonders seit den Achtzigerjahren – habe sich die „als ‚strukturell’ bezeichnete Massenarbeitslosigkeit“ entwickelt: |
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: „Die Arbeitslosigkeit war insofern eine strukturelle geworden, als sie nicht mehr in Korrespondenz mit dem konjunkturellen Zyklus an- oder abschwoll, sondern unabhängig davon kontinuierlich wuchs“. |
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Der Sozialdarwinismus forderte nun „für die Ausschaltung der ‚biologisch Minderwertigen’ einen bewussten naturwissenschaftlichen Selektionsmechanismus der Gesellschaft ein“. Das betraf zum einen die „Kriminellen“, indem es nun erlaubt war, „die sozialen Wurzeln der Kriminalität wegzulügen“ und sie nicht mehr mit den „kapitalistischen Zumutungen“ in Verbindung zu bringen. Die Kriminalität wurde „jetzt mit naturwissenschaftlicher Weihe bequemerweise als biologische Erbeigenschaft definiert“. So entwickelte sich z.B. die sogenannten „[[Phrenologie]]“, wonach physiognomische Besonderheiten „für charakterliche Eigenschaften, vor allem negative, verantwortlich und überhaupt im menschlichen Hirn soziale Verhaltensweisen lokalisierbar und je nach Ausdehnung messbar seien“. |
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Zum anderen betraf das Problem der biologischen Selektion „alle körperlich oder geistig |
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Behinderten, chronisch Kranken, Verkrüppelten usw., mit einem Wort alle im kapitalistischen |
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Sinne Arbeitsunfähigen“. |
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Die Lösungsversuche des zeitgenössischen Liberalismus zu dieser Problematik hält Kurz für grotesk. Die Argumentation [[Ralf Dahrendorf]]s, eine radikale Absenkung des Niveaus von [[Reallohn|Reallöhnen]] und Sozialleistungen vorzunehmen, hält er nicht nur für einen nicht funktionierenden Ausweg, sondern empfindet selbst das Ansinnen solcher Zumutungen für die Lohnarbeiter als absurd. Die „einzig vernünftige Konsequenz“ bestehe für Kurz darin, im Einklang mit dem technischen Fortschritt „mehr Muße für alle einzuklagen, bei voller Beteiligung aller an den Früchten der ungeheuer angewachsenen Produktivität.“ |
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Der Sozialbiologismus verweist nach Kurz’ Ansicht zum einen „auf den irrationalen Kern der modernen Naturwissenschaften selbst, die eben keineswegs bloß äußerlich vom abstrakten und destruktiven Selbstzweck der kapitalistischen Produktionsweise befallen sind“. Zum anderen stelle er eine „Reaktionsbildung auf die verinnerlichten Anforderungen der kapitalistischen Konkurrenz in allen ihren Erscheinungsformen dar“. Wenn man ihn kritisieren wolle, müsse man letztlich das Konkurrenzprinzip selbst und damit den „zugrundeliegenden fetischistischen Mechanismus der ‚schönen Maschine’“ kritisieren. Seine Ideen seien „nicht irrationaler als der Kapitalismus und seine Marktwirtschaft selbst; sie können sich in ihren mörderischen Konsequenzen stets auf den real mörderischen Charakter des kapitalistischen ‚Kampfes ums Dasein’ berufen“. |
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Kurz sieht mit „der fortschreitenden [[Dehumanisierung]] des Kapitalismus“ einen „demokratischen Gulag“ heraufziehen. Dieser [[Gulag]] gliedere sich in drei Abteilungen: |
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Nach Ansicht Kurz’ bot der Sozialbiologismus in der Vorkriegszeit „die bequemste |
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# Die erste Abteilung bestehe in Menschenverwahrung und -Einschließung; Institutionen, in denen immer mehr „überflüssige“, „delinquente“ oder sonstwie „unverwertbare“ Menschen verschwinden würden, und die selber zu einem gewaltigen Kostenfaktor angeschwollen seien: Gefängnisse, Zuchthäuser, Drillanstalten, „Heime“ aller Art, Armenkliniken, psychiatrische Anstalten usw. |
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Legitimationsideologie für die imperialistische Expansionspolitik und die innere kapitalistische Krisenverwaltung“. Er stellte gleichzeitig eine auf den „selbstzerstörerischen ‚Kampf’ ausgerichtete negative Integrationsleistung in Gestalt einer monströsen Kompensationsideologie für die gedemütigten […] Massen“ dar, „die ihre bedingungslose Selbstunterwerfung unter den Verwertungsprozess damit aggressiv maskieren durften“. |
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# Die zweite und größte Abteilung bestehe aus den Massen der Arbeitslosen und Herausgefallenen, die von der demokratischen Armuts- und Krisenverwaltung bürokratisch in Bewegung gehalten, drangsaliert, gedemütigt und zunehmend auf „Hungerrationen“ gesetzt werden würden. |
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# Die dritte Abteilung bildeten die ganz am Rande der Gesellschaft „vegetierenden“ Obdachlosen, Straßenkinder, Immigranten, Asylbewerber und sonstigen Illegalen, die nicht einmal mehr durchgehend verwaltet würden, sondern nur noch sporadisches Objekt von Polizei- und gelegentlich sogar Militäreinsätzen (oder in manchen Ländern von privaten Todesschwadronen) seien. |
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Kurz’ Fazit: Die dritte industrielle Revolution habe in nur knapp 20 Jahren die größte Krise seit 1929 heraufbeschworen, die nicht nur die überwunden geglaubte Massenarbeitslosigkeit zurückgebracht, sondern auch die [[Geldwirtschaft]] in vielen Ländern bereits zusammenbrechen lassen habe. Hier trete der immanente Selbstwiderspruch des Kapitalismus final zutage. |
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Die „Eugenik“ lief „zunächst auf eine biologistische Bevölkerungspolitik hinaus, die sich als |
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‚Fortpflanzungshygiene’ definierte. Während die ‚Minderwertigen’ und ‚Entarteten’ notfalls gesetzlich und mit Polizeigewalt daran gehindert werden sollten, sich fortzupflanzen, galt es |
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andererseits als gesellschaftspolitisches Ziel, ‚erbgesundes’ Menschenmaterial nach landwirtschaftlichen Gesichtspunkten zusammenzuführen“. Im Zusammenhang mit dem Eugenik-Programm „erfand der Sozialdarwinismus in einem Aufwasch gleich den ‚physiologischen Schwachsinn des Weibes’, so der Titel einer im Jahr 1900 erschienenen […] Abhandlung des berüchtigten wilhelminischen Neurologen [[Paul Julius Möbius]]“. Kurz stellt die These auf, dass der Kapitalismus - „von Haus aus eine Männerveranstaltung“ – immer schon „die Idee einer gewissen Unzuverlässigkeit und gleichzeitigen Inferiorität des weiblichen Menschenmaterials gehegt [habe], das wegen seiner Bereitstellung für die ‚abgespaltenen’, von der Kapitallogik nicht voll zu erfassenden Bereiche eben auch weniger in den Kriterien der kapitalistischen Weltmaschine aufgehen konnte“. Es war verbreitete Auffassung, dass die Frau auf die Stufe des Tieres und „gewissermaßen ‚physiologisch’ in einer Linie mit den ‚Entarteten’“ zu stellen sei. |
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=== Soziale Folgen === |
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==== Rassenkampf und Weltverschwörung ==== |
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==== Situation im Nationalstaat ==== |
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; Gründerzeit und Gründerkrach |
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Die Folge der Welle von Aktienspekulationen im [[Deutsches Reich|Deutschen Reich]] nach 1850 war der große „[[Gründerkrach]]“ im Jahr 1873. Damit trat die galoppierende Industrialisierung für nahezu zwei Jahrzehnte bis Anfang der 90er Jahre in eine schleichende Stagnation ein. |
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In der Rückkehr zum [[Schutzzoll]]-System und einer zunehmenden Staatstätigkeit (auch bekannt als [[Wagnersches Gesetz]]) steckt für Kurz eine immanente Logik des „industriellen Kapitalismus’“, der logistische Strukturen fordere, die „nicht selbst wieder kapitalistisch nach den Gesetzen rein betriebswirtschaftlicher Rationalität betrieben werden können“. Da allerdings der Staat im liberalkonservativen Verständnis selber kein gewinnproduzierender ‚Unternehmer‘ mehr hätte sein können, sei „ein ‚Finanzierungsproblem’ seiner wachsenden Aufgaben in der industriellen Marktwirtschaft“ entstanden. Die Lösung habe allein in der moderaten Besteuerung von „Markteinkommen“ und zunehmender Verschuldung gelegen. |
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[[Image:Gobineau a.png|140px|thumb|Gobineau prägte den Begriff der „arischen Edelrasse“]] |
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Mit dem Darwinismus verband sich außerdem der moderne Rassenwahn. Dieser war „bis dahin noch eher kulturtheoretisch motiviert“ und erhielt nun nach Kurz „mit dem Kriterium der Hautfarbe bereits ein biologistisches Merkmal“. |
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Schon „die großen Aufklärungsphilosophen mit Kant an der Spitze“ waren Anhänger einer Rassenideologie. So mussten bei Kant „unter dem Aspekt der Kampagne gegen die ‚Faulheit’ zwecks ‚Verfleißigung’ (Industrialisierung) des Menschenmaterials […] ‚die Neger’ als Negativexempel herhalten“. Es herrschte die Auffassung vor, dass „die Afrikaner aber auch zu gar nichts zu gebrauchen seien und von Natur aus kujoniert werden müßten“. Bei Hegel wurde „die Kultur der ‚Neger’ als die unterste, vorzivilisatorische Phase des entäußerten ‚Weltgeistes’“ abgestempelt. In Frankreich kreierte [[Auguste Comte]] eine „einschlägige [[Drei-Stadien-Gesetz|Stadientheorie]] der Menschheit, die von der angeblichen Menschenfresserei der ‚Wilden’ bis zu den ‚Auserwählten oder [...] den Vortrab der Menschheit’ reicht, der ‚den größeren Teil der weißen Rasse oder die europäischen Nationen (umfaßt)’“. Daran anschließend erfand der französische Diplomat und Publizist Joseph Arthur Graf de [[Gobineau]] den „ Mythos der ‚[[Arier|arischen]] Edelrasse’“. |
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; Sozialstaat |
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Durch die Verschmelzung mit dem Darwinismus nahm laut Kurz „die Rassentheorie einen unmittelbar |
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Der Liberalkonservatismus sei zur Abwendung sozialer Revolten geneigt gewesen, „dem Staat eine gewisse soziale Verantwortung zu übertragen – selbstverständlich […] untrennbar vermengt und verbunden mit seiner Repressionsfunktion“. Kurz bezeichnet dies als „Wiederverheiratung“ des Liberalismus mit dem „absolutistischen Apparat“, der in allen wichtigen Ländern Europas stattgefunden habe. |
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biologistischen Charakter an, der ihren von Haus aus wahnhaften und destruktiven Charakter |
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gewissermaßen verdoppelte“. [[Houston Stewart Chamberlain]] lieferte mit seinem Bestseller „Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts“ eine Interpretation der „gesamten Geschichte einschließlich der Kunstformen nach ‚rassischen’ Gesichtspunkten“. „Der Kampf um die „Rassenreinheit avancierte so zum ideologischen Zielkorridor für das beginnende 20. Jahrhundert, mit mehr oder weniger tiefgreifendem Einfluß in ausnahmslos allen kapitalistischen Ländern und Modernisierungsgesellschaften.“ |
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Laut Kurz habe [[Otto von Bismarck|Bismarck]] bei seiner Sozialgesetzgebung eine durch machtpolitisches Kalkül geleitete Doppelstrategie gefahren: die „blanke Naturgesetzlichkeit des Marktes“ habe durch „staatlich gemanagtes Sozialwesen“ ergänzt werden sollen: |
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Aus der Verbindung von Darwinismus, und Rassenwahn bildete sich nach Kurz „eine dualistische Rangordnung des imperial-kapitalistischen Systems auf allen Ebenen heraus: biologisch elitäre Herrenmenschen, ‚weiße Rasse’, ‚erbgesunde’ Normalos, kampfkräftige Männer auf der einen Seite; zu beherrschendes und biologisch inferiores Menschenmaterial, ‚Entartete’ und Kranke, geborene Verbrecher, Frauen, ‚farbige Rassen’ auf der anderen Seite“. |
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: „Parallel zum Verbotsdruck nach alter [[Leviathan (Thomas Hobbes)|leviathanischer]] Manier machte seine Regierung in einer ‚klassisch’ gewordenen Weise mit den [[Paternalismus|paternalistischen]] sozialstaatlichen Überlegungen des Liberalkonservatismus ernst und brachte eine Art ‚[[Weißer Terror#Definition|weiße]] Revolution’ von oben in der [[Sozialgesetzgebung]] hervor, die zum Prototyp des modernen [[Wohlfahrtsstaat]]es im 20. Jahrhundert werden sollte“. |
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Kurz bezweifelt eine tatsächliche Verbesserung der sozialen Situation durch die Bismarckschen Sozialgesetzgebung, die für ihn nur die Massenarmut „normalisiert“ und eine Solidarisierung der Lohnarbeiter untereinander verhindert habe. In gerade dieser Situation sei die – seiner Meinung nach aus dem Liberalismus herkünftige – Sozialdemokratie zu einer gesellschaftlichen Kraft angewachsen. Da die Arbeiter der nächsten Generation keine Erinnerung mehr an vorindustrielle Zustände gehabt hätten, habe sich das Fernziel des sozialistischen Staates in eine „ferne und unwirkliche Zukunft“ verrückt. |
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===== Die Verkörperung des Bösen ===== |
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==== Gegenwart und Zukunft ==== |
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Für Kurz entwickelte sich eine Gesellschaft des „darwinistischen und rassistischen |
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[[Datei:Jakarta slumlife38.JPG|mini|Leben im und vom Wohlstandsmüll – Kinder im Elend in einem Slum auf einer Müllkippe in [[Jakarta]] (2004)]] |
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Wahns“, die „sich ihrer selbst nicht bewusst“ war und „sich in pseudo-naturgesetzlichen, selbstzweckhaften Denk- und Handlungsformen“ bewegte. Sie benötigte daher „die Idee eines als fremd und äußerlich gedachten ‚Bösen’, um die verdrängten, nicht ins Bewußtsein integrierten Momente des eigenen Selbst zu bannen“. Diese Funktion konnte nicht durch die „inferioren Menschenkategorien“, also die „ Entarteten“, „Frauen“, „Farbigen“ oder als „Untermenschen“ betrachteten Gruppen eingenommen werden, da diese dafür „nicht satisfaktionsfähig genug“ waren. Für die „Verkörperung seiner eigenen Negativität“ benötigte das „reif werdende kapitalistische System“ vielmehr „eine ‚böse Gegenrasse’ von ‚negativen [[Übermensch]]en’ - und diese fand sich in Gestalt der [[Juden]]“. Kurz verweist an dieser Stelle auf die „lange Tradition“ einer solchen Interpretation des Bösen bis ins Mittelalter, wo „die jüdischen Gemeinden als ‚Christusmörder’ aberwitzigen Phantasien (z. B. dem Verdacht kannibalistischer [[Ritualmord]]e an Christenkindern) und periodischen Verfolgungen ausgesetzt gewesen“ waren. Dieser „religiöse Affekt des Mittelalters wandelte sich zum modernen [[Antisemitismus]], der diesen Affekt auf das säkularisierte, quasi-religiöse Bezugssystem der kapitalistischen Weltmaschine übertrug und die Negativität der Verwertung des Werts als ‚jüdisches Wesen’ definierte: Was schlecht ist an der Herrschaft des Geldes, das muß ‚jüdisch‘ sein“. In der Verschmelzung des Antisemitismus’ mit dem Darwinismus erschien nun „die postulierte Negativität des Jüdischen, seine Definition als Macht des Unheimlichen in der Moderne […] als biologische „Rasseneigenschaft“. Es verbreitete sich die Paranoia einer „phantastischen ‚jüdischen Weltverschwörung’“ - exemplarisch bei Houston Stewart Chamberlain. Dieser habe „das ‚fremde jüdische Wesen’ […] in die unentrinnbare Objektivität der ‚dämonischen Gegenrasse“ verwandelt, „deren Mitglieder nicht subjektiv zu tadeln sind, da sie nur ihrer biologischen Natur gemäß handeln“. Gerade diese „pseudo-naturwissenschaftliche ‚Anerkennung’ des imaginierten ‚Rassengegners’“ lasse „letzten Endes nur noch die Logik der physischen Vernichtung offen, da eine menschliche Verständigung mit den stummen „Gesetzen des (fremden) Blutes“ nicht mehr möglich ist“. Hier bestehe eine „Analogie zu den stummen, nicht verhandelbaren Gesetzen von Markt und Konkurrenz“. |
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Für Kurz haben die ökonomischen Krisen der beiden letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, einhergehend mit dem staatlichen Rückzug aus der sozialen Verantwortung und dem Erstarken des [[Neoliberalismus]], zur größten Welle von [[Armut|Massenverarmung]] seit dem frühen 19. Jahrhundert geführt. Dabei sei der größte Teil der Dritten Welt vollständig ruiniert worden, inklusive der aufstrebenden südostasiatischen Länder, ebenso die Staaten der ehemaligen Sowjetunion und in ganz Osteuropa. Aber auch im Westen würden jährlich größere Regionen und Bevölkerungsgruppen der Massenverarmung anheimfallen. Kurz zieht daraus den Schluss, dass das globale kapitalistische System vollkommen versagt habe. |
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Kurz führt das Phänomen der Verarmung an verschiedenen Beispielen aus. So gebe es weltweit eine wachsende Verelendung von Kindern: die [[Kinderarbeit]] in der Dritten Welt, aber auch in Deutschland und den USA nehme zu; das Phänomen der [[Straßenkind]]er habe sich ebenfalls massiv ausgedehnt. Seit den 1990er Jahren sei es zudem zu einem weltweiten Anschwellen des [[Welthunger|Hungers]] gekommen. Auch in den westlichen Industrieländern nehme die Unterernährung und damit einhergehende Mangelerkrankungen zu. In der [[Gesundheitssystem|medizinischen Versorgung]] würden die gesetzlichen Krankenversicherungen überall zur „Armenkasse“ umfunktioniert. Jenseits der großen Industrienationen gebe es in den meisten östlichen und südlichen Ländern medizinische Hilfe ohnehin nur noch gegen Barzahlung. Zunehmend würde „die Geldarmut sogar dazu ausgenutzt, die Armen als regelrechte Organbanken für die Besserverdienenden auszuschlachten“, wozu sich die „vom Weltmarkt ruinierte Dritte Welt“ geradezu anbieten würde<ref name="Spiegel 46/1996">Vgl. angeblich in einem nicht näher bezeichneten Artikel in: „''[[Der Spiegel]]'' 46/1996“ – weder ist in dieser Ausgabe irgendetwas zu einem naheliegenden Thema zu sehen, noch lassen sich die Zitate anders als in diesem Wikipedia-Artikel auffinden.</ref> – für Kurz das wohl „letzte noch denkbare Stadium der Angebotsökonomie“. Die allgemeine „Dehumanisierung des kapitalistischen Medizin- und Gesundheitswesens“ setze sich auch vor allem darin fort, wie mit pflegebedürftigen Alten umgegangen werde. Selbst engste Angehörige hätten oft nur noch den Status entfernter Verwandter, sobald sie hinter den Mauern einer Pflege- oder Aufbewahrungsanstalt verschwunden seien. Dabei nähmen die Altenheime für die verarmten Massen unter dem zunehmenden Kostendruck „KZ-ähnlichen Charakter“ an. |
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Kurz erwähnt in diesem Zusammenhang das „Motiv des jüdischen Selbsthasses’“. Dieser äußerte sich darin, dass „sich jüdische Bürger in fast allen kapitalistischen Ländern selber Elemente dieser Wahnideen zu eigen machten und entsprechende Äußerungen in bestimmter Weise mittrugen“. So wurde z.B. „in den Synagogen von Paris sogar für die Gesundheit [[Alexander III. (Russland)|Alexanders III.]], des offen antisemitischen ‚Zaren der Pogrome’, gebetet [..], weil er ein Verbündeter Frankreichs war“. Ähnliche Verhaltensweisen und Äußerungen lassen „sich bei vielen bekannten jüdischen Literaten und Theoretikern bis in die Zeit des Hitler-Regimes hinein feststellen“. Dies sei ein bis heute weitgehend verdrängter Tatbestand, was sich darauf zurückführen lasse, dass auch die „linke und demokratische Intelligenzia“ „vor den Konsequenzen der Kritik zurückscheut“: die Einsicht, dass sich die rassistischen und antisemitischen Motive letztlich „bis auf die großen Geister der Aufklärung wie [[Voltaire]], [[Jean-Jacques Rousseau|Rousseau]], Kant usw. zurückverfolgen“ lassen. |
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=== Fazit des Autors === |
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Im Epilog des Buches zieht Kurz das Fazit, dass der Kapitalismus auf seine eigene Selbstvernichtung zulaufe, die auch in einer Zerstörung der menschlichen Gesellschaft enden könne. Um dieser Gefahr entgegenzutreten, müssten „radikale theoretische Kritik und Rebellion zusammenkommen“. Kurz sieht zwei mögliche Wege zur Überwindung des kapitalistischen Gesellschaftssystems: der kürzeste Weg sei „die Besetzung der Produktionsbetriebe, Verwaltungsinstitutionen und sozialen Einrichtungen durch eine Massenbewegung, die sich die gesellschaftlichen Potenzen direkt aneignet und die gesamte Reproduktion in eigener Regie betreibt, also die bislang herrschenden ‚vertikalen’ Institutionen schlicht entmachtet und abschafft“. Denkbar wäre auch eine „Übergangsphase, in der sich eine Art Gegengesellschaft bildet, die bestimmte soziale Räume gegen die kapitalistische Logik eröffnet, aus denen Markt und Staat vertrieben werden“. Als ein mögliches institutionelles Gefüge der Zukunft, das „Marktwirtschaft und Demokratie ablösen könnte“, sieht er die Einrichtung von „Räten“, d. h. „beratende Versammlungen aller Gesellschaftsmitglieder auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Reproduktion“. Hierzu müsste eine bewusste „Palaverkultur“ geschaffen werden, um „alles zu bereden und abzuwägen“. |
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Kurz sieht für eine solche zukünftige Gesellschaft vor allem drei Aufgaben: |
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Kurz untersucht in diesem Kapitel „die Frage nach dem Beitrag des Sozialismus und der Arbeiterbewegung an der Biologisierung von Gesellschaftstheorie und sozialen Konflikten“. Die entscheidende Schnittmenge von Sozialismus und Rassismus/Antisemitismus war für Kurz „der positiv besetzte Begriff der ‚Arbeit’“. „In dem Maße, wie die sozialistische Arbeiterbewegung das Kategorie der Muße, die für die alten Sozialrevolten noch zentral gewesen sei, durch die „Leistungskategorie der ‚Arbeit’“ ersetzte, die sie vom Liberalismus übernahm, „mußte sie auch anfällig werden für Ressentiments gegen Leistungsschwache, ‚Ungläubige’ in Sachen Religion der ‚Arbeit’ und vermeintliche ‚Nichtarbeiter’“. |
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* die „vorhandenen Ressourcen an Naturstoffen, Betriebsmitteln und […] menschlichen Fähigkeiten so einzusetzen, dass allen Menschen ein gutes, genussvolles Leben frei von Armut und Hunger gewährleistet wird“; |
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* „die katastrophale Fehlleitung der Ressourcen […] in sinnlose Pyramidenprojekte und Zerstörungsproduktionen zu stoppen“; |
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* „den durch die Produktivkräfte der Mikroelektronik gewaltig angeschwollenen gesellschaftlichen Zeitfonds in eine ebenso große Muße für alle zu übersetzen“. |
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Bei der Lösung dieser Probleme handle es sich letztlich „weder um ein materielles noch um ein technisches oder organisatorisches Problem, sondern allein um eine Bewusstseinsfrage“. Für Kurz ist es aber wahrscheinlich, dass der dazu notwendige „Bewusstseinssprung“ nicht mehr vollzogen wird. Der Kapitalismus sei aber dennoch nicht überlebensfähig, was „die unaufhaltsame Entzivilisierung der Welt“ nach sich ziehe. Die einzige Handlungsalternative sei „eine Kultur der Verweigerung“. Dies bedeute, „jede Mitverantwortung für ‚Marktwirtschaft und Demokratie‘ zu verweigern, nur noch ‚Dienst nach Vorschrift‘ zu machen und den kapitalistischen Betrieb zu sabotieren, wo immer das möglich ist“. |
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Die „Arbeit“ wurde „gegen die vermeintliche ‚Nichtarbeit’ in Szene gesetzt, gegen das ‚arbeitslose Einkommen’ der Kapitalisten, die sich ‚den Mehrwert aneignen’“. Da aber leicht nachzuweisen war, „daß die sogenannten Kapitalisten auch selbst ‚arbeiteten’, wenn auch in anderen Funktionsbezügen, […] konnten eigentlich der wie auch immer ‚mitarbeitende’ Privatkapitalist und der sogar selber nur angestellte Manager nicht so ohne weiteres unter die Kategorie der ‚Nichtarbeit’ subsumiert werden“. Die „abstrakte Arbeit“ konnte so „nicht insgesamt als Bestandteil des Kapitals dechiffriert werden“, weshalb der Begriff der „Nichtarbeit“ verengt wurde „entweder auf den Handel, der ‚nichts herstellt’ und sich angeblich bloß parasitär zwischen Produzenten und Konsumenten schiebt, oder auf die (wie Friedrich Engels sich ausdrückte) ‚Kuponschneider’, die reinen Geldkapitalisten, die anscheinend wirklich ohne jeden eigenen Handschlag in Form des Zinses ‚arbeitsloses Einkommen’ beziehen“. |
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== Rezeption == |
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Die unmittelbare Tätigkeit in der Umformung des Naturstoffs bei der Produktion von Gütern erschien als positive „produktive“ Tätigkeit und als die „gute“, konkrete Seite und die kapitalistische Vermittlungsfunktion von Handel oder Banken als die negative „unproduktive“ Tätigkeit und als die „schlechte“, abstrakte (weil unmittelbar auf das Geld bezogene) Seite. |
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Kurz’ provokatives und den Verkaufszahlen nach erfolgreiches<ref name="Zeit-Bestsellerliste">Platz 8 auf der ZEIT-Bestsellerliste „Sachbuch“, ''Die Zeit'', Nr. 2/2000 (Erstveröffentlichungen Sachbuch. Ermittelt aus den Verkäufen von Libri (24. Januar bis 4. Februar 2000) an den Buchhandel weltweit).</ref> Buch ist in der allgemeinen Öffentlichkeit recht stark, von wissenschaftlicher Seite kaum rezipiert worden. |
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Nach dem Erscheinen kam es in Tages- und Wochenzeitungen zu einer kontroversen Auseinandersetzung um das Werk. In der Rezeption fallen dabei die kritischen Stimmen teilweise sehr scharf aus, die positiven Stimmen begrüßen dagegen vor allem Kurz’ Vorgehen einer radikalen Kritik am Wirtschaftssystem. Ablehnende Autoren hingegen werfen ihm grundlegende methodische Mängel, (historische) Verfälschungen und den Aufruf zu einer verfehlten Rebellion wie auch das Fehlen praktischer Konsequenzen vor. |
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Diese verkürzte, moralisierende Kapitalismuskritik in den unaufgehobenen kapitalistischen Kategorien selbst passte gemäß Kurz gut auf jene Verhaltensweisen, wie sie den Juden zugeschrieben wurden, als dass sie eine antisemitische Schlagseite hätte vermeiden können. |
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Das Unternehmen dieser „fulminanten und radikalen Kritik am kapitalistischen Weltsystem“ wird in der ''[[Frankfurter Rundschau]]'' als ein „kühnes Unterfangen“ bezeichnet, in einer Zeit „gesellschaftlicher Tabuisierung von Kapitalismuskritik“.<ref name="FR">Günther Frieß, ''[[Frankfurter Rundschau]]'', 25. Mai 2000.</ref> Der positive Beitrag im Rahmen einer „Kontroverse“ in der ''[[Die Zeit|Zeit]]'' hält das Buch von Kurz für „die wichtigste Veröffentlichung der letzten zehn Jahre in Deutschland“.<ref name="Die Zeit">[[Hans-Martin Lohmann]]: [https://www.zeit.de/1999/51/199951.p-kurz_.xml ''Schwarzbuch Kapitalismus''.] In: ''[[Die Zeit]]'', Nr. 51/1999.</ref> Gelobt wird hier auch die detaillierte Vorgehensweise.<ref name="Die Zeit" /> Die ''[[Die Wochenzeitung|WOZ]]'' begrüßt den „Materialreichtum“.<ref name="WOZ">Stefan Zenklusen, Robert Kurz: {{Webarchiv|url=http://www.woz.ch/artikel/inhalt/2000/nr07/Kultur/13345.html |wayback=20070930184533 |text=''Schwarzbuch Kapitalismus''. }} In: ''[[Die Wochenzeitung]]'', 07/2000.</ref> Trotz Mängeln könne man – so die FR – seiner „zeitkritischen Diagnose einer Verhärtung der kapitalistischen Bewusstseinsform“ durchaus zustimmen.<ref name="FR" /> Für den insgesamt sehr lobenden Beitrag der ''Zeit'' ist das Buch „ein großer Wurf, ein wahrhaft notwendiger Protest“, zu dessen wichtigsten Erkenntnissen es gehöre, „dass es immer nur relativ kurze Phasen waren, in denen ein expandierender Kapitalismus so etwas wie Massenwohlstand hervorbrachte, und auch das nur in Westeuropa, Angloamerika und Japan.“<ref name="Die Zeit" /> |
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===== Der sozialistische Antisemitismus===== |
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Auf der Gegenseite wird bereits die Grundlage der Argumentation von Kurz deutlich kritisiert: Problematisch sei insbesondere schon seine Verwendung von 'Kapitalismus'. Er – so übereinstimmend die stark ablehnende ''[[Süddeutsche Zeitung]]'' sowie der kritische Beitrag in der ''[[Die Zeit|Zeit]]'' – definiere den Begriff nicht, verwende ihn undifferenziert<ref name="SZ">Michael Birnbaum: [http://sz-mediathek.sueddeutsche.de/mediathek/shop/catalog/ShowMediaDetailVP.do?pid=368737&extraInformationShortModus=false¤tExtraInformationTab Wer hat Angst vorm schwarzen Buch?]{{Toter Link|url=http://sz-mediathek.sueddeutsche.de/mediathek/shop/catalog/ShowMediaDetailVP.do?pid=368737&extraInformationShortModus=false¤tExtraInformationTab |date=2019-05 |archivebot=2019-05-12 23:32:08 InternetArchiveBot }} In: ''[[Süddeutsche Zeitung]]''.</ref><ref>Robert Heuser: [https://www.zeit.de/1999/51/199951.p-kurz-contra_.xml ''Schwarzbuch Kapitalismus''.] In: ''[[Die Zeit]]'', Nr. 51/1999.</ref> als „Kampfbegriff“<ref name="SZ" /> und – wie die grundsätzlich eher lobende ''FR'' kritisiert – behaupte, dass der Kapitalismus an allem schuld sei.<ref name="FR" /> Andere Aspekte, die – so bemängelt der ablehnende Artikel in der ''[[Frankfurter Allgemeine Zeitung|FAZ]]'' – für Probleme beispielsweise in Afrika oft als ursächlich angesehen würden, würden bei Kurz ausgeblendet bzw. dem undifferenzierten Kapitalismusbegriff angelastet.<ref name="FAZ">Ralf Altenhof: [https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/2.1716/rezension-sachbuch-militant-und-skandaltraechtig-110454.html ''Militant und skandalträchtig'' (Rezension: Sachbuch).] In: ''[[Frankfurter Allgemeine Zeitung|FAZ]]'', 24. Januar 2000.</ref> In der Folge gehe er die „kaum von der Hand zu weisen[den]“ „Defizite“ des Kapitalismus nicht an und schütte „das Kind mit dem Bade aus.“<ref name="FAZ" /> Die SZ diagnostiziert einen verfehlten Ansatz: „Anstatt nun aber zu fragen, warum gerade der Kapitalismus sich alternativlos durchgesetzt hat, […], verbeißt sich Kurz in alte Denkschemata. Ob und wie die Fehler und Defekte des Kapitalismus korrigiert oder zumindest durch politische Gestaltung aufgefangen werden können – all das interessiert ihn nicht.“<ref name="SZ" /> Kurz’ Vorgehen und insbesondere der durch die historische Perspektive zu große Kontext sowie das Postulieren notwendiger geschichtlicher Entwicklungswege stünden einer sinnvollen fundamentalen Analyse unseres Wirtschaftssystems im Wege.<ref name="SZ" /> |
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Diesen sozialistischen Antisemitismus macht Kurz bereits bei den utopischen [[Frühsozialist]]en der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus. So sei [[Charles Fourier]] „französischer Nationalist“ gewesen und „von einer dumpfen Fremdenfeindlichkeit“. Er wähnte „die kapitalistische Ausbeutung vor allem durch Handel und Wucher |
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verursacht“. Er sei schon 1808 in seiner Schrift „Theorie des quatre mouvements“ durch die entsprechenden Zuschreibungen in ein krass antisemitisches Weltbild verfallen und habe sogar „gegen Bürgerrechte für Juden“ geeifert. |
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[[Image:Pierre Joseph Proudhon.jpg|120px|thumb|Proudhon „reduzierte den Begriff des Kapitalismus auf das zinstragende Kapital“ ]] |
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[[Pierre-Joseph Proudhon]], einer der Begründer des Anarchismus, „reduzierte den Begriff des Kapitalismus auf das zinstragende Kapital der reinen Geldverleiher, dessen ‚Bedingung der Möglichkeit‘ er im Charakter des Geldes als einer privilegierten Ware angelegt sah, die demzufolge ‚deprivilegiert’ werden müsse“. Er „wollte deshalb ein sogenanntes ‚Arbeitsgeld’ einführen, das auf der direkten Verrechnung von Arbeitsquanten beruhen und den ‚arbeitslosen’ Zinsgewinn von Geldkapitalisten unmöglich machen sollte“. Proudhon sei nicht in der Lage gewesen, „die ‚abstrakte Arbeit’ des warenproduzierenden Systems [..] als Kern des Kapitals selber [zu] erkennen“. Seine Theorie kritisierte „den Kapitalismus nur so weit, wie es die antisemitische Umdeutung der inneren Widersprüche dieser Gesellschaftsform erlaubt“ und sei daher auch immer wieder „in die hetzerische Sprache des Wahns vom eingeborenen jüdischen Geldmenschen und Weltverschwörer“ verfallen. |
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Kurz’ Umgang mit der Geschichte wird ebenso zurückgewiesen. Die historische Darstellung selbst – so die SZ deutlich – sei „ein Sammelsurium fragwürdiger Analogien und anmaßender Urteile“.<ref name="SZ" /> Der ''[[Freitag (Zeitung)|Freitag]]'' meint, es werde Beliebiges aus der Historie herausgegriffen.<ref name="Freitag">Balduin Winter: [https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-gedanken-sind-frei ''Die Gedanken sind frei – Des Ableitungsfanatikers Robert Kurzens Katzenkonzert auf die Marktwirtschaft''.] In: ''[[Freitag (Zeitung)|Freitag]]'', 5, 26. Januar 2001.</ref> Außerdem fehlt der SZ eine Auseinandersetzung mit Denkansätzen, die nicht in Kurz’ Weltbild passten.<ref name="SZ" /> |
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Der ausschließliche Haß gegen die „Zinsknechtschaft“ sei untrennbar verbunden gewesen mit einer antisemitischen Hetze, die „bis tief in die Arbeiterbewegung hinein“ ihre Wirkung gezeigt hätte. Kurz erwähnt an dieser Stelle [[Rudolf Steiner]] und [[Silvio Gesell]], die er als Teil einer „antisemitisch-zinskritische Schnittmenge“ bezeichnet, aus der „schließlich der Nationalsozialismus aufschießen sollte“. |
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Das von Kurz geforderte Rätesystem hält die ''FAZ'' für einen „Ladenhüter des neunzehnten Jahrhunderts“. Aufgrund der ausdifferenzierten Gesellschaft gebe es den bei Kurz unterstellten einheitlichen Volkswillen nicht. Auch die von Kurz genannte Alternative einer Revolution bzw. verweigernden Rebellion sei nicht überzeugend und sein Aufruf hierzu „mache das Buch endgültig zum Skandal“.<ref name="FAZ" /> |
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Auch bei Marx macht Kurz eine „antisemitische Schieflage“ aus. Er und der marxistische Hauptstrom der Arbeiterbewegung nach 1848 wollte zwar „nicht mehr bloß das zinstragende Leih- und das Handelskapital, sondern den Kapitalismus als Produktionsweise insgesamt kritisieren“. „Aber weil dabei trotzdem der positive Begriff der ‚abstrakten Arbeit’ beibehalten und nur das privatkapitalistische industrielle Regiment durch ein |
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staatsbürokratisches ersetzt werden sollte, blieb die Haltung gegenüber dem antisemitischen Syndrom |
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notwendigerweise ambivalent“. Marx habe zwar - im Unterschied zum Arbeiterbewegungs-Marxismus –„theoretisch ein widersprüchliches und streckenweise kritisches Verhältnis zur Kategorie der ‚Arbeit’“ gehabt und „die Fixierung auf das zinstragende Kapital als Volksvorurteil und Ausdruck des Kapitalfetischs bezeichnet“, doch habe er „immer wieder in Richtung einer Identifikation von ‚Geld überhaupt’ |
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oder ‚Schacher’ und ‚Wucher’ mit dem ‚jüdischen Wesen’“ polemisiert. |
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== Ausgaben == |
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Im Unterschied zu Fourier und Proudhon habe Marx allerdings „den Juden“ als bloße „Metapher“ für die Geldherrschaft genommen und diese nicht auf ihn zurückgeführt. |
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* Robert Kurz: ''Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft''. 1. – 4. Auflage, Ullstein-TB 36308, München / Berlin 2001–2005, ISBN 978-3-548-36308-0; erweiterte Neuauflage: Eichborn, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-8218-7316-9 (Download [https://www.exit-online.org/pdf/schwarzbuch.pdf exit-online.org] (PDF; 2,4 MB) 257 Seiten. 2. Auflage, Ullstein, München 2002). |
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Kurz wirft dem „Großteil der Linken“ vor, dass sie „daraus bis heute nichts gelernt“ habe. Sie halte nach wie vor „an ihren falschen Begriffen fest“ wie „ Affirmation der ‚Arbeit’“ und damit an allen „Grundkategorien des Kapitalismus“ und an der „Vorstellung von der an sich ‚guten’, weil zu irgendeiner historischen Mission eigens vom Weltgeist geschaffenen ‚Arbeiterklasse’“. |
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=== Kapitel 6: Die Geschichte der Zweiten industriellen Revolution === |
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Der Beginn des 20. Jahrhunderts ist für Kurz charakterisiert durch eine „eigentümliche schizophrene Mischung aus Fortschrittsgläubigkeit und Untergangsphantasie, technokratischem Machbarkeitsdenken und biologistischer ‚Veterinärphilosophie’, Staatsräson und Marktkonkurrenz, individuellen Ansprüchen und wahnhafter Kollektivsubjektivität von ‚Nation’ und ‚Rasse’“ . Diese Mischung sollte nun zur Entladung „der unbeherrschbar gewordenen Spannungen in und zwischen den imperialen Mächten drängen“. |
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Die aus der Agrargesellschaft überkommenen traditionellen Bindekräfte der Gesellschaft lösten sich immer schneller auf, was „Ratlosigkeit und irrationale Unrast“ zurücklies. Die Ideen und Programme der sozialistischen Arbeiterbewegung wurden „hohl und als vermeintliche historische Alternative unglaubwürdig“, da sie von Grund auf „mit den kapitalistischen Denkformen, Handlungsmustern und Interessenkategorien kontaminiert“ waren. Quer durch das politische Spektrum und die sozialen Klassen des Industriekapitalismus flackerten „bizarre Ideen und Bewegungen auf, die auf die Unbegreiflichkeit der Veränderungen, die in weiterhin zunehmendem Tempo mit den Menschen einfach geschahen, in einer geradezu hinterhältig naiven Weise reagierten“. |
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„Das dumpfe Gefühl, daß ‚etwas’ geschehen müsse, ohne daß anzugeben war, was es denn sein |
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solle, mündete in die falsche Unmittelbarkeit von vielfältigen einzelnen und scheinbar zusammenhanglosen Ideen“. Es entstanden „Bewegungen zur ‚Lebensreform’, Vegetarierclubs und Nudistenvereine“, Jugend- und Wanderbewegungen. Ihr Ziel war nicht die „kritische Reflexion der Gesellschaft“, sondern „eine Art Läuterung durch kulturelle Ersatzhandlungen, habituelle |
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Maskerade und eine intellektuell inferiore Lagerfeuer-Romantik, die das vordergründig in seinen Lebensformen angegriffene Spießbürgertum an nationalistischem Fanatismus noch überbot“. „Es ging dabei weder um Muße noch um Genuß, weder um real lebbare Erotik noch um eine ungezwungenere Lebensweise. Die Zivilisationskritik richtete sich nur gegen die sowieso abblätternde kapitalistische Fassade des 19. Jahrhunderts, nicht aber gegen die destruktive |
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gesellschaftliche Dynamik selbst [...]“. Der zentrale ideologische Begriff war der der „Reinheit“. Diesem Begriff wurde eine „geradezu mystische Bedeutung“ beigemessen und auf den Gesellschaftskörper übertragen. Kurz bezeichnet dies als Traum „von einer sittlichen und kulturellen Waschung [..], mit der die himmelschreienden Widersprüche des Kapitalismus womöglich durch eine Art Kneipp-Kur weggespült werden könnten“. Der „hygienische Blick“ richtete sich dann auch folgerichtig „nach innen, auf die ‚Reinheit des Blutes’, wie sie in den darwinistisch-sozialbiologischen Ideen verfochten wurde“. „Der wahre, neue und ‚reine’ Mensch sollte eben auch möglichst ein ‚reinrassiger’ sein, was immer darunter jeweils zu verstehen war“. Die österreichischen und große Teile der deutschen [[Wandervogelbewegung]] schlossen Juden dann auch folgerichtig als Mitglieder aus oder zwangen sie, eigene und getrennte Gruppen zu bilden; für dieses Vorgehen wurde das Wort „judenrein“ geprägt. |
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Kurz spricht in diesem Zusammenhang von der „Unruhe einer bevorstehenden Häutung des Kapitalismus, dessen massenindustrielles und massendemokratisches Entwicklungsstadium heraufdämmerte“. Das gleichzeitige „Fehlen jeder ernsthaften emanzipatorischen Initiative gegen das System der abstrakten ‚Arbeit’ ließen im gesellschaftlichen Bewußtsein Momente einer aggressiven und zynischen Katastrophensehnsucht aufflackern“. Diese sollte „alsbald durch die letzte ‚Reinigung’ von Bein und Fleisch im ‚Stahlbad’ des Weltkriegs befriedigt werden“. |
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==== Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts ==== |
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Mit der Entfesselung des [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkriegs]] begann für Kurz - in Anlehnung an [[George F. Kennan]] - die „[[Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts]]“. „Als die Explosion erfolgte, waren sich die wenigsten darüber im klaren, zu welch einschneidenden gesellschaftlichen Veränderungen diese bis dahin größte Katastrophe der an Krisen und gesellschaftlichen Gesamtunfällen reichen Modernisierungsgeschichte führen würde“. Die erste Reaktion war eine ungeheure Begeisterungswelle. Die Explosion wurde „wie eine Erlösung empfunden - so unerträglich war die Spannung im gesellschaftlichen Bewußtsein unter dem blinden Diktat der kapitalistischen Weltmaschine angestiegen“. Kurz interpretiert dies als „Hoffnung auf grundsätzliche und positive Veränderungen, auf eine Erneuerung und Verjüngung der Welt“, die sich „nicht mehr anders als in der Form einer nationalen Kriegsbegeisterung äußern konnte“; dies zeige „den Grad der Demoralisierung und geistigen Verkommenheit an, den die menschliche Gesellschaft durch ihre Unterwerfung unter die Gesetze der Konkurrenz bereits erreicht hatte“. „Das ganze Wutpotential einer von Grund auf repressiven Gesellschaftsordnung, das die nationalisierten Massen in sich hineingefressen hatten, durfte sich nun entladen - nach außen“. |
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[[Bild:Wilhelm II of Germany.jpg|140px|thumb|Wilhelm II. appellierte zu Beginn des 1. Weltkriegs v.a. an den Patriotismus von Juden und Sozialdemokraten]] |
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Umso heftiger musste nach Kurz nun „die ‚innere Einheit“ der ‚nationalen Schicksalsgemeinschaft’ beschworen werden“. So erklärte [[Wilhelm II. (Deutsches Reich)|Wilhelm II.]] am 1. August 1914 : „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“. Für die Liberalen „bedurfte es eines solchen Appells natürlich gar nicht“, da diese „allesamt die imperialistische Konkurrenzpolitik aus tiefstem Herzen selber propagiert und sogar konzeptionell ausgearbeitet“ hatten. Der Aufruf war v.a. an „die jüdischen Staatsbürger und die Sozialdemokratie“ gerichtet. Deren „alte Politik der Anpassung und Selbstverleugnung“ schlug nun um „in den offenen Wahnsinn der Beteiligung an den wechselseitigen Haßtiraden“. |
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Die „Mehrzahl der jüdischen Oberschicht, der Akademiker, Wissenschaftler und Führungskräfte der Wirtschaft [trat] die nationalistische Flucht nach vorn an“. Auch die Arbeiterbewegung und die Sozialdemokratie stimmten „in das schauerliche nationale Kriegs- und Einheitsgeheul ein“ – unter dem der Vorwand eines „‚Verteidigungskrieges’ gegen ‚Aggressoren’“. Es „mußte nun das Zarenregime von [[Nikolaus II. (Russland)|Nikolaj II.]] herhalten, um eine Bedrohung des demokratischen Wahlrechts und der deutschen Arbeiterbewegung ‚von außen’ behaupten und den Schulterschluß mit dem wilhelminischen Kapitalismus legitimieren zu können“. „Die [[Kriegskredit]]e wurden bewilligt und die wenigen Abweichler des äußersten linken Flügels mit der 1916 ins Gefängnis geworfenen jüdischen Marxistin [[Rosa Luxemburg]] an der Spitze verfemt“. Nur eine Handvoll Intellektueller ließ sich „durch den allgemeinen Wahn nicht mitreißen und versuchte von unterschiedlichsten Positionen aus eine Opposition gegen den Krieg literarisch zu formulieren – wie z.B. [[Karl Kraus]], [[Ricarda Huch]], [[Stefan Zweig]] und [[Franz Werfel]]. |
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Kurz bezeichnet den Krieg als „negative Produktion von Kapital“, was auch in der Metapher vom „Walzwerk der Front“ in [[Ernst Jünger]]s Kriegsbuch „[[In Stahlgewittern]]“ immer wiederkehre. Während des Krieges beschleunigte sich die technische Entwicklung v.a. „in der chemischen Industrie ([[Giftgas]]produktion), im Flugzeugbau und in der Automobilproduktion“. „In den Schrecken der Materialschlacht deutete sich eine neue Stufe des Industriekapitalismus an, damit aber auch eine neue Gestalt der abstrakten ‚Arbeit‘, die sich zuerst auf dem Schlachtfeld manifestierte“. Im [[Gaskrieg]] „wurde endlich auch die Metapher vom menschlichen Ungeziefer buchstäblich wahr gemacht: Die Kriegshelden auf beiden Seiten verwandelten |
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sich in menschliche Laborratten, in das Testmaterial der chemischen Industrie“. Es entstand „eine neue Qualität der kapitalistischen Zumutungen und eine Verdichtung der ‚Arbeit’, die sich zunächst in der Zuspitzung der quasi ‚betriebswirtschaftlichen’ Disziplinierung in den Schützengräben ankündigte“. Dabei „zahlte sich die sozialdemokratische Verinnerlichung der Fabrik- und Bürodisziplin als ideeller Wert der Arbeiterbewegung für das Funktionieren der |
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Kriegsmaschine aus“. |
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[[Image:August Bebel.jpg|220px|thumb|left|Bebel verstand den 1. Weltkrieg als „Götterdämmerung der bürgerlichen Welt“]] |
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Der Erste Weltkrieg bewirkte nach Kurz ein Aufblühen des „Sozialdemokratismus“. „Endlich war er bei sich und zu sich gekommen, durfte mitmischen und die ‚Götterdämmerung der bürgerlichen Welt’ ([[August Bebel|Bebel]]) als seinen eigenen lang ersehnten demokratischen Eintritt in eben diese Welt mit Blutorgien feiern“. Weil die Sozialdemokraten ihren „Blutzoll treu entrichtet und sich als Fleisch vom Fleische der kapitalistischen Welt bewiesen hatten, wurde ihnen nun der lang ersehnte Eintritt in die Zentren der Macht oder doch wenigstens in deren Vorhallen und Hinterhöfe gewährt[...]. Die bislang ausgegrenzten Sozialistenführer mutierten zu staatsmännischen Juniorpartnern der ‚schönen’ Maschine, die sie bis heute geblieben sind“. In Frankreich und Belgien „traten führende Funktionäre der Arbeiterbewegung als Minister in die Kriegskabinette ein“; in Deutschland war die Mehrheitssozialdemokratie „im informellen Beratungsgremium des ‚Interfraktionellen Ausschusses’ […] gerngesehenes und eifriges Mitglied“. So formte sich die Idee des Sozialismus als „Kapitalismus plus sozialistische Teilhabe in leviathanischen Formen“ weiter aus. Sie „vermengte sich mit dem, was in Deutschland allgemein ‚die Ideen von 1914’ genannt wurde“: eine „ebenso vage wie irrationale Kriegsgemeinschafts-Ideologie, die den ‚deutschen Reichsgedanken’ gegen das ‚perfide [[Albion]]’ (Großbritannien) und gegen die westeuropäischen ‚Krämerseelen’ propagierte“. Darin war ein „starkes antisemitisches Element“ enthalten und „jene spezifische Schizophrenie der deutschen nachholenden Nationsbildung seit dem frühen 19. Jahrhundert“. Dieses „Konstrukt verschmolz nun mit den kriegswirtschaftlichen ‚Notwendigkeiten’, der Beschwörung der ‚inneren |
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Einheit’ und der Akzeptanz oder sogar Verherrlichung der abstrakten ‚Arbeit’ unter den Bedingungen des industriellen Weltkriegs zu jenen ‚Ideen von 1914’, die einen irrationalen und offen oder implizit antisemitischen Staatssozialismus neuen Typs einschlossen“. |
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Kurz erwähnt die Beteiligung der Gewerkschaften und der SPD „an den Debatten über die Kriegsziele bis hin zur Forderung nach Annexionen, neuen Kolonien, Deutscher Suprematie in Europa, ja sogar einer Art Weltherrschaft des Deutschen Reiches. Gewerkschaftsgelder wurden in großem Umfang in Kriegsanleihen angelegt“. In der Sozialdemokratie sprach man von der „Bedrohung der deutschen Weltmarktinteressen durch Großbritannien, dessen kriegspolitischer ‚Hauptzweck’, wie viele Gewerkschaftsfunktionäre meinten, ‚die wirtschaftliche Schädigung Deutschlands’ sei“. Dies interpretiert Kurz als logische Konsequenz der Übernahme der „abstrakten Arbeit“ als positiven Wert durch den Sozialismus. Nachdem „auf dieser Grundlage die ‚Arbeiterinteressen’ nationalökonomisch und staatssozialistisch definiert worden waren, mußte notwendigerweise auch das nationale Konkurrenzinteresse nach außen […] zur eigenen Sache gemacht werden“. |
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Sozialisten, Liberale und Rechtskonservative entwickelten nach Kurz „gemeinsam die Idee der ‚Volksgenossenschaft’ für einen ‚nationalen Arbeitsstaat’“. Es könne deshalb „kaum verwundern, daß dabei auch die von Friedrich Naumanns Linksliberalen erstmals verwendete Bezeichnung eines ‚nationalen Sozialismus’ in sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Texten als ‚Nationalsozialismus’ (vulgo ‚Kriegssozialismus’) wieder erschien: Nahezu das gesamte Basis-Vokabular der Nazi-Partei wurde während des Ersten Weltkriegs unter aktiver Mitwirkung von Sozialdemokratie und Gewerkschaften ‚schöpferisch’ in die Welt gesetzt. Und das waren keine bloß zufälligen Namensgleichheiten, sondern es handelte sich um eine enge Verwandtschaft (um nicht zu sagen Identität) der Ideen, getrennt nur durch hauchdünne Scheidewände äußerer Organisationsfeindschaft und unterschiedlicher ideologischer Traditionen“. |
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==== Henry Ford und die Geburt der Auto-Gesellschaft ==== |
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Der Erste Weltkrieg hatte bewirkt, dass „die letzten äußeren Schranken sozialer und kultureller Art […] niedergerissen worden" waren. Um die die kapitalistische Produktionsweise auch in „Friedenszeiten“ zu einem „gesellschaftlich flächendeckenden System“ zu machen musste der Übergang in eine „eine neue Stufe der kapitalistischen Systementwicklung“ vollzogen werden: „zu bisher nicht dagewesenen Formen der Massenproduktion und des Massenkonsums“. |
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Dies stellte Kurz zufolge eine schwere „Hürde“ für den Kapitalismus dar, dessen „innere Struktur“ nicht auf die „Produktion von Konsumtionsmitteln“, sondern auf „Investitionen“ ausgerichtet sei – wesentlich bedingt durch seine „mentalitätsgeschichtliche Wurzel“ im [[Protestantismus]]. Dieser gebot „dem um seine Rechtfertigung vor Gott besorgten Menschen, einerseits buchstäblich wie ein Blöder zu malochen und Schätze aufzuhäufen zum Zeichen seiner Gotteserwähltheit, andererseits aber diese Früchte nicht sündhaft zu genießen, sondern sie in verkniffener dünnlippiger Knauserigkeit aufzusparen und in Mittel neuer Selbstzweck-‚Arbeit’ auf höherer Stufenleiter zu verwandeln - ad infinitum“. |
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[[Bild:Ford T Jon Sullivan.jpg|thumb|rechts|240px|Das Auto als „verselbständigter Selbstzweck“: Ford T (1909)]] |
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Das [[Automobil]] eignete sich nun nach Kurz' Auffassung am ehesten, „den Konsum in einen strukturell verselbständigten Selbstzweck zu verwandeln und damit der Logik der Weltmaschine anzugleichen“; denn im „Unterschied zu den meisten Gegenständen des sinnlichen oder kulturellen Genusses konnte dieser Konsum nämlich nicht im Gebrauch seiner Inhalte aufgehen, sondern erforderte eine derart flächendeckende materielle, organisatorische und soziale Logistik, daß er geeignet war, sich zu einer zwanghaften und verinnerlichten Benthamschen ‚Verhaltensspur’ zu entwickeln, die das System der Disziplinierungen in bis dahin unbekannte Dimensionen auszuweiten versprach. Zweitens war die mechanisierte Mobilität von allen Formen des Konsums dem Charakter eines Investitionsgutes am ähnlichsten und von daher auch im ökonomischen Sinne das am meisten geeignete Mittel, um den Menschen selbst noch im Konsum jede Eigensinnigkeit auszutreiben und sie zum Werkzeug ihres Werkzeugs zu machen“. |
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Die beiden „legendären Figuren“ waren dabei „der berühmte Automobilfabrikant [[Henry Ford]] und der kaum weniger berühmte Rationalisierungs-Ingenieur [[Frederick Winslow Taylor]]“. Beide waren „nicht zufällig US-Amerikaner“. Die Gesellschaft der USA hatte zu diesem Zeitpunkt einen „gewissermaßen kapitalistisch ‚jungfräuliche’ Charakter“, da sie „nach der weitgehenden Ausrottung der Ureinwohner keine vormodernen kulturellen und sozialen Schranken mehr zu überwinden hatte, sondern sich ohne solche Friktionen direkt auf dem Boden der abstrakten ‚Arbeit’ entwickeln konnte“. Zum anderen erlaubte die „schiere Größe“ ihres kontinentalen Binnenmarktes, „Produktionskapazitäten und technologische Umstrukturierungen in einer ganz anderen Dimension [..], als sie für die relativ kleinen und bornierten europäischen Nationalökonomien möglich waren“. |
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Vor allem Henry Ford war „mehr als ein ordinärer Kapitalist“. „Mit Ford ging die liberale, ideologische und vor allem industriell-praktische Führung von Großbritannien auf die USA über, lange bevor der politische Weltmachtwechsel vollzogen war“. „Während ‚weit hinten in Europa die Völker aufeinanderprallten’ […], führte der noch unbekannte Prophet in seiner 1903 gegründeten ‚Ford Motor Company’ jene entscheidenden Neuerungen ein, die den Industriekapitalismus des 20. Jahrhunderts prägen sollten“. Für Ford „ging es einzig und allein darum, im Interesse seiner Weiterentwicklung die Widersprüche von Investitionslogik und Konsumlogik, Massenproduktion und relativer Unterkonsumtion mangels Kaufkraft aufzulösen“. Er wollte mittels Kostensenkung den „‚lag’ zwischen produktiver Potenz und Massenkaufkraft“ überwinden, „ohne die selbstzweckhafte Akkumulationslogik des Kapitals zu beeinträchtigen“. |
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[[Image:AssemblyLine.jpeg|thumb|240px|Die Schlachthöfe von Chicago dienten Ford als Vorbild des Fließbands - Fließbank-Fertigung bei Ford (1913)]] |
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Ford richtete „die Aufmerksamkeit der betriebswirtschaftlichen Rationalität auf einen bisher vernachlässigten Bereich [..]: die Arbeitsorganisation selbst und die Flußgeschwindigkeiten innerhalb ihres Ablaufs“. Auf keine Arbeit sollte „mehr Kraft als absolut notwendig“ verwendet werden. Das bedeutete „eine geradezu ungeheuerliche Verdichtung der Arbeit weit über den bisherigen Verdichtungsgrad durch das Maschinensystem hinaus. Das ‚philanthropische Wunder‘ einer gleichzeitigen Verbilligung der Produkte, Erhöhung der Löhne und Verkürzung der Arbeitszeit erklärt sich also allein daraus, daß den Arbeiterinnen in Wahrheit wesentlich mehr Lebensenergie abgezapft wird, als sie in Form der konsumistischen ‚Wohltaten’ an Gratifikationen zurückerhalten“. Um der „‚Drückebergerei’ zu Leibe zu rücken und genaues Datenmaterial zu sammeln, führt Taylor die schönen Begriffe der ‚Zeit- und Bewegungsstudien’ ein: Mit der seither berüchtigt gewordenen Stoppuhr werden alle Tätigkeiten in Teilabläufe zerlegt und genau durchgecheckt, um ‚die Unwissenheit der Arbeitgeber bezüglich der zur Verrichtung [...] mindestens erforderlichen Zeit’ [..] zu beenden und die ‚Charakterschwäche’ der Lohnarbeiter durch wissenschaftliche Objektivität zu brechen“. |
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Ford erfand die „Montagebahn“ oder, wie es später genannt wurde, das „berüchtigte [[Fließband]]“. „Völlig neu war diese Einrichtung keineswegs. Ford hatte das Prinzip bezeichnenderweise den abgeschaut; er selbst sagt, daß sein Fließband ‚den Schiebebahnen (ähnelte), deren sich die Chicagoer Fleischpacker bei der Zerlegung der Rinder bedienen‘“. „Die neue Qualität des Fließbands bei Ford bestand allerdings darin, daß die Fließfertigung nicht für sich stand, sondern eingebaut war in das umfassende Konzept der ‚arbeitswissenschaftlichen‘ Rationalisierung der gesamten Produktion“. |
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==== Weltwirtschaftskrise ==== |
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Die 20er Jahre schienen eine „neue Epoche eines weltweiten Kapitalismus von Massenproduktion und Massenkonsum hervorbringen“. „Die Lockung des ‚weißen Sozialismus‘ von Ford schlug sich in einer beginnenden kommerziellen Massenkultur nieder“. „Das an den Fronten des Weltkriegs ‚eingeschmolzene‘ Menschenmaterial begann in den ‚[[Roaring Twenties]]‘ gewissermaßen, sich in seine neue Gestalt als vollkapitalistischer Warenmensch einzuüben“. |
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Der strukturelle Umbruch der Zweiten industriellen Revolution wurde aber „überlagert von der bis dahin größten und verheerendsten sozialökonomischen Transformationskrise“. In einer erstmals wirklich globalen Dimension „walzte die Weltwirtschaftskrise alle konsumistischen Hoffnungen nieder“. |
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Kurz erklärt den Ausbruch der Krise mit dem „unversöhnlichen inneren Selbstwiderspruch des Kapitalismus, der niemals überwunden werden konnte und jetzt einen neuen Kulminationspunkt der Krise ansteuerte: der immergleiche Widerspruch zwischen dem Selbstzweck der Anhäufung abstrakter ‚Arbeitsquanta’ einerseits und dem von der Konkurrenz erzwungenen Drang, ‚Arbeit’ überflüssig zu machen, andererseits“. „Das Schneeballsystem fiel völlig in sich zusammen, und auf die erste politisch-militärische folgte die zweite, nämlich ökonomische ‚Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts’“. |
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===== Inflation ===== |
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Der entstandene [[Fordismus]] konnte noch nicht nahtlos an die Erste industrielle Revolution anschließen. „So lagen Straßenbau, Energieversorgung, technologische Netzwerke für die neuen Medien und den Automobilismus weit hinter den Produktionsmethoden Fords zurück, und die dafür notwendigen gesamtgesellschaftlichen Investitionskosten konnten weder von der Privatwirtschaft noch von den durch die Kriegskosten erschöpften Staaten rasch genug aufgebracht werden. Nicht zuletzt benötigte der Fordismus einen intakten Weltmarkt und eine weitergehende internationale Verflechtung, um die Kapazitäten einer durchrationalisierten Industrie durch weltweite Absatzmärkte flexibel ausnutzen zu können, statt auf nationale Binnenmärkte beschränkt zu bleiben“. |
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Die kapitalistische Krise konnte „in weitaus geringerem Umfang als etwa noch in der ‚großen Depression’ der Gründerzeit durch einen ‚Rückzug auf das Land’, durch Subsistenzproduktion für den Eigenbedarf oder wenigstens entsprechende Hilfen mittels noch funktionierender Verwandtschaftsbeziehungen zwischen ländlicher und städtisch-industrieller Bevölkerung aufgefangen werden [..]. Inzwischen stand nicht nur die Masse der enorm angewachsenen städtischen Industriebevölkerung in keinem entsprechenden Verhältnis zur Landbevölkerung mehr, weder von den persönlichen Bindungen her noch rein zahlenmäßig, sondern auch der zunehmend kapitalistische Charakter der Landwirtschaft selbst […], die immer stärker auf den Weltmarkt ausgerichtet wurde, machte das flache Land als ‚Puffer’ der Krise wirkungslos“. |
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Zu dieser „inneren Dynamik der Krise“ kamen „die Kriegslasten und Kriegsfolgen hinzu, die das Desaster der ersten ‚Urkatastrophe‘ des 20. Jahrhunderts hinterlassen hatte“. Kurz ist allerdings der Ansicht, dass der Faktor der Kriegsfolgen nicht als „außerökonomischer“ interpretiert werden könne, da „der Weltkrieg gerade aus der ‚Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln‘ zwischen den kapitalistischen Nationalökonomien hervorgegangen“ sei. |
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[[Bild:50milliarden.jpg|thumb|250px|left|<small>'''Inflation 1923''': „Ein Bankguthaben von 60.000 Mark, dessen Zinsertrag noch im Jahre 1913 ein behagliches Leben im Ruhestand ermöglicht hatte, reichte im August 1923 nicht einmal mehr für den Kauf einer Tageszeitung aus“</small>]] |
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Da der Weltkrieg „so ungeheure Mittel verschlungen [hatte], daß sie schon nach wenigen Monaten in keinem kriegführenden Land mehr aus regulären Staatseinnahmen [...]finanziert werden konnten“, wurde „die Gold-Bindung der Währungen gekappt“. Es wurde „der Weg von Anleihen und staatlicher Kreditaufnahme in einer bisher unbekannten Dimension beschritten“. Aber auch „die ungeheuren Staatsanleihen reichten bei weitem nicht aus, um die industrielle Kriegsmaschine zu finanzieren“. „Die in großem Maßstab abgekoppelte Geldschöpfung ohne ‚Deckung‘ durch die kapitalistische Realakkumulation konnte nur zu einer Entwertung des Geldes selber führen - ein als [[Inflation]] bezeichneter Vorgang“. |
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Der „finanziell ruinierte Staat [versuchte] die ungeheuren Schulden bei seinen Bürgern (und teilweise auch im ‚befreundeten‘ Ausland) durch hemmungsloses Anwerfen der Notenpresse zu bedienen suchte, um den Schein eines geordneten Kreditwesens aufrechtzuerhalten. Dem stand ein durch die Kriegslasten drastisch vermindertes ziviles Warenangebot (bis hin zu einem Mangel an elementaren Lebensmitteln) gegenüber“. „Der ‚monetäre Rückstau‘ verwandelte sich in eine Flut des irregulären Geldes, die über die Gesellschaft hereinbrach und die Warenpreise immer schneller in die Höhe trieb. Die im Lauf des 19. Jahrhunderts mit seiner allgemeinen Goldbindung der Währungen selbst in der Wirtschaftswissenschaft vergessene inflationäre Krise des Geldes erfaßte nahezu ganz Europa und andere Teile der Welt; am wenigsten die USA, die relativ problemlos zum Goldstandard zurückkehren konnten“. |
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In Deutschland stiegen die „Preise stiegen bis in groteske Dimensionen an“. Die Folge war „eine völlige Zerrüttung des Geldsystems. Die tiefe Irrationalität des Kapitalismus brach in seiner geheiligten Grundform hervor und machte den Fetischismus dieses Gesellschaftssystems bis zur Lächerlichkeit sichtbar. Wie in einem verrückten Märchen wurden plötzlich alle Millionäre und Milliardäre, aber gerade dadurch ruiniert. Ein Brötchen kostete Tausende, schließlich Millionen und Milliarden Mark. Auf dem Höhepunkt der Inflation wurde das Geld schubkarrenweise ausgezahlt und mitgeführt“. |
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„Besonders in Deutschland drohte die Selbstzerstörung des Geldes bei weiterhin geltenden kapitalistischen Produktionsbedingungen in die offene Hungerkatastrophe der großen Städte zu führen, weil die Bauern sich zunehmend weigerten, Lebensmittel gegen wertloses Geld zu liefern und andererseits der Naturaltausch zwischen Stadt und Land nur begrenzt funktionieren konnte“. „Die Vernichtung eines Großteils der bürgerlichen Geldvermögen führte zu einem beispiellosen Massenruin der bisher ‚staatstragenden’ mittelständischen Schichten und Milieus“. |
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„Während die Massen und große Teile des Mittelstands verelendeten, spreizte sich eine kleine Schicht von spekulativen Krisengewinnlern in der obszönen Präsentation ihres luftigen Reichtums; und gerade diese Schicht von Neureichen war es, die mitten im Massenelend die Anfänge des technokulturellen ‚Konsumismus’ am weitestgehenden realisieren konnte und die Imaginationen des Zeitgeistes bestimmte“. |
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Nirgendwo „gab es eine emanzipatorische Alternative gegen das aberwitzige kapitalistische |
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System; die sozialistischen und kommunistischen Parteien waren und blieben ja weiterhin den kapitalistischen Grundkategorien verhaftet. Statt dessen blühten die Ressentiments, niedrigen Instinkte und irrationalen Krisenerklärungen auf wie im Treibhaus. Nicht emanzipatorische Kritik an den Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise war die Folge, sondern eine populistische ‚Spekulantenhetze’ quer durch das Parteienspektrum“. |
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„Besonders in Deutschland mit seiner einschlägigen Tradition weckte die Mischung aus Krisenangst, phantasmagorischen Projektionen und Spekulantenhatz den alten, tiefsitzenden Dämon des Antisemitismus“. „Zum ersten Mal in der Modernisierungsgeschichte entstand in Gestalt der ‚[[Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei|Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei]]’ (NSDAP) eine rechtsradikale Massenbewegung mit fundamental antisemitischer Selbstlegitimation, die den linken sozialistischkommunistischen Parteien nicht nur Konkurrenz machte, sondern sie sogar überflügeln konnte“. |
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„[[Adolf Hitler]] [...]griff die antisemitische deutsche Ideologiebildung seit den Zeiten der Aufklärung, die rassischen Wahnideen der Chamberlain, Treitschke, Wagner usw. nicht nur auf", sondern führte die Kriegsniederlage und Krise in seinem 1925 erschienenen Buch „[[Mein Kampf]]“ „direkt auf die ‚jüdische Blutvergiftung’ des ‚deutschen Volkes’ zurück“. |
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Tortz ihres irrationalen Charakters konnte diese Geschichts- und Krisendeutung „in Deutschland das Massenbewußtsein ergreifen“. „Die große Krise ließ in der ganzen Welt antisemitische, rassistische und sozialdarwinistische Stimmungen emporkommen, deren ideelle Grundlagen ja seit Aufklärungszeiten von den liberalen Stammvätern selbst gelegt worden waren; aber nur in Deutschland formierte sich eine politische Massenpartei mit genuin antisemitischer Legitimation, die durch demokratische Wahlen zur Macht gelangen konnte. Nicht nur große Teile des von der Inflation ruinierten deutschen Bürgertums griffen blindlings das antisemitische Deutungsmuster auf, sondern quer durch alle Klassen und Schichten pflanzte sich dieses bösartige Phantasma fort. Tatsächlich kam es die ganzen 20er Jahre hindurch [...] zu antisemitischen Straßenkrawallen ‚von unten’ und ohne massive Gegenbewegung“. Juden wurden „auf der Straße zusammengeschlagen und jüdische Geschäfte geplündert. Die Nazis konnten auf der Welle eines gesellschaftlich weitverbreiteten Antisemitismus schwimmen“. |
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===== Spekulationswelle und deflationäre Krise ===== |
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Zu diesem Zeitpunkt gelang es „den Regierungen, mit drastischen Sparmaßnahmen (um den Preis eines Abwürgens der ‚Inflationskonjunktur’), mit Währungsreformen (um den Preis der endgültigen Vernichtung großer Vermögensmassen) und mit einer teilweisen Rückkehr zum Goldstandard (um den Preis einer eingeschränkten Handlungsfähigkeit des Kreditsystems) die Inflation erst einmal zurückzudrängen. Allgemein war das Ziel die Rückkehr zum Goldstandard und damit vermeintlich zur Vorkriegs-‚Normalität’“. |
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Diese „Normalisierung“ lief „darauf hinaus, daß sich die Staaten bei ihren Bürgern als Gläubigern gewaltsam entschuldeten und damit einen gewaltigen Verarmungsschub auslösten“. So war in Deutschland „das Realeinkommen auf die Hälfte von 1913 gefallen“. |
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Es wurde eine beispiellose Spekulationswelle auf den „Aktien- und Immobilienmärkten“ ausgelöst. Dieser „spekulative historische Optimismus [machte sich] vor allem in den USA breit, die ja offenbar alle Voraussetzungen hatten, um zur ‚Lokomotive’ einer Weltkonjunktur der Zweiten industriellen Revolution zu werden“. |
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„Um diesen Spekulationspool sammelte sich ein wachsendes Heer von Kleinspekulanten […]. Zwar konnte selbst in den USA nach wie vor nur ein Teil der Bevölkerung auf Erspartes zurückgreifen; aber das genügte, um eine allgemeine spekulative Mentalität zu erzeugen und das Zocken an der Börse zum ‚Volkssport’ zu machen, zumal es möglich war, daran bei mangelnder eigener Liquidität mit Hilfe von Krediten teilzunehmen“. |
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Diese spekulative Welle war aber nach Ansicht Kurz’ „nur ein Anzeichen dafür, daß in Wirklichkeit die realen Großinvestitionen in die unausgereiften Strukturen der Zweiten industriellen Revolution ausblieben und das Geldkapital statt dessen in die Finanzmärkte drängte. Statt eines gesamtgesellschaftlichen Investitionsbooms in Maschinen, Fließbänder, Fabriken usw. wurde kurzerhand die imaginäre Zukunft selber direkt auf den Aktienmärkten kapitalisiert“. Diese „Blase des ‚fiktiven Kapitals’ [platzte] ebenso wie 1873 - nur der Knall war lauter und die Folgen verheerender. Der berühmte ‚[[Schwarzer Freitag|Schwarze Freitag]]’ […] sah den Zusammenbruch der New Yorker Börse. Es war der bis heute größte [[Börsenkrach|Crash]] in der Geschichte“. |
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„Der Spekulationswelle folgte eine beispiellose Selbstmordwelle, die jahrelang anhielt. Der aus dem Fenster springende ruinierte Spekulant wurde zu einer Art mythischer Figur im Bewußtsein der Zeitzeugen und der Nachwelt“. „Die einst von Adam Smith als segensreich gepriesene ‚unsichtbare Hand’ des Marktes schlug wie ein außer Kontrolle geratener Roboter das gesellschaftliche Leben kurz und klein. Denn der Ruin der Spekulanten nach dem ‚Schwarzen Freitag’ war nur der Auftakt zur bislang größten Depression der kapitalistischen Geschichte. Die vom Crash schwer getroffenen US-Banken mußten reihenweise ihre Geldanlagen aus dem Ausland zurückziehen, besonders natürlich aus Europa. Damit rissen die internationalen Kreditketten. Urplötzlich erwiesen sich immer mehr Kredite als ‚faul’, weil die Gläubiger, Sparer und Anleger um ihr Geld fürchteten und es schnellstmöglich einzutreiben versuchten, während umgekehrt die Schuldner ihre Kredite durch Spekulationsverluste und rasch zurückgehende reale Produktion nicht mehr bedienen konnten“. |
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[[Image:Lange-MigrantMother02.jpg|thumb|140px|Die Wirtschaftskrise stürzte viele Familien in bittere Not - Wanderarbeiterin in Kalifornien 1936]] |
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Der Prozeß der Abwärtsspirale „verlief in mehreren Schüben, jedesmal durch neue Zusammenbrüche von Banken eingeleitet […]. Besonders betroffen vom Abzug ausländischer Gelder war Deutschland, dessen Nettoinvestitionen in den Jahren vor 1929 zu fünfzig Prozent mit ausländischen, vor allem US-amerikanischen Krediten finanziert worden waren […]. Reihenweise bankrottierten Industrieunternehmen oder fuhren ihre Produktion drastisch zurück. In den USA stieg die Arbeitslosenquote auf 25 Prozent, in Deutschland auf über 40 Prozent. Ähnliche Größenordnungen wurden überall in der industrialisierten kapitalistischen Welt erreicht. Aber auch die agrarischen und rohstoffproduzierenden Länder wurden durch den drastischen globalen Rückgang von Produktion und Kaufkraft in den Strudel der Krise gerissen. Und überall sackte das Sozialprodukt dramatisch ab; in den USA um 30 Prozent und in Deutschland um mehr als 50 Prozent“. |
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Das Ergebnis dieser zweiten und größeren Welle der Weltwirtschaftskrise war ein „globaler [[Deflation|deflationärer]] Schock“. „In den USA irrten nahezu mittellose Massen in ihren Ford-Autos, dem einzigen noch verbliebenen Besitz, hilflos durch das Land auf der Suche nach Gelegenheitsjobs, um ein wenig Essen und Benzin zu verdienen […]. Außer diesen bizarren mobilen [[Slum]]s entstanden in den Vorstädten auch riesige neue Elendsviertel, die nie mehr ganz verschwinden sollten“. „In allen großen Industriestaaten schwoll die Zahl der Hungernden wieder an“. |
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Kurz zieht das Fazit, dass die Wirtsschaftskrise binnen kürzester Zeit die sozialen Standards wieder „auf das Niveau des 18. und frühen 19. Jahrhunderts“ zurückfallen ließ. „Dieser kapitalistische Alptraum machte natürlich auch vor der Kultur und selbst vor den minimalsten zivilisatorischen Errungenschaften nicht halt. Reihenweise wurden Schwimmbäder, Theater und kulturelle Institutionen geschlossen, die Etats der Bibliotheken und des gesamten Bildungswesens, der Krankenhäuser und der medizinischen Versorgung brutal zusammengestrichen. Die Entzivilisierung der gesamten kapitalistischen Welt nahm |
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Ausmaße an, wie sie selbst noch in der ersten, inflationären Phase der Krise niemand für möglich gehalten hätte“. |
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==== Diktaturen und „Krieg der Welten“ ==== |
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Kurz bezeichnet es als „Selbstbetrug“ und „Geschichtsklitterung“ der „bürgerlich-demokratischen Ideologie, daß sie die nun folgende dritte Runde der Weltkatastrophe im Übergang zur Zweiten industriellen Revolution von den innerkapitalistischen Widersprüchen möglichst weitgehend abzulösen sucht“. Die Kennzeichnung der Nazi-Diktatur als „Absturz einer westlich geprägten Zivilisation in eine Barbarei ohnegleichen“ ([[Wolfgang Mommsen|Mommsen]]), „wie eine typische Konsensformulierung nicht nur unter zeitgenössischen Historikern lautet, blockt von vornherein die Frage nach einem inneren Zusammenhang, einem gemeinsamen Kontext oder einer gemeinsamen Grundlage von Marktwirtschaftsdemokratie und Nazi-Verbrechen oder überhaupt staatsterroristischen Krisen und Modernisierungsdiktaturen der jüngeren Vergangenheit ab, in der das barbarische Moment der ‚westlich geprägten Zivilisation’ selber aufscheinen könnte“. Die Diktaturen des 20. Jh. würden in der bürgerlichen Erklärungsweise als das schlechthin „Andere“ und „Fremde“ behandelt, „das aus den Tiefen der Geschichte emporgestiegen ist und die dunkle, antizivilisatorische Seite des Menschen überhaupt repräsentiert“. Kurz hält dieses „Konstrukt“ für so „offenkundig projektiv und manichäisch, daß es verdächtig an die Struktur der Nazi-Ideologie selbst erinnert“. Bei einer Betrachtung der gesamten Modernisierungsgeschichte liege es nahe, „Kapitalismus, Liberalismus und Marktwirtschaftsdemokratie nicht als übergreifendes Positivum zu verstehen“, sondern als „negative und repressive Zwangsvergesellschaftung durch die monströse ‚schöne Maschine’ der ‚Verwertung des Werts’“. |
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[[Bild:KZ Birkenau Hauptgebäude 320x240.jpg|thumb|180px|left|<small>Für Kurz ist '''Auschwitz''' „die nicht mehr zu überbietende äußerste Konsequenz der liberalen Ideologie“</small>]] |
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Die Diktaturen des 20. Jahrhunderts wurzelten in der kapitalistischen Produktionsweise und seien „Erscheinungsform jener ‚eigentlichen und modernisierenden Revolution des liberalen Kapitalismus’ selbst“. „Aus dieser negativen, kritischen Perspektive kann besonders [[KZ Auschwitz-Birkenau|Auschwitz]] nur als die nicht mehr zu überbietende äußerste Konsequenz der liberalen Ideologie in der Tradition von Hobbes, Mandeville, de Sade, Bentham, Malthus u. Co. verstanden werden […]“. |
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Ihre „Naturalisierung und Biologisierung des Sozialen“ stelle „eine historische Schicht von Auschwitz“ dar. |
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[[Image:Arbeit macht frei.png|thumb|180px|<small>Die Parole „'''Arbeit macht frei'''“ über dem Tor von Auschwitz enthüllt für Kurz „das wahre Wesen jenes zu sich gekommenen Selbstbewußtseins der ‚Arbeit‘, das die Arbeiterbewegung stets als emanzipatorisches Prinzip mißverstanden hatte“.</small>]] |
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Kurz spricht von „einer Art Dr.-Jekill-und-Mr.-Hyde-Identität von Demokratie und Diktatur“. Die westliche Nachkriegsdemokratie sei „nichts anderes als die fortentwickelte und zur ‚zweiten Natur’ objektivierte Diktatur einer fetischistischen, in Wahrheit der menschlichen Vernunft hohnsprechenden Gesellschaftsmaschine“. In den Diktaturen des 20. Jahrhunderts habe sich „nur der liberale Terror des Frühkapitalismus auf höherer Stufenleiter der Entwicklung und mit verschobenen ideologischen Legitimationsmustern“ wiederholt. Schon in der Doktrin von Hobbes sei „die Identität von Liberalismus und Diktatur enthalten“ gewesen. Der „‚ökonomische Terror’ des Kapitalismus sollte verinnerlicht werden, bis schließlich das Menschenmaterial reif dafür gemacht wäre, eine demokratische Exekution dieses Terrors an sich selbst zu vollstrecken“. |
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Kurz weist an dieser Stelle darauf hin, dass die „friedliche Marktwirtschaft“ „in ihren objektivierten Wirkungen mehr Menschen- und nicht zuletzt Kinderopfer gefordert hat (und weiterhin fordert) als sämtliche äußeren Repressionen und Kriege aller modernen Diktaturen zusammengenommen“. Trotzdem würden „nur die letzteren Opfer als solche gezählt, während die ersteren in neutral dargestellten Statistiken gar nicht als Opfer erscheinen“. „Weil die Verbindung von Täter und Opfer nur bei äußerer Gewaltanwendung eine unmittelbare und direkt einsichtige ist, während die ökonomische Gewalt in ihren gesellschaftlichen Vermittlungen verschwindet und in der liberalen Ideologie als ‚Naturgesetzlichkeit’ erscheint, können sich die Täter und Exekutoren der ‚unsichtbaren Hand’ sogar als politische Moralisten aufspielen, die sich nicht einmal entblöden, die Welt zu Mitleid und Hilfe für die Opfer ihres eigenen Tuns in seiner blinden Gesamtresultante aufzufordern. Sie können sich dabei auf die massenhafte Verinnerlichung der kapitalistischen Pseudo-Natur […] verlassen und erkennen sich selber nicht mehr als die Verbrecher und Exekutoren eines diktatorischen Zwangs, die sie real sind“. |
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====Die „Abdankung“ des Bürgertums ==== |
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Entscheidend für die weitere Entwicklung ist für Kurz der seit dem Ersten Weltkrieg erfolgende Wandel des Verhältnisses des Bürgertums zum „System der ‚abstrakten Arbeit‘“. In der Zeit davor war dies „für das ‚unterständische‘ Menschenmaterial reserviert“. „Das alte Bürgertum hätte sich „nie auf eine Stufe mit den ‚hands‘, den Fabrikarbeitern, gestellt“; eher orientierte es sich in Europa „an den ‚gehobenen Tischsitten‘ und soziokulturellen Mustern des Adels“. Das Vetreter des Bürgertums begriffen sich selbst „noch nicht als bloße Funktionseliten eines verselbständigten Mechanismus“, hatten also „ein scheinbar äußerliches Verhältnis zum System der ‚abstrakten Arbeit‘“. |
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„Der industrielle Großkrieg mit seinen sozialen Einschmelzungsprozessen und Folgekrisen hatte |
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nun aber das bürgerliche Honoratiorentum in jeder Hinsicht ruiniert; nicht nur sozialökonomisch, |
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sondern auch ideell und soziokulturell“. Die „Erkenntnis, übermächtigen anonymen Kräften und ‚titanischen‘ Mächten eines unkontrollierbaren historischen Prozesses und einer verselbständigten Gesellschaftsmaschine als bloßes Objekt ausgeliefert zu sein, [...] war in das gesamte bürgerliche Bewußtsein gedrungen“. Daher konnte auch die „ständische Distanz zur industriellen ‚Arbeit‘ keinen Bestand haben“. Die Arbeiterbewegung verlor damit „das Privileg, sich als das alleinige organisierte Selbstbewußtsein der ‚abstrakten Arbeit‘ darstellen zu können. Dieses Selbstbewußtsein ging auf die nunmehr endgültig funktionell reduzierten Eliten über und erschien daher nicht mehr bloß in der linken, sozialistischen Ideologie, sondern auch in rechten, faschistischen und liberaldemokratischen Varianten“. |
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Kurz zieht die Schlussfolgerung, dass die „sozialistische Arbeiterbewegung [...] in der Zwischenkriegszeit weniger an politischen und taktischen Fehlern gescheitert ist. In Wahrheit machte die Abdankung des klassischen Bürgertums die Essenz der verkürzten sozialistischen Kapitalismuskritik für immer obsolet“. |
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[[Image:Lenin.WWI.JPG|thumb|180px|<small>Bereits '''[[Lenin]]''' propagierte die „Installation der kapitalistischen Selbstzweckmaschine“ und hatte im Prinzip schon die „fordistischen Zielsetzungen“ verinnerlicht </small>]] |
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==== Der „Staatskapitalismus“ der Sowjetunion ==== |
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Kurz betrachtet die Geschichte der „[[Staatskapitalismus|staatskapitalistischen]] [[Sowjetunion]]“ als „Prototyp der staatsökonomischen ‚nachholenden Modernisierung’ im 20. Jahrhundert“. Die Sowjetunion stand seiner Ansicht nach in einer doppelten „historischen Zwangslage“: |
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* Sie konnte „keinen grundsätzlich anderen Entwicklungspfad mehr einschlagen als den vom westlichen Kapitalismus vorgezeichneten, auch wenn sie sich kapitalismuskritisch legitimierte“. Die Sowjetunion war konfrontiert mit der „Präsenz des kapitalistisch vorausgeeilten Westens“, „und zwar nicht nur in technischer Hinsicht“; vielmehr „war auch das ‚Weltbewußtsein’ bereits ein kapitalistisch geformtes, das von kapitalistisch geprägten Medien kapitalistische Kategorien und Kriterien in die Intelligenz aller Weltregionen getragen hatte“. Der Marxismus der Sowjetideologie war so in der Sicht Kurz’ „keineswegs allein ein Produkt der russischen ‚Unterentwicklung’ unter dem Zarenregime, sondern vor allem eine Erscheinungsform des kapitalistisch domestizierten sozialistischen und Arbeiterklassen-Bewußtseins im allgemeinen (daher auch die Emphase der ‚Westernization’ bei Lenin und Stalin)“. |
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* Sie konnte „in einer von den Standards des zeitgenössischen Kapitalismus bestimmten Welt“ nicht einfach bloß denselben Prozess, den der Westen durchgemacht hatte, „mit derselben Geschwindigkeit wiederholen“, sondern musste „auf dem Niveau des 20. Jahrhunderts einsteigen“. Dieser Prozess musste „unter hohem Kapitaleinsatz bereits als industrieller stattfinden; und nicht nur als industrieller schlechthin, sondern unter den Bedingungen und in den Formen eines Protofordismus“. |
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Kurz ist daher der Meinung, dass das, was „heute als ‚Verbrechen des Kommunismus’ […] aufgelistet wírd“, nichts anderes gewesen sei als „die zeitlich komprimierte Wiederholung der frühkapitalistischen Schrecken“. „Die Hungersnot der frühen 30er Jahre mit Millionen von Toten war die Folge einer rigiden Industrialisierungspolitik, deren Kosten besonders aus der großen Masse der Landbevölkerung herausgepreßt wurden“. „Die Menschenopfer der sowjetischen Industrialisierung waren „einem gewaltsamen Aufbau von (staats)kapitalistischen Industriesystemen und der Durchsetzung von Normen der ‚abstrakten Arbeit’“ geschuldet. |
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Zur selben Zeit, als „der vorausgeeilte Westen im Strudel der Weltwirtschaftskrise versank und die Irrationalität eines entwickelten Kapitalismus sich an der massenhaften Stillegung der Produktion erwies, hatte die Sowjetunion hohe Wachstumsraten. Die aus der Bevölkerung herausgepreßten Mittel verwandelten sich in Geldkapital, mit dem im Ausland Investitionsgüter für die Industrialisierung eingekauft wurden“. |
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Die Sowjetunion hoffte darauf, „sich mit den Methoden frühkapitalistischer Grausamkeit an die Spitze der Weltentwicklung setzen zu können. Sie tat das mit der Emphase einer historischen ‚Berechtigung’, nämlich mit dem Willen der Nachzügler, sich nicht zum abhängigen und ausgebeuteten Hinterland der kapitalistischen Zentren degradieren zu lassen. Dieser Impuls, im Namen eines gleichberechtigten Eintritts in den industriellen Weltmarkt die Gegenwart der Zukunft aufzuopfern, trug dazu bei, den Leiden und Grausamkeiten einen relativen ‚Sinn’ zu verleihen und ihre mörderischen Konsequenzen zu verdrängen“. |
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Kurz konstatiert allerdings in der „sowjetischen ‚nachholenden Modernisierung’“, und in der Ideologie der „Arbeiterbewegung und der Linken überhaupt“ ein bis heute „uneingelöstes Moment“: den „Traum“ von der „freien und bewußten [[Selbstorganisation]]“, „von dem Marx einst gesprochen hatte und der sich nur dann einlösen läßt, wenn eine soziale Bewegung, die sich nicht mehr als das sich selbst verkaufende Vieh der Arbeitsmärkte definieren läßt, und eine theoretische Kritik des modernen Fetischsystems zusammenkommen“. |
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Der Begriff des „‚[[Sowjet]]’“ verweise auf diesen „sozialen Impuls, der rasch wieder verschwand und von den Brutalitäten der ‚nachholenden Modernisierung’ aufgesaugt wurde“. Es handelte sich „ursprünglich um die ‚Räte’, die Selbstverwaltungsorgane der Produzenten mit einem Anspruch, […] alle gesellschaftlichen Angelegenheiten, den Einsatz der Ressourcen und modernen Produktivkräfte, einem Diskussions- und Entscheidungsprozeß unter Beteiligung aller Gesellschaftsmitglieder zu unterwerfen. Dieser Anspruch einer umfassenden Selbstorganisation brach sich in der russischen Revolution nicht allein an einer mangelnden Entwicklung der Produktivkräfte, sondern mehr noch daran, daß das ‚Weltbewußtsein‘ unter Einschluß der sozialistischen Arbeiterbewegung bereits durchgehend kapitalistisch kontaminiert war“. Eine „bewußte Diskussion und gemeinsame Entscheidung über die Verwendung der Ressourcen ausgerechnet in den Kategorien einer blinden, selbstzweckhaften Gesellschaftsmaschine ist jedoch eine logische und praktische Unmöglichkeit. Insofern war es nicht einfach die Aushebelung der Räte durch die ‚Parteidiktatur‘, die das Projekt der gesellschaftlichen |
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Selbstverwaltung zerstört hat [..], sondern die Fesselung des Massenbewußtseins selber in den |
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Formen kapitalistischer Reproduktion“. |
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Im weiteren Verlauf der Entwicklung der Sowjetunion „degenerierten“ die Räte „schnell zu einer bloßen Attrappe der Selbstorganisation, indem die gesellschaftliche Reproduktion jener fordistischen Zielsetzung unterworfen wurde, welche die staatssozialistischen Protagonisten bereits verinnerlicht hatten“. |
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==== Die Keynesianische Revolution ==== |
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Nach der Weltwirtschaftskrise glaubte - so Kurz - fast niemand mehr „an die Doktrin der ‚unsichtbaren Hand’“. Es herrschte „in nahezu allen politischen und ideologischen Lagern eine ‚Atmosphäre der Feindschaft gegenüber dem Kapitalismus’ […], die aus bitteren Erfahrungen genährt war“. |
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Nach Kurz bezog sich aber diese „‚Kapitalismuskritik’ der Zwischenkriegszeit nirgendwo auf |
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den Kapitalismus als (warenproduzierendes) Selbstzweck-System, sondern immer nur auf seine |
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vergangene, obsolet gewordene Form des 19. Jahrhunderts“. „Die kapitalistischen Grundkategorien waren im Massenbewußtsein ebenso wie in der theoretischen Reflexion bereits [..] verinnerlicht“. |
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Die „Kritik“ drückte sich aus im Übergang „zu einer allgemeinen staatsökonomischen Regulation, zum Staat als wesentlichem Wirtschaftssubjekt“. Für die USA stellte „[[Franklin D. Roosevelt|Roosevelts]] [[New Deal]] den tiefsten Einschnitt in ihre Wirtschaftsgeschichte dar“. Roosevelt ging es mit diesem Programm darum, „das durch die Krise fast halbierte Einkommen der ländlichen Farmerbevökerung zu stabilisieren. Dies geschah in einer Weise, wie sie auf dem Agrarsektor immer wieder angewendet worden ist und heute z. B. das absurde Gesamtkunstwerk der Landwirtschaftspolitik in der Europäischen Union bestimmt: nämlich durch Reduktion des Angebots, um die Preise für Agrarprodukte künstlich hoch zu halten. In der Form staatlicher Regulation bedeutete dies, Prämien für die Reduzierung der Anbaufläche aus Staatsfonds zu zahlen“. |
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Ansonsten gehörte zu den Maßnahmen des New Deal „vor allem die Finanzierung öffentlicher |
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Arbeiten. Dabei handelte es sich wie in Nazi-Deutschland und in der Sowjetunion vor allem um |
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Projekte der Infrastruktur wie Straßen, Staudämme und Kraftwerke; die staatsökonomischen Ansätze |
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der Krisenbewältigung gingen so Hand in Hand damit, die bislang unzureichenden logistischen |
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Rahmenbedingungen für die Zweite industrielle Revolution zu schaffen, insbesondere für den Massenkonsum von Automobilen und neuen Medien“. |
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In Nazi-Deutschland wurden die staatsökonomischen Eingriffe „weitaus stärker als im New Deal vorangetrieben“. Die Hitler-Administration legte „eine ganze Reihe von ‚Arbeitsbeschaffungsprogrammen’ auf“. Diese standen dabei „von vornherein im Zeichen von Aufrüstung und Kriegsvorbereitung“. „Wenn Hitlers ‚[[Arbeitsschlacht]]’ die Wirkungen des New Deal übertraf, so war dies einer zunehmenden Rüstungskonjunktur geschuldet“. |
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Der „fordistische Durchbruch“ war „nicht anders als mit den mehr oder weniger stark wiederbelebten Finanzmethoden der Kriegswirtschaft anzusteuern. Damit wurden die Grundlagen für einen neuen, diesmal längerfristigen Umschlag des deflationären in einen inflationären Zyklus gelegt, in dem sich der kapitalistische Selbstwiderspruch bewegen und seine absolute Schranke noch einmal hinausschieben konnte“. |
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[[Image:John Maynard Keynes.jpg|180px|thumb|'''Keynes''' entwickelte die Theorie des „Deficit spending“]] |
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Parallel zu diesen Konjunkturprogrammen schuf der britische Ökonom [[John Maynard Keynes]] „die dazugehörige Theorie des ‚[[Deficit spending]]’“. Keynes zog „aus den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise den Schluß, das bis dahin gültige ‚klassische’ [[Saysches Theorem|Saysche Theorem]], daß das Angebot seine eigene Nachfrage schafft (also eine sich selbst überlassene ‚unsichtbare Hand’ der Märkte automatisch zum ‚Gleichgewicht’ der Vollbeschäftigung führen muß), sei falsch - oder zumindest nur ein Sonderfall in den ‚Wechsellagen’ der kapitalistischen Ökonomie. Keynes stellte demgegenüber fest, daß der Fall eines ‚negativen Gleichgewichts’ weit unterhalb der Vollbeschäftigung eintreten kann, sobald in einer Gesellschaft ‚zuviel’ Kapital akkumuliert worden ist, als daß es einen ausreichenden Anreiz zur realen Reinvestition geben könnte“. |
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Kurz bemerkt kritisch, dass Keynes selbst zugegeben habe, dass „es sich bei seiner Theorie „im Grunde nur um einen ‚Aufschub‘ der absoluten Grenze kapitalistischer Produktion handeln kann. Ebenso unfreiwillig enthüllt er die Absurdität der dem Kapitalverhältnis inhärenten Logik. [...] Nicht umsonst wählt Keynes die Metapher der ‚Pyramide‘, denn nur in offen sinnlosen Projekten konnte der kapitalistische ‚Investitionismus‘ weitergetrieben werden: ‚Zwei Pyramiden, zwei Steinhaufen für die Toten, sind doppelt so gut wie einer, aber nicht so zwei Eisenbahnen von London nach York‘ [..]. Bei anderer Gelegenheit prägte Keynes sogar das ‚Bonmot‘, besser als in der Krise gar nichts zu tun sei es, ‚leere Bierflaschen mit Zehnpfundnoten in stillgelegten Bergwerken zu vergraben und sie von Unternehmern wieder ausbuddeln zu lassen‘“. |
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„Die erste große Runde des ‚Keynesianismus‘ mündete in einen neuen Rüstungswettlauf, den Hitlers Turbo-Rüstung und offene Kriegsvorbereitung eingeleitet hatte. Da die zivile fordistische Basis noch weitgehend fehlte und auch nicht aus sich heraus durchgesetzt werden konnte, war wieder einmal der Krieg der Vater aller Dinge. Nur so konnte [...] der fordistische Durchbruch erzielt werden. Hitler war gewissermaßen der Exekutor dieser mörderischen ‚List‘ einer Geschichte, die ihr dunkelstes Kapitel zu schreiben begann“. |
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Die Provokation des Westens durch Hitler „führte wenigstens dazu, daß die kapitalistischen Westmächte ein ungeliebtes Bündnis mit dem sowjetischen Staatskapitalismus eingehen mußten. So konnte gerade noch der Absturz des Kapitalismus in eine globale Barbarei ohnegleichen verhindert werden. Das war keineswegs zwangsläufig. Es ist sehr zu bezweifeln, ob der Judenmord der Nazis allein gereicht hätte, um diese Konstellation herbeizuführen“. |
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„Der [[Zweiter Weltkrieg|Zweite Weltkrieg]], der eigentliche Durchbruch der Zweiten industriellen Revolution, übertraf an Vernichtungskraft die erste, die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bei weitem. [...] Und wieder ‚glänzte‘ der industrielle Krieg auf dem nunmehr fordistischen Niveau durch eine Beschleunigung von technischen Innovationen: Radar und |
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Düsenflugzeug, Raketen als Vorstufe der Raumfahrt und nicht zuletzt Kernenergie und Atombombe |
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erschienen als technologische Speerspitzen einer genuin kapitalistischen Horrorform der Produktivkraftentwicklung“. Kurz zieht das Resümee: |
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:''„Dieser neuerliche Triumph der ‚schönen Maschine‘ kostete insgesamt 55 Millionen Menschen das Leben, große Teile Europas und Asiens wurden verwüstet. Aber merkwürdig: Die abermaligen und ungeheuerlichen ‚Kosten der Modernisierung‘, die quantitativ wie qualitativ allen bisherigen Terror und Horror des Kapitalismus übertrafen, riefen kein geistiges Echo der tiefen Erschütterung mehr hervor wie noch die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs. Die zweite blutige Geburt der fordistischen Welt ging intellektuell und kulturell auf eine gespenstisch stumme Weise vor sich. Es war, als liefe das bis ins Mark demoralisierte Menschenmaterial geradezu gleichgültig und bereits roboterhaft kalt durch eine Feuerwand in den kommerziellen, endgültig entgeistigten Stumpfsinn des kommenden trostlosen Konsumparadieses hinein. Ahnungsvoll heißt es in einer zeitgenössischen Verszeile von Karl Kraus: Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte“.'' |
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=== Kapitel 7: Das System der totalitären Weltmarkt-Demokratien === |
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Nach dem Zweiten Weltkrieg schien - so Kurz - der Kapitalismus wie „ein Phönix aus der Asche“ emporzusteigen. Es hatte den Anschein, dass die „Weltmaschine auf einmal ganz gegen ihren bisherigen Lauf tatsächlich so etwas wie ein ‚goldenes Zeitalter’“ hervorbringen würde. Alle kapitalistischen Zentren „erlebten diese Nachkriegsprosperität in größerem oder geringerem Umfang. Auch für die übrige Welt schien sich damit eine positive Perspektive zu eröffnen“. |
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In Deutschland, „wo der Fall ein besonders tiefer gewesen war, prägte sich sogar das Zauberwort vom ‚[[Wirtschaftswunder]]’ ein; eine verdächtige Begriffsbildung, die schon anzeigt, daß es sich um eine außergewöhnliche, für das herrschende System eigentlich anomale und daher auch vorübergehende Erscheinung handeln mußte“. |
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==== Der Übergang zum Nachkriegsfordismus ==== |
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Für Kurz muss dieses „Wunder“ allerdings schon „rein immanent betrachtet“ aus zwei Gründen relativiert werden: |
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# Der Konsumreichtum war „für den durchschnittlichen Menschen niemals anders als bescheiden zu nennen. Überwältigend war der Eindruck der Konsumflut nur gemessen an den vorherigen Erfahrungen von einem halben Jahrhundert kapitalistischer Weltkatastrophen“. |
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# Selbst in den „reichsten kapitalistischen Industriestaaten auch in dieser Epoche der Prosperität [wurde] ein Bodensatz von Armut niemals gänzlich abgebaut [..]; schon gar nicht in den USA, der neuen ersten Welt- und westlichen Führungsmacht“. Die „in der Weltwirtschaftskrise neu gebildeten Slums [verschwanden] nur teilweise; es gab ausgedehnte Armutsgebiete im Süden, vorwiegend in Alabama und Mississippi, und große Teile der schwarzen Bevölkerung im ganzen Land sind überhaupt niemals aus Armutsverhältnissen herausgekommen. Dasselbe gilt für bestimmte englische und französische Randbezirke und ländliche Regionen, für den italienischen Mezzogiorno usw“. „Auch in der wirtschaftswunderbaren BRD bis Mitte der 70er Jahre hielt sich hartnäckig eine gewisse Armutspopulation als gar nicht so kleine Randgruppe. [..]: vorwiegend Menschen aus den sogenannten ‚strukturschwachen’ Gebieten im ländlichen Raum, Rentner und vor allem alleinstehende Rentnerinnen (‚Altersarmut’), Delinquente, Heimkinder und andere Opfer zerrütteter Verhältnisse im sozialen Mikrobereich. Schon damals wurden eine halbe Million Obdachlose im Wunderland gezählt“. |
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Kurz entscheidende Kritik ist jedoch, dass „die reale Erfahrung des fordistischen Massenkonsums [..] sich weitgehend auf jene Handvoll Industriestaaten [beschränkte], in denen die Zweite industrielle Revolution wirklich flächendeckend greifen konnte. Der größte Teil der kapitalistischen Peripherie ist nie über partikulare Ansätze des Fordismus hinausgekommen. Das gilt insbesondere für die sogenannte [[Dritte Welt]] in Asien, Afrika und Lateinamerika“. |
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Im asiatischen und afrikanischen Raum „setzte sich die seit 1918 begonnene [[Entkolonisierung]] nach dem Zweiten Weltkrieg in großen Schüben fort; teils erzwungen durch blutige Unabhängigkeitskriege gegen die letzten Kolonialmächte (vor allem in Indochina und Algerien gegen Frankreich), in der Mehrzahl der Fälle jedoch durch die einigermaßen friedliche ‚Entlassung in die Unabhängigkeit’“. Für die „postkolonialen Eliten der ‚jungen |
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Nationalstaaten’“ stand nun der Versuch auf der Tagesordnung, „den industriekapitalistischen Westen nachzuahmen und damit eine nachholende Modernisierung in Gang zu setzen“. |
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Der „zum Jahrhundertkonflikt aufgeblasene Gegensatz von westlichem Privatkapitalismus und östlichem Staatskapitalismus, der diese Zeit zur Epoche des [[kalter Krieg|kalten Krieges]] werden ließ, verzerrte die Wahrnehmung ideologisch. Dieser historisch immanente Gegensatz verdeckte den gemeinsamen Bezugsrahmen des warenproduzierenden Weltsystems als Gegenstand einer ebenso gemeinsamen negativen und destruktiven Daseinsweise“. |
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Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm v.a. die Beschäftigung in der Landwirtschaft drastisch ab, was „auf deren weitgehende Industrialisierung und ‚Vermarktwirtschaftlichung’ zurückzuführen ist“. Der Anteil „der sogenannten Dienstleistungen oder des ‚tertiären Sektors’“ explodierte. |
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Die „gesamtgesellschaftliche ‚Erwerbsquote’ (im Sinne kapitalistischer Reproduktion) nahm [..] stark zu, was wiederum bedeutet, daß von einem industriellen Arbeitsplatz weniger Personen ohne kapitalistische Erwerbstätigkeit abhingen. Oder anders ausgedrückt, daß die Bevölkerung insgesamt in einem höheren Maße der kapitalistischen Gesellschaftsmaschine ausgeliefert war“. |
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Bis ca. 1950 war „der Markt kein einheitlich kapitalistischer, sondern die großen nationalen und internationalen Märkte waren verschränkt mit lokalen ‚Familienmärkten’ ohne Dominanz kapitalistischer Kriterien der ‚abstrakten Arbeit’; andererseits war der durchschnittliche Haushalt immer noch in vieler Hinsicht eine ‚Wirtschaft’“, die auch selber Bedarfsgüter produzierte“. |
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Der Nachkriegs-Fordismus schuf nun eine „flächendeckende Erzeugung und Distribution aller Gebrauchsgüter durch das fordistische Industriekapital und seinen ‚Arbeitsstaat’“ und brachte diesen „traditionelle Sektor“ fast völlig zum Verschwinden. „Die jetzt erst massenhafte Kreation der neuen Konsumgegenstände von Automobilen sowie Unterhaltungs- und Haushaltselektronik [...] ging also mit der sukzessiven Vernichtung der hauswirtschaftlichen Elemente von Subsistenzproduktion und der bedarfswirtschaftlichen lokalen Familienproduktion einher“. |
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Die Durchsetzung der „Zweiten industrielle Revolution“ als „allgemeine sozialökonomische Reproduktionsform“ hatte nach Kurz „den Zweiten Weltkrieg und die damit verbundenen Elemente der diktatorischen ‚Arbeitsschlacht’“ zur Voraussetzung. Dort wurden erst die technischen, organisatorischen und der notwendige „Durchdringungsgrad von Staatsverwaltung und Wirtschaft“ geschaffen. |
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Es galt nun, „die kriegswirtschaftlichen Strukturen diesmal nicht wieder abzubauen oder bloß halbherzig weiterzuführen, sondern sie über die numerische Steigerung der Staatsquote am Sozialprodukt hinaus in ‚zivilökonomische’ Regulationsformen zu überführen und zu einem dauerhaften System auszubauen“. |
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==== Der totalitäre Markt ==== |
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Kurz sieht die „Zweiten industriellen Revolution“ wesentlich durch den Begriff des „Totalitären“ oder des „[[Totalitarismus]]“ gekennzeichnet. Kurz wirft den gängigen Totalitarismus-Theorien vor, dass in ihnen der Begriff „totalitär“ nur im „staatlich-politischen“ Sinne definiert werde, „während der ökonomische völlig ausgeblendet bleibt. Danach kann es einen totalitären Staat geben, aber anscheinend keinen totalitären Markt, keine totalitäre Ökonomie, keine totalitäre Produktionsweise - ein Denken, dessen Axiom darin besteht, daß eigentlich nur Staat und Politik in den Bereich des Gesellschaftlichen fallen, während die Ökonomie in guter liberaler Tradition der ‚Natur’ angehört und insofern aus der Gesellschaftstheorie im strengen Sinne herausfällt“. |
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Kurz wendet dagegen ein, dass der politische Totalitarismus seine Grundlage in einem ökonomischen habe. So sei „sowohl die stalinistische als auch die Nazi-Diktatur ebenso wie der italienische Faschismus auf dem Boden des warenproduzierenden Systems entstanden“ und gehörten „der Durchsetzungsgeschichte der Zweiten industriellen Revolution“ an. |
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Diese Diktaturen dürften „nicht nur als Durchgangsstadien der kapitalistischen Demokratie selber betrachtet werden, sondern auch als Momente eines übergreifenden Totalitarismus, der seine Wurzel im ökonomischen Zentrum des Kapitalverhältnisses hat. Insofern wäre die liberale Weltmarkt-Demokratie nicht die Überwindung und nicht der Gegensatz totalitärer Herrschaft, sondern ihre Vollendung“. |
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Für Kurz sind die tiefer liegenden Ursachen des politischen Totalitarismus „zum einen in den |
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ökonomischen Formbestimmungen von nunmehr ‚totaler Kommerzialisierung‘, ‚totaler Konkurrenz‘, ‚totaler Arbeit‘ etc.“ zu suchen, „zum andern in den sachlichen, stofflich-materiellen, bis zur Mikro-Ebene des Alltags reichenden Ablagerungen dieser totalitären kapitalistischen Daseinsform“. In diesem Sinne sind für Kurz „eigentlich erst die marktwirtschaftlichen Nachkriegs-Demokratien wirklich totalitäre Gesellschaften zu nennen, weil die fordistische Versachlichung des totalitären kapitalistischen Anspruchs erst in dieser Zeit und in dieser Form zum flächendeckenden Systemzusammenhang ausgereift war“. |
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Kurz nennt verschiedene Beispiele des Alltags, in denen sich dieser Totalitarismus niederschlage: „Ob Kinder und alte Leute hilflos vor den Fahrkartenautomaten mit ihrer grotesken Preiskomplexität stehen, ob die Konsumenten an den Funktionsweisen ihrer Geräte herumrätseln, um den vorgesehenen Gebrauch vollziehen zu können, ob die ‚Beschäftigten‘ in riesigen Fertigungsketten Dinge zusammenfügen, deren Sinngehalt völlig außerhalb ihrer Bestimmungsmöglichkeiten liegt: auf Schritt und Tritt folgt der weltweit realisierte fordistische Mensch den zur objektiven ‚Umwelt‘ geronnenen kapitalistischen Zeichensystemen, bleibt stehen, wenn es verlangt wird, setzt sich in Bewegung, wenn das Signal dafür aufleuchtet, empfindet Mitleid oder Empörung, wie die Medien es überwältigend vorprogrammieren, trifft ‚persönliche Entscheidungen‘, deren Alternativen längst aufbereitet sind und nur noch ‚angekreuzt‘ werden können“. |
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=== Kapitel 8: Die Geschichte der Dritten industriellen Revolution === |
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=== Epilog === |
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Das Schlusskapitel des Buches endet in der pessimistischen Prognose, dass „der ‚Bewusstseinssprung‘ nicht mehr vollzogen wird, der für eine neue soziale |
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Emanzipationsbewegung erforderlich wäre“, die zu einer Überwindung des Kapitalismus' führen könnte. Dieser sei aber dennoch nicht überlebensfähig, da der Funktionsmechanismus der „schönen Maschine“ nicht veränderte werden könne. Kurz befürchtet als Konsequenz „die unaufhaltsame Entzivilisierung der Welt, wie sie jetzt schon überall sichtbar wird“. Als einzige Handlungsalternative sieht er in einer solchen Situation „eine Kultur der Verweigerung“. Diese bedeute, „jede Mitverantwortung für ‚Marktwirtschaft und Demokratie‘ zu verweigern, nur noch ‚Dienst nach Vorschrift‘ zu machen und den kapitalistischen Betrieb zu sabotieren, wo immer das möglich ist“. |
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== Verwandte Themen == |
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* [[Schwarzbuch des Kommunismus]] |
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* [[Schwarzbuch Markenfirmen]] |
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== Weblinks == |
== Weblinks == |
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*[ |
* [https://www.exit-online.org/pdf/schwarzbuch.pdf ''Schwarzbuch Kapitalismus''.] (PDF; 2,4 MB) exit-online.org |
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* [[Stephan Grigat (Politikwissenschaftler)|Stephan Grigat]]: [http://www.cafecritique.priv.at/kurz.html ''Robert Kurz „Schwarzbuch Kapitalismus“''.] In: ''Streifzüge'', 2/2000 |
|||
*http://home.pages.at/der-stoerenfried/zeitung/a02/10.htm |
|||
* [[Michael Heinrich (Politikwissenschaftler)|Michael Heinrich]]: [http://www.oekonomiekritik.de/600Blase.htm ''Blase im Blindflug. Hält das „Schwarzbuch Kapitalismus“ von Robert Kurz, was der Titel verspricht?''] In: ''Konkret'', März 2000, S. 40–41 |
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*http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/co/5659/1.html |
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*[http://gegenstandpunkt.com/gs/00/3/gs003195.html R. Kurz: "Schwarzbuch Kapitalismus - ein Abgesang auf die Marktwirtschaft": Die Intellektuellenfibel für den Abgesang auf Kapitalismuskritik] eine marxistische Rezension des Buches in der Nummer 3/2000 der Zeitschrift "[[GegenStandpunkt]]" |
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== Literatur == |
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* Robert Kurz: ''Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft''. Ullstein, München 2001, ISBN 3-548-36308-3 |
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== Anmerkungen und Einzelnachweise == |
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==Siehe auch== |
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<references /> |
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*[[Wertkritik]], [[Wert]] |
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*[[Marxismus]], [[Postmarxismus]], [[Kommunismus]] |
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[[Kategorie:Literatur (20. |
[[Kategorie:Literatur (20. Jahrhundert)]] |
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[[Kategorie:Literatur (Deutsch)]] |
[[Kategorie:Literatur (Deutsch)]] |
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[[Kategorie: |
[[Kategorie:Philosophisches Werk]] |
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[[Kategorie: |
[[Kategorie:Wertkritik]] |
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[[Kategorie: |
[[Kategorie:Globalisierungskritische Literatur]] |
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[[Kategorie:Farbbuch]] |
Aktuelle Version vom 26. Mai 2025, 01:13 Uhr

Das Schwarzbuch Kapitalismus (Untertitel: Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft) ist eine 1999 erschienene Monographie von Robert Kurz, die sich kritisch mit der Geschichte und der Zukunft des Kapitalismus auseinandersetzt. Es gilt als das Hauptwerk des der Wertkritik zuzurechnenden Autors und löste eine Debatte über die vorgenommene Beschreibung der Entstehungsgeschichte des Kapitalismus, seine Gegenwartsdiagnose sowie über die Folgen der Kritik an den herrschenden Verhältnissen aus.
Überblick
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Grundgedanken
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im Zentrum des Schwarzbuches steht die „Soziale Frage“ der Gegenwart. Der Kapitalismus treibe gegenwärtig auf eine „ausweglose Situation“ zu; die Marktwirtschaft werde mit ihren Produktivitätssprüngen – Automatisierung und Globalisierung – nicht mehr fertig. Der Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten sinke, die Arbeitslosigkeit nehme zu und der Ausweg in die Dienstleistungsgesellschaft erweise sich als Illusion. Wenn der notwendige „Bewusstseinssprung“ unterbleibe, drohe letztlich eine „Wegrationalisierung“ des Menschen und eine zunehmende „Entzivilisierung der Welt“.
Kurz ist der Ansicht, dass der Kapitalismus bezüglich der Wohlfahrtssteigerung eine „verheerende“ Gesamtbilanz aufweise (S. 7).[1] Zwar beschleunige der Kapitalismus die Entwicklung der Produktivkräfte, eine Steigerung der Wohlfahrt aber sei damit jedoch „merkwürdigerweise immer nur zeitweilig verbunden“ gewesen, begrenzt auf „bestimmte soziale Segmente und Weltregionen“ (S. 7). Der Kapitalismus sei niemals imstande gewesen, die von ihm hervorgebrachten Potenzen für eine Verbesserung des Lebens aller Menschen anzuwenden.
Um eine neue, andere Alternative wieder denken zu können, müsse der als Naturfaktum auftretende, „scheinbar ahistorisch gewordene Kapitalismus“ historisiert werden (S. 5). Zu diesem Zweck analysiert Kurz die Geschichte des Kapitalismus von ihrem Beginn im 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Er geht von einer Prägung durch drei große industrielle Revolutionen aus: die Ersetzung der menschlichen Muskel- durch Maschinenkraft in der ersten, die Rationalisierung der menschlichen Arbeit in der zweiten und die Automatisierung, wodurch die menschliche Arbeitskraft überflüssig gemacht werde, in der dritten industriellen Revolution.
Der zentrale Motor der Geschichte war dabei für Kurz die Selbstunterwerfung des Menschen unter den ökonomischen Prozess der Geldvermehrung, was er mit dem von Adam Smith geprägten Bild der „schönen Maschine“ (S. 41) umschreibt. Deren „völlig unpersönlicher“ (S. 41) und „blinder Mechanismus“ werde als quasi „Naturgesetzlichkeit“ unreflektiert vorausgesetzt. Das einzige „Ziel“ der „schönen Maschine“ sei die „Verwertung des Werts“ (S. 85), die unaufhörliche Anhäufung von „Geld“ und „Quanten abstrakter Arbeit“ (S. 145). Mit diesem von Karl Marx übernommenen Begriff charakterisiert Kurz die Unterwerfung unter eine Form des Produzierens, die letztlich „sinnvergessen“ (S. 16) sei, da es nicht mehr auf ihre Inhalte ankomme, sondern nur noch um die „Verausgabung von Arbeitskraft schlechthin“, die Auslieferung an den „abstrakten Selbstzweck des Geldes“, um eine „fremdbestimmte, jenseits der eigenen Bedürfnisse und außerhalb der eigenen Kontrolle liegenden Tätigkeit“. Das Festhalten an diesem Prinzip der „abstrakten Arbeit“ bilde letztlich die große Gemeinsamkeit aller Gesellschaften und ihrer Kritiker seit Beginn der Neuzeit. Selbst die Vertreter der bürgerlichen Revolutionen und der Arbeiterbewegung hätten sich von diesem Paradigma nicht lösen können.
Einordnung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Werk ist im Kontext des „Manifest gegen die Arbeit“[2] und anderen Publikationen von Autoren der kapitalismuskritischen Zeitschrift Krisis zu sehen.[3]
Es ist eingebettet in eine von Kurz vertretene Zusammenbruchstheorie.[4] Den Ausgangspunkt bildet seine Publikation Der Kollaps der Modernisierung (1991), in der Robert Kurz „den Zusammenbruch des Staatssozialismus und das Ende der traditionellen marxistischen Weltinterpretation“ untersucht. Das Schwarzbuch Kapitalismus ist hierbei Aufarbeitung der „kapitalistischen Geschichte“ als eine Abfolge von drei industriellen Revolutionen – mit dem Fokus auf die Darstellung der „Schübe der Produktivkräfte“ und der „Ideologiegeschichte“. Die Fortsetzung zum „Schwarzbuch“ stellt eine Trilogie zum Prozess der Globalisierung dar: „Weltordnungskrieg“ ist eine Aufarbeitung der „traditionellen Imperialismusdebatte“, „Das Weltkapital“ eine Analyse der Globalisierungsdebatte. Hinzu kommt eine – bisher unveröffentlichte – Darstellung der Rolle der USA in der Weltwirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg.
Rezeption
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Kurz’ Buch und seine grundlegende Kritik am Kapitalismus sind provokativ. Entsprechend kontrovers und teilweise polemisch fällt die Rezeption insbesondere der Presse aus. Von einigen wird das Schwarzbuch Kapitalismus als bedeutender Beitrag zur Zeitkritik aufgefasst und wegen seines historischen Detailreichtums sowie gerade aufgrund der umfassend historischen Herangehensweise gelobt. Kritisiert wird dagegen, dass Kurz den Begriff 'Kapitalismus’ unreflektiert verwende. Auch sei seine angestrebte Historisierung selektiv, teilweise verfälschend oder sogar überhaupt der falsche Ansatz. Seine Schlussfolgerungen stoßen ebenfalls auf Widerspruch. Trotz seiner grundlegenden und historischen Abrechnung gehe er die bestehenden Defizite des Kapitalismus nicht an. Seine Forderung nach einem Rätesystem sei problematisch, genauso wie die nach einer Systemverweigerung des Einzelnen. Wirklich praktische Konsequenzen ziehe Kurz aus seinen Erkenntnissen nicht.
Theorie und Inhalt
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Kulturgeschichtliche Grundlagen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Geistesgeschichtliche Entwicklung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Kurz beginnt seine historische Analyse des Kapitalismus mit dem Anfang des 17. Jahrhunderts, in dem sich ein Gesellschaftsmodell der „totalen Konkurrenz“ (S. 18) entwickelt habe. Dessen zugrunde liegendes Welt- und Menschenbild sei seiner Meinung nach „für das gesamte westliche Denken der Moderne bis zum heutigen Tag hegemonial“ geworden.
Das aufstrebende marktwirtschaftliche Unternehmertum habe sich eine starke gesellschaftliche Stellung gesichert. Gleichzeitig habe es sich jedoch „nicht mehr an die traditionelle Struktur der autoritären Hierarchie gebunden“ (S. 18) gefühlt und seine eigene „Herrschaftsideologie“ zur Legitimierung seiner spezifischen Interessen entwickelt.

Der „große Stammvater des Liberalismus“ (S. 18) ist für Kurz Thomas Hobbes. Da jener den Menschen als ein prinzipiell von Natur aus egoistisches Wesen auffasse, der sich natürlicherweise in einem „Krieg aller gegen alle“ (bellum omnium contra omnes) (S. 20) befinde, bedürfe es laut Hobbes einer übergeordneten Macht, des Staates, der den „menschlichen Raubaffen zur negativen Gesellschaftlichkeit zähmen sollte“ (S. 21). Dieser Rechtfertigungsgedanke des „absoluten Staates“ finde sich laut Kurz bis heute (S. 22). „Freiheit“ bestehe für Hobbes vor allem darin, „zu kaufen und zu verkaufen und miteinander Handel zu treiben“ (S. 19), nicht etwa in der Möglichkeit, „sich nach eigenen Bedürfnissen und Vereinbarungen kooperativ zu verhalten“.
Die Wendung des Konkurrenzstrebens zu einer positiven Eigenschaft – was Kurz als „Umwertung aller Werte“ (S. 25) bezeichnet – sei durch Bernard Mandeville vorgenommen worden. Durch gegenseitige Konkurrenz könnte der naturgemäß faule, egoistische und geldgierige Mensch eine Gesellschaft im Endresultat zu einer „blühenden Gemeinschaft“ (S. 25) machen. Dabei wird das „Mit-Fühlen und Mit-Leiden bei Unglück und Elend anderer“ zu einem Gefühl der „schwächlichsten Gemüter“ erklärt, dem die „Männer des Marktes“ nicht nachgeben dürften (S. 27).
Übertroffen, so Kurz, werde dieser Zynismus von Marquis de Sade, der die Ideologie vom „Recht des Stärkeren“ in einer radikalisierten Gestalt bis hin zum Mord vertritt (S. 31). Jegliches soziale Mitleid werde von De Sade als eine negative „Natureigenschaft“ der Frauen gebrandmarkt (S. 32). Durch die Reduzierung der Sexualität auf die Verrichtung des Koitus verwandele er sie „gewissermaßen in einen (analog zum kapitalistischen Produktionsprozess) maschinellen Vollzug“ (S. 34).
Nach Kurz stellten die Ansichten von Immanuel Kant insofern eine weitere Steigerung dar, als bei diesem die Konkurrenz egoistischer Einzelner als Entwicklungsgesetz der Menschheit schlechthin unterstellt werde. Kant betrachte den Mechanismus des weltumspannenden Kapitals „als ein Werk der ‚Hand Gottes‘“, als „Resultat eines von göttlicher Vorsehung bestimmten Gesamtzusammenhangs, einer ‚höheren Natur‘ des Systems“ (S. 38).
Dieser Gedanke des „weisen Schöpfers“ führe dann zu der „unsichtbaren Hand“ der Theorie von Adam Smith. Dieses Sinnbild zeige nach Kurz auf, „wie das Weltbild der modernen Ökonomie systematisch auf dem der mechanischen Physik aufbaut“. Smith beteuere, dass „durch den besessenen Aktivismus der kapitalistischen ‚Macher‘ die größtmögliche Verbesserung und die bestmögliche Verteilung“ erzielt werde, so dass sich jede Kritik erübrige. Dabei werde die „unabhängige und für sich seiende ‚Schönheit der Ordnung‘ und den Glanz der ökonomischen ‚Maschine‘, der regelmäßigen und harmonischen Bewegung des Systems‘“ verherrlicht. Smith entwickelte das Weltbild der modernen Ökonomie, das letztlich auf dem der mechanischen Physik aufbaue. Die Tätigkeit dieser neuen „Nationalökonomie“ besteht für Kurz darin, die kapitalistische Ökonomie mit dem Anspruch der Naturwissenschaft zu erforschen und gleichzeitig ihre eigene Existenznotwendigkeit stets aufs Neue zu „beweisen“.
Das ethische Prinzip des „größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl“ von Jeremy Bentham propagiere eine Gesellschaft, „die jedem Menschen das Recht gibt bzw. geben sollte, ‚sein Glück zu machen‘“ wie es auch in der Formel des pursuit of happiness in die Unabhängigkeitserklärung der USA Eingang gefunden habe. Der objektive Maßstab für Glück sei letztlich das Geld, wobei nach Bentham das Eigentumsrecht in keiner Weise angetastet werden dürfe.
Biologistischer Unterbau
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Eine zentrale Entwicklung im 19. Jahrhundert ist für Kurz der Darwinismus, der einen für die moderne Naturwissenschaft typischen Charakter aufweise:
- „Eine wirkliche große Entdeckung verschmolz vollständig mit einem irrationalen ideologischen Impuls und unreflektierten Interessen des kapitalistischen Fetisch-Systems, um sich schließlich mit einer enormen Zerstörungskraft aufzuladen“ (S. 154).
Kurz sieht Darwin in der Tradition der Aufklärung und ihrem Programm der „Vernaturwissenschaftlichung“ der Welt (S. 155). Die Freigeister hätten jedoch keine echte Aufklärung im Sinn gehabt: die scheinbare Aufhebung der Religion durch die Naturwissenschaften sei nur der intellektuellen Elite vorbehalten gewesen bzw. habe doch nur einer raffinierteren Form der Gängelung und Selbst-Disziplinierung der Massen gedient.
Darwin habe geglaubt, den Mechanismus für die Evolution, d. h. die allmähliche Veränderung und Höherentwicklung der Lebewesen, im ‚Kampf ums Dasein‘, d. h. in der Selektion gefunden zu haben. Die Rückprojektion dieser Lehre auf die Gesellschaft sei eine willkommene ‚naturwissenschaftliche‘ Rechtfertigung für das kapitalistische Konkurrenzkonzept gewesen. Der sogenannte „Sozialdarwinismus“ sei dann schon bald von „imperialistischen Ideologen wie Friedrich Naumann, Walther Rathenau oder Max Weber“ zur Formulierung deutscher Weltmachtansprüche verwendet worden.
Für Kurz verbinden sich Darwinismus und Kapitalismus in den „Eugenik“-Bewegungen, die eine „wissenschaftlich“ basierte menschliche „Zuchtwahl“ hätten entwickeln wollen. Der Sozialdarwinismus habe die „negative Selektion“ zur Ausschaltung der „biologisch Minderwertigen“ der Gesellschaft eingeführt, die besonders Kriminelle und alle, die im „kapitalistischen Sinne“ arbeitsuntauglich gewesen seien, betroffen habe. Diese Ideologie des Sozialdarwinismus sei zunächst als eine Art „Fortpflanzungshygiene“ realisiert worden:
- „Während die ‚Minderwertigen‘ und ‚Entarteten‘ notfalls gesetzlich und mit Polizeigewalt daran gehindert werden sollten, sich fortzupflanzen, galt es andererseits als gesellschaftspolitisches Ziel, ‚erbgesundes‘ Menschenmaterial nach landwirtschaftlichen Gesichtspunkten zusammenzuführen“ (S. 161).
Mit dem Darwinismus habe sich auch der moderne Rassismus verbunden, der von Kant („Race“) über Hegel bis zu Auguste Comte („Stadientheorie“) gereicht hätte und Joseph Arthur Graf de Gobineau den „Mythos der ‚arischen Edelrasse‘“ habe erfinden lassen.
Die mit dem Darwinismus verschmolzene Rassentheorie habe – so Kurz – unmittelbar biologistischen Charakter angenommen. Houston Stewart Chamberlain sei dabei der Lieferant einer Interpretation der „gesamten Geschichte einschließlich der Kunstformen nach ‚rassischen‘ Gesichtspunkten“ gewesen (S. 164). Diese Verbindung von Darwinismus und Rassenwahn im Kapitalismus habe zu einer dualistischen Rangordnung zwischen „Herrenmenschen“ und biologisch inferiorem „Menschenmaterial“ geführt. Der gesellschaftliche Wahn habe eine Projektionsfläche für die „Verkörperung seiner eigenen Negativität“ und einen ‚negativen Übermenschen‘ „in Gestalt der Juden“ gefunden; eine Entwicklung, in der sich für Kurz die europäische Tradition des Antisemitismus in die kapitalistische Moderne transformiert habe: vor allem in der Idee einer ‚jüdischen Weltverschwörung‘. Kurz glaubt, dass die kapitalistische Logik der Marktgesetze letzten Endes nur die physische Vernichtung des „Konkurrenten“ zugelassen hätte.
Kurz sieht auch in der Tradition des Sozialismus antisemitische Tendenzen, die er bereits bei Charles Fourier ausmacht, dessen 1808 erschienene Schrift Theorie des quatre mouvements ein antisemitisches Weltbild vertreten habe. Auch Pierre-Joseph Proudhon habe den Begriff des „Kapitalismus“ auf das zinstragende Kapital der reinen Geldverleiher reduziert, seine Kapitalismuskritik sei daher nur eine antisemitische Umdeutung dieser Gesellschaftsform gewesen. Auch Marx habe in Ansätzen „immer wieder in Richtung einer Identifikation von ‚Geld überhaupt‘ oder ‚Schacher‘ und ‚Wucher‘ mit dem ‚jüdischen Wesen‘“ tendiert (S. 178).
Historische Analyse
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Erste industrielle Revolution
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Durchsetzung des betriebswirtschaftlichen Kalküls
Mit der Durchsetzung des Liberalismus gegenüber dem Absolutismus in der Ersten industriellen Revolution begann man nach Kurz die warenproduzierende Gesellschaftsform „auszubauen, zu versittlichen und die Einsicht in ihre Notwendigkeit zu verallgemeinern“ (S. 57). Dabei werde die „kapitalistische Selbstzweck-Maschine“ als selbstverständlich vorausgesetzt und das „bürgerliche Denken“ habe „seinen Schwerpunkt zunehmend auf die Organisations- und Naturwissenschaft“ und auf „durch technokratische Intelligenz“ verlegt (S. 57). Die Konkurrenz der Unternehmen habe die Marktteilnehmer nun zu einer permanenten Produktivkraftentwicklung genötigt, um das eigene Angebot marktfähig zu halten. Im Kampf um die Preise sei es zu einer Art „Standortdebatte“ um die günstigsten Arbeitslöhne gekommen, die beginnende internationale Konkurrenz habe als Mittel der sozialen Erpressung gedient (S. 59).
Bald sei der Kapitalismus gewissermaßen als „gesellschaftliches Naturereignis“ betrachtet worden. Das Paradoxon, dass er einerseits eine „bis dahin niemals für möglich gehaltene Arbeitsersparnis durch das Maschinenwesen“ erreicht, diese aber andererseits „nicht als Steigerung der gesellschaftlichen Wohlfahrt und als Lösung der sozialen Probleme“ (S. 59) habe nutzen können, begegnete man nach Kurz’ Ansicht allein mit der Hoffnung auf eine „naturwissenschaftlich-technische Erlösung, die doch irgendwann einmal aus den Maschinenkräften selber kommen sollte“.
Kurz glaubt, dass die kapitalistische Produktionsweise in einen „unlösbaren logischen Selbstwiderspruch“ geriete, da sie einerseits „abstrakte Arbeit“ in Waren verwandele, andererseits aber menschliche Arbeit fortlaufend „durch technisch-wissenschaftliche Agenzien“ ersetzt und so die Substanz der „Wertschöpfung“ selbst aushöhle.
- Opfer und Revolten

Die Folgen dieses betriebswirtschaftlichen Kalküls zu Beginn der Ersten industriellen Revolution seien Massenarbeitslosigkeit und die soziale Verödung ganzer Landstriche gewesen. Mit dem Fabrikproletariat sei eine neue Kategorie von „arbeitenden Armen“ entstanden, Kinder und Frauen seien zu Niedriglöhnen in den Fabriken beschäftigt worden. Die Opfer hätten aber Widerstand geleistet, wodurch es zu Sozialrevolten gekommen sei.
Kurz betrachtet die neue Bewegung der radikalen, auch gewalttätigen, „Ludditen“ als Kern der Auflehnung. Sie seien zwar rückwärtsgewandt gewesen, hätten aber „elementare und universelle Bedingungen menschlicher Freiheit ein[geklagt], die durch das kapitalistische Markt- und Fabriksystem von Grund auf zerstört wurden“. Auf dem Kontinent spielten sich die „Brotunruhen“ vor allem in der Zeit des Vormärz ab, „in der die Realexistenz des sozialen Kriegs- und Belagerungszustands zum Randphänomen der ‚notwendigen’ Modernisierungsopfer degradiert“ worden sei.
Das so genannte Bevölkerungsgesetz des Pfarrers Thomas Robert Malthus stellt für Kurz den Beginn der „Biologisierung der gesellschaftlichen Krise“ dar. Malthus habe mit der These, die Menschheit würde sich stets stärker als die zur Verfügung stehenden Nahrungsressourcen vermehren, eine Art „Endlösung“ für die Erklärung der Massenarmut und Massenarbeitslosigkeit gefunden. Damit seien die eigentlich selbstgeschaffenen Probleme des Kapitalismus zu unabänderlichen Naturgesetzen erhoben worden.
- Märzrevolution und Sozialdemokratie
Die aus dem Geist des Nationalismus – der Suche nach einer „identitätsstiftenden Konstruktion“ – resultierende Revolution von 1848 hatte Kurz zufolge im Ziel des Liberalismus, die beiden „Pole“ Staat und Markt selbst zu besetzen, ihre Ursache. Das liberale Bürgertum kämpfte dabei auch gegen eine drohende Sozialrevolte. Seine Niederlage in der März-Revolution habe maßgeblich dazu beigetragen,
- „die entstehende Linke (bzw. den späteren Sozialismus) für immer an die Probleme des Liberalismus zu fesseln und in eine lange historische Sackgasse hineinlaufen zu lassen“.
Der moderne Sozialismus entstand nach Kurz aus Reformgruppen (u. a. Arbeitervereinen), die vornehmlich versucht hätten, Sozialrevolten zu verhindern oder zu dämpfen und die Widersprüche und Restriktionen des Kapitalismus auf äußere Einflüsse zurückzuführen. Nur wenige Intellektuelle – allen voran Karl Marx und Friedrich Engels – seien durch persönliche Erfahrungen „umgedreht“ worden. Historische Folgen seien jedoch ausgeblieben. Marx habe zwar stets Sympathie für die sozialen Aufstände geäußert, deren Impuls aber „im wesentlichen als eine Verirrung gegen ‚die Produktivkräfte’ betrachtet“. Kurz wirft dem Marxismus die Übernahme des „positivistischen, technisch-naturwissenschaftlich verkürzten Fortschrittsbegriff des Liberalismus“ vor. Eine radikale Kritik an der Modernisierungsgeschichte und ihres gewandelten Arbeitsbegriffs sei auch in der „Linken“ bis heute ausgeblieben.
Zweite industrielle Revolution
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Bis zum Zweiten Weltkrieg
Kurz charakterisiert den Beginn des 20. Jahrhunderts als eine
- „eigentümliche schizophrene Mischung aus Fortschrittsgläubigkeit und Untergangsphantasie, technokratischem Machbarkeitsdenken und biologistischer ‚Veterinärphilosophie’, Staatsräson und Marktkonkurrenz, individuellen Ansprüchen und wahnhafter Kollektivsubjektivität von ‚Nation’ und ‚Rasse’“.
Die aus der Agrargesellschaft überkommenen traditionellen Bindekräfte der Gesellschaft hätten sich immer schneller aufgelöst, die Ideen und Programme der sozialistischen Arbeiterbewegung seien zugleich „hohl und als vermeintliche historische Alternative unglaubwürdig“ geworden, da sie von Grund auf „mit den kapitalistischen Denkformen, Handlungsmustern und Interessenkategorien kontaminiert“ gewesen seien.
Den Ersten Weltkrieg hält Kurz – in Anlehnung an George F. Kennan – für die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“. Er habe ein Aufblühen des „Sozialdemokratismus“ bewirkt: Weil die Sozialdemokraten ihren „Blutzoll treu entrichtet“ hätten, sei ihnen nun „der lang ersehnte Eintritt in die Zentren der Macht“ gewährt worden; die ausgegrenzten Sozialistenführer seien zu staatsmännischen Juniorpartnern mutiert und zum Teil der „‚schönen’ Maschine“ geworden.
- Weltwirtschaftskrise und Inflation

In den 1920er Jahren schien eine „neue Epoche eines weltweiten Kapitalismus von Massenproduktion und Massenkonsum“ anzubrechen, doch der strukturelle Umbruch der Zweiten industriellen Revolution sei von der bis dahin größten „sozialökonomischen Transformationskrise“ überlagert worden. Trotz einer neuen Qualität und Quantität des Massenkonsums durch das „investive Konsumtionsmittel“ Automobil war der Fordismus nicht in der Lage, nahtlos an die Erste industrielle Revolution anzuschließen; es habe dabei vor allem an der benötigten Infrastruktur, den dafür notwendigen Investitionen und einem intakten Weltmarkt mit weltweiten Absatzmärkten gefehlt.
Der Staat habe versucht, die im Krieg aufgenommenen Schulden zu kompensieren, indem er die Geldmenge erhöhte. Die dadurch ausgelöste Krise der Inflation habe nahezu überall in Europa das Geldsystem zerrüttet. Kurz sieht hier die seiner Meinung nach „tiefe Irrationalität“ des Kapitalismus herausbrechen und den „Fetischismus“ dieses Gesellschaftssystems sichtbar werden. Den verelendeten Massen habe nun eine entstehende kleine Schicht von spekulativen Krisengewinnlern gegenübergestanden.
Besonders in Deutschland habe „die Mischung aus Krisenangst, phantasmagorischen Projektionen und Spekulantenhatz den alten, tiefsitzenden Dämon des Antisemitismus“ erneut geweckt, insbesondere in Gestalt der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei.
- Spekulation und die Krise der Deflation
Den Regierungen sei es in dieser Situation gelungen, durch drastische Maßnahmen die Inflation zurückzudrängen. Diese Entwicklung lief im Endeffekt darauf hinaus, dass sich die Staaten bei ihren Bürgern als Gläubigern gewaltsam entschuldet, und damit sowie auch durch die inflationsbekämpfenden Maßnahmen einen gewaltigen Verarmungsschub ausgelöst hätten. Der sich anschließende Aufschwung der sog. Goldenen Zwanziger Jahre habe vor allem im Reich der Spekulation stattgefunden, mit der Folge einer beispiellosen Spekulationswelle auf den Aktien- und Immobilienmärkten, wo sich zahlreiche „Aktienkünstler“ zusammengeschlossen hätten, „um den Preis für eine bestimmte Aktie hochzutreiben“.[5]
Als die Blase dieses „fiktiven Kapitals“ 1929 im New Yorker Börsenkrach geplatzt sei, war dies der Auftakt zur bislang größten Depression der kapitalistischen Geschichte. Das Ergebnis dieser zweiten Weltwirtschaftskrise war nach Kurz ein „globaler deflationärer Schock“:
- „In den USA irrten nahezu mittellose Massen in ihren Ford-Autos, dem einzigen noch verbliebenen Besitz, hilflos durch das Land auf der Suche nach Gelegenheitsjobs, um ein wenig Essen und Benzin zu verdienen […]. Außer diesen bizarren mobilen Slums entstanden in den Vorstädten auch riesige neue Elendsviertel, die nie mehr ganz verschwinden sollten“.
Kurz’ Fazit: Die Wirtschaftskrise habe binnen kürzester Zeit die sozialen Standards wieder auf das Niveau des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zurückfallen lassen.
- Diktatur und Kapitalismus

Kurz bezeichnet es als „Selbstbetrug“ und „Geschichtsklitterung“, wenn die Diktaturen des 20. Jahrhunderts in der „bürgerlichen Erklärungsweise“ als das schlechthin „Andere“ und „Fremde“ behandelt würden, „das aus den Tiefen der Geschichte emporgestiegen ist und die dunkle, antizivilisatorische Seite des Menschen überhaupt repräsentiert“. Bei einer Betrachtung der gesamten Modernisierungsgeschichte liege es Kurz zufolge nahe, „Kapitalismus, Liberalismus und Marktwirtschaftsdemokratie nicht als übergreifendes Positivum zu verstehen“, sondern als „negative und repressive Zwangsvergesellschaftung durch die monströse ‚schöne Maschine’ der ‚Verwertung des Werts’“.
Die Diktaturen des 20. Jahrhunderts wurzeln für Kurz in der kapitalistischen Produktionsweise und seien Erscheinungsformen des liberalen Kapitalismus. Er behauptet weiter:
- „Aus dieser negativen, kritischen Perspektive kann besonders Auschwitz nur als die nicht mehr zu überbietende äußerste Konsequenz der liberalen Ideologie in der Tradition von Hobbes, Mandeville, de Sade, Bentham, Malthus u. Co. verstanden werden“,
deren „Naturalisierung und Biologisierung des Sozialen“ eine „historische Schicht von Auschwitz“ darstelle.
In den Diktaturen des 20. Jahrhunderts habe sich „nur der liberale Terror des Frühkapitalismus auf höherer Stufenleiter der Entwicklung und mit verschobenen ideologischen Legitimationsmustern“ wiederholt.
In der Geschichte der Sowjetunion erkennt Kurz einen „Prototyp(en) der staatsökonomischen ‚nachholenden Modernisierung’ im 20. Jahrhundert“. Die Sowjetunion habe seiner Ansicht nach in einer doppelten „historischen Zwangslage“ gesteckt:
- Konfrontiert mit der „Präsenz des kapitalistisch vorausgeeilten Westens“ habe sie keinen grundsätzlich anderen Entwicklungspfad mehr einschlagen können; vielmehr sei auch das ‚Weltbewußtsein’ bereits ein kapitalistisch geformtes gewesen.
- Sie sei in einer von den Standards der vom zeitgenössischen Kapitalismus bestimmten Welt gezwungen gewesen, direkt auf dem Niveau des 20. Jahrhunderts einzusteigen.
Kurz ist daher der Meinung, dass die „Verbrechen des Kommunismus“ nichts anderes gewesen seien als „die zeitlich komprimierte Wiederholung der frühkapitalistischen Schrecken“. Der Hungertod von Millionen in den frühen 1930er Jahren sei die Folge einer rigiden Industrialisierungspolitik zum gewaltsamen Aufbau von (staats)kapitalistischen Industriesystemen gewesen, mit deren Hilfe man sich mit frühkapitalistischen Methoden an die Spitze der Weltentwicklung setzen wollte.
Kurz konstatiert allerdings in der „sowjetischen‚ nachholenden Modernisierung’“, wie auch in der Ideologie der „Arbeiterbewegung und der Linken überhaupt“ ein bis heute „uneingelöstes Moment“: den „Traum“ von der „freien und bewussten Selbstorganisation“, der sich – wenn auch nur kurzzeitig – insbesondere im Begriff des „Sowjet“ manifestiert hätte, bevor diese zu „bloßen Attrappen“ degeneriert seien.
- Keynes und Keynesianismus
Nach der Weltwirtschaftskrise war nach Kurz der Glaube an die „Doktrin der ‚unsichtbaren Hand’“ verloren gegangen, was sich im Übergang „zu einer allgemeinen staatsökonomischen Regulation, zum Staat als wesentlichem Wirtschaftssubjekt“ ausgedrückt habe. Für die USA habe der New Deal Roosevelts den tiefsten Einschnitt in ihrer Wirtschaftsgeschichte dargestellt. Die staatsökonomischen Ansätze der Krisenbewältigung seien dabei Hand in Hand mit der Schaffung der bislang unzureichenden logistischen Rahmenbedingungen für die Zweite industrielle Revolution gegangen. In Nazi-Deutschland seien die staatsökonomischen Eingriffe „weitaus stärker als im New Deal vorangetrieben“ worden. Der eigentlich „fordistische Durchbruch“ wurde so für Kurz mit den „Finanzmethoden der Kriegswirtschaft“ erreicht, in dem die absolute Schranke des „kapitalistischen Selbstwiderspruch“ noch einmal hinausgeschoben hätte werden können.
Parallel zu diesen Entwicklungen habe der britische Ökonom John Maynard Keynes „die dazugehörige Theorie des ‚Deficit spending’“ entwickelt. Keynes hielt das bis dahin gültige Saysche Theorem für im Grundsatz falsch. Kurz bemerkt kritisch, dass Keynes selbst zugegeben habe, dass es sich bei dessen Theorie „im Grunde nur um einen ‚Aufschub‘ der absoluten Grenze kapitalistischer Produktion handeln kann. Ebenso unfreiwillig enthüllt er die Absurdität der dem Kapitalverhältnis inhärenten Logik“. Die erste Runde des ‚Keynesianismus‘ sei in einen neuen Rüstungswettlauf gemündet: wieder einmal sei der Krieg der Vater aller Dinge, Hitler gewissermaßen der „Exekutor dieser mörderischen ‚List‘“ des Aufschubs gewesen.
Als Ergebnis dieser Entwicklung sieht Kurz den Zweiten Weltkrieg, über den er das folgende Resümee zieht:
- „Dieser neuerliche Triumph der ‚schönen Maschine‘ kostete insgesamt 55 Millionen Menschen das Leben, große Teile Europas und Asiens wurden verwüstet. Aber merkwürdig: Die abermaligen und ungeheuerlichen ‚Kosten der Modernisierung‘, die quantitativ wie qualitativ allen bisherigen Terror und Horror des Kapitalismus übertrafen, riefen kein geistiges Echo der tiefen Erschütterung mehr hervor […] Es war, als liefe das bis ins Mark demoralisierte Menschenmaterial geradezu gleichgültig und bereits roboterhaft kalt durch eine Feuerwand in den kommerziellen, endgültig entgeistigten Stumpfsinn des kommenden trostlosen Konsumparadieses hinein.“
In der Nachkriegszeit sei es dann darum gegangen, „die kriegswirtschaftlichen Strukturen […] in ‚zivilökonomische’ Regulationsformen zu überführen und zu einem dauerhaften System auszubauen“.
- Nachkriegszeit
Nach dem Zweiten Weltkrieg schien – so Kurz – der Kapitalismus wie „ein Phönix aus der Asche“ emporzusteigen. Es habe den Anschein gehabt, dass tatsächlich ein ‚goldenes Zeitalter’ heranbrechen werde. Diese Nachkriegsprosperität sei eine mehr oder weniger globale Erscheinung gewesen. In Deutschland sei sogar das „Zauberwort“ des Wirtschaftswunders geprägt worden – wobei der Begriff nach Kurz’ Ansicht bereits das Exzeptionelle dieser Entwicklung ausdrücke.
Bis ca. 1950 sei der Markt nicht einheitlich kapitalistisch gewesen. Erst der „Nachkriegs-Fordismus“ habe eine „flächendeckende Erzeugung und Distribution aller Gebrauchsgüter durch das fordistische Industriekapital und seinen ‚Arbeitsstaat’“ geschaffen und brachte die „traditionellen Sektoren“ (Subsistenzproduktion, Familienproduktion, Landwirtschaft) fast völlig zum Verschwinden. Dies bedeute, dass die Bevölkerung insgesamt „in einem höheren Maße der kapitalistischen Gesellschaftsmaschine ausgeliefert“ gewesen sei.
- Kapitalistischer Totalitarismus und Mobilmachung
Kurz sieht die zweite industrielle Revolution wesentlich durch den Begriff des „Totalitären“ gekennzeichnet. Er wirft den gängigen Totalitarismus-Theorien vor, dass in ihnen der Begriff „totalitär“ nur im „staatlich-politischen“ Sinne definiert werde, „während der ökonomische völlig ausgeblendet“ bliebe, obwohl der politische Totalitarismus eine ökonomische Grundlage habe. So seien „sowohl die stalinistische als auch die Nazi-Diktatur ebenso wie der italienische Faschismus auf dem Boden des warenproduzierenden Systems entstanden“.
In den Nachkriegsdemokratien zeige sich eine „totale Mobilmachung“ in der Aufforderung zu sich „ständig steigernden, immer unsinnigeren Warenkonsum“, „Leistung“ und „Konkurrenz“, von der vor allem die Frauen durch die „Industrialisierung der Hausarbeit“ betroffen seien, die durch den nötigen Beruf zur Deckung der Kosten für die Haushaltselektronik die Doppelbelastung der Frau verursacht habe. Weiterhin empfindet Kurz den massenhaften Autoverkehr als „totale Automobilmachung“, als kriegsähnlichen Zustand, der im Laufe des 20. Jahrhunderts etwa 17 Millionen Tote gefordert habe. Diese „Menschenopfer“ würden als normal, notwendig und schicksalhaft dargestellt.
Kurz glaubt, dass die Vorstellung, dass mit dem Kapitalismus immer mehr Freizeit und Spaß für den Menschen einhergehen werde, im Hinblick auf den Zusammenhang mit einer „Arbeitszeitverkürzung“ zu relativieren sei. Diese beschränke sich zum ersten nur auf wenige reiche kapitalistische Zentren, vor allem die Länder des kontinentalen Westeuropas. Zum zweiten sei die Arbeitszeitverkürzung nur eine temporäre Erscheinung in der Phase schnellen Wirtschaftswachstums gewesen. Zum dritten würde die Zeitverkürzung durch eine übermäßige Steigerung der Arbeitsbelastung für den einzelnen überkompensiert. Auf der anderen Seite sei Freizeit nur „scheinbar frei disponible Zeit“, denn im „Freizeitkonsum“ – im Massentourismus etwa würde die „Mobilmachung“ auch auf die freie Zeit ausgedehnt – setze sich die „kapitalistische Konditionierung“ fort, so dass es letztlich keinen sozialen Raum mehr außerhalb dieser gebe.
- Totalitäre Demokratie
Kurz ist der Ansicht, dass auch die Demokratie ein totalitäres Element enthalte. So habe bereits Erich Ludendorff erkannt, dass „das Menschenmaterial des Verwertungsprozesses in keiner anderen Staatsform so widerspruchslos und kostengünstig an der Leine geführt werden kann wie in der Demokratie“.[6] Der Grund sei, dass das gesellschaftliche Leben letzten Endes nicht durch bewusste gemeinsame Entscheidung der demokratischen Gesellschaftsmitglieder gesteuert werde, da die demokratischen Prozeduren von freier Meinungsäußerung, politischer Willensbildung und freien Wahlen den Wirkungen der ‚Gesellschaftsphysik’ von anonymen Märkten nur nachgeschaltet seien: alle demokratischen Entscheidungen seien immer schon im Voraus durch die Automatik des ökonomischen, naturgesetzhaft verstandenen Systems festgelegt.
Hinter den drei staatlichen Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative stehe nach Kurz also immer auch die strukturelle (vierte) Gewalt eines totalitären Marktsystems, welches seit Rousseau unter dem Namen des abstrakten „Gemeinwohls“ firmiere, und auf die sich die postulierte ‚Volkssouveränität’ nicht erstrecke. Ein letzter totalitärer Charakter zeige sich ebenfalls in der totalen Bürokratie der Menschenverwaltung in den Demokratien.
- Weltzerstörung und Bewusstseinskrise
Am Wendepunkt der wirtschaftlichen Prosperität Anfang der 1970er Jahre wurden laut Kurz deren Folgen sichtbar: die umfassende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Er führt diese Entwicklung auf die Logik der „abstrakten Arbeit“ zurück, die ihre Kosten auf die Gesamtgesellschaft, die Zukunft und eben auch auf die Natur abwälze. Letzteres sei bereits dem jungen Friedrich Engels in seiner Analyse „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“[7] aufgefallen. Jedoch erst mit der kapitalistischen „Totalmobilmachung“ sei die Natur nun der abstrakten betriebswirtschaftlichen Vernutzungslogik vollständig ausgeliefert gewesen.
Im Jahr 1972 seien erstmals die „Grenzen des Wachstums“ nach einer gleichnamigen Studie des Club of Rome weltweit debattiert worden, in der das Verhältnis von Wachstumszwang und natürlichen Rohstoffen zur Sprache gekommen sei. Kurz kritisiert an dieser Studie, dass darin „der destruktive Charakter betriebswirtschaftlicher Rationalität bestenfalls indirekt“, als „bedauerliche Nebenwirkung der ‚Industriegesellschaft’“ vorkomme. Kurz meint zu erkennen, dass die offizielle Gesellschaft die Debatte über die Grenzen und destruktiven ökologischen Folgen des Wachstums nur aufnahm, um das Problem besser verdrängen zu können: die eigentliche Ursache der ökologischen Katastrophe sei folgenlos zerredet, oder in die unverbindliche Propaganda einer „Versöhnung von Ökonomie und Ökologie“ überführt worden.
Erst die revoltierende Studentenbewegung habe wieder von einer Welt träumen können, die „vom kapitalistischen Selbstzweck der ‚schönen Maschine’ erlöst“ sei und die Produktionstätigkeit auf vielleicht zwei oder drei Stunden am Tag reduzieren würde.
- „Erstmals seit vielen Jahrzehnten gab es wieder so etwas wie den Versuch, eine authentische Reformulierung der Marxschen fundamentalen Kapitalismuskritik zu wagen. Der Pariser Mai schien das System in seinen Grundfesten zu erschüttern“.
Kurz zieht allerdings die Bilanz, dass die „Bewegung von 1968 im Sinne der sozialen Emanzipation restlos gescheitert“ sei. Die radikale Kritik an Warenform und ‚abstrakter Arbeit’ sei schließlich nicht weiter verfolgt worden, stattdessen seien die Studenten wie schon zuvor die Arbeiterbewegung „auf die schiefe Bahn der ‚Politik’“ geraten.
Dritte industrielle Revolution
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Dritte industrielle Revolution hat für Kurz ihre technologische Basis in der Elektronik und den Informationswissenschaften. Die mit ihr verbundene Automatisierung führt seiner Ansicht nach „zu einer qualitativ neuen Stufe der Massenarbeitslosigkeit und damit der Systemkrise“. Die logisch einzig mögliche Verlaufsform der Automatisierung im Kapitalismus sei Massenarbeitslosigkeit. Das Hauptproblem bestehe darin, dass jene Menschen, die nun „überflüssig“ seien, aus dem System des Geldverdienens und der Konkurrenz ausgestoßen würden, obwohl dieses weiterhin ihre unausweichliche Existenzgrundlage bilde. Das „Ende der Arbeitsgesellschaft“ droht Kurz zufolge in einen „wirklichen historischen Systemzusammenbruch“ zu münden, da mit der Arbeit die „Substanz des Kapitals selbst“ auszugehen drohe.
Für die Dritte industrielle Revolution waren nach Kurz im Wesentlichen zwei Innovationen maßgebend: die Kybernetik und die elektronische Rechenmaschine. Parallel zum Aufstieg der mikroelektronischen Revolution nach dem Zweiten Weltkrieg – besonders seit den Achtzigerjahren – habe sich die „als ‚strukturell’ bezeichnete Massenarbeitslosigkeit“ entwickelt:
- „Die Arbeitslosigkeit war insofern eine strukturelle geworden, als sie nicht mehr in Korrespondenz mit dem konjunkturellen Zyklus an- oder abschwoll, sondern unabhängig davon kontinuierlich wuchs“.
Die Lösungsversuche des zeitgenössischen Liberalismus zu dieser Problematik hält Kurz für grotesk. Die Argumentation Ralf Dahrendorfs, eine radikale Absenkung des Niveaus von Reallöhnen und Sozialleistungen vorzunehmen, hält er nicht nur für einen nicht funktionierenden Ausweg, sondern empfindet selbst das Ansinnen solcher Zumutungen für die Lohnarbeiter als absurd. Die „einzig vernünftige Konsequenz“ bestehe für Kurz darin, im Einklang mit dem technischen Fortschritt „mehr Muße für alle einzuklagen, bei voller Beteiligung aller an den Früchten der ungeheuer angewachsenen Produktivität.“
Kurz sieht mit „der fortschreitenden Dehumanisierung des Kapitalismus“ einen „demokratischen Gulag“ heraufziehen. Dieser Gulag gliedere sich in drei Abteilungen:
- Die erste Abteilung bestehe in Menschenverwahrung und -Einschließung; Institutionen, in denen immer mehr „überflüssige“, „delinquente“ oder sonstwie „unverwertbare“ Menschen verschwinden würden, und die selber zu einem gewaltigen Kostenfaktor angeschwollen seien: Gefängnisse, Zuchthäuser, Drillanstalten, „Heime“ aller Art, Armenkliniken, psychiatrische Anstalten usw.
- Die zweite und größte Abteilung bestehe aus den Massen der Arbeitslosen und Herausgefallenen, die von der demokratischen Armuts- und Krisenverwaltung bürokratisch in Bewegung gehalten, drangsaliert, gedemütigt und zunehmend auf „Hungerrationen“ gesetzt werden würden.
- Die dritte Abteilung bildeten die ganz am Rande der Gesellschaft „vegetierenden“ Obdachlosen, Straßenkinder, Immigranten, Asylbewerber und sonstigen Illegalen, die nicht einmal mehr durchgehend verwaltet würden, sondern nur noch sporadisches Objekt von Polizei- und gelegentlich sogar Militäreinsätzen (oder in manchen Ländern von privaten Todesschwadronen) seien.
Kurz’ Fazit: Die dritte industrielle Revolution habe in nur knapp 20 Jahren die größte Krise seit 1929 heraufbeschworen, die nicht nur die überwunden geglaubte Massenarbeitslosigkeit zurückgebracht, sondern auch die Geldwirtschaft in vielen Ländern bereits zusammenbrechen lassen habe. Hier trete der immanente Selbstwiderspruch des Kapitalismus final zutage.
Soziale Folgen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Situation im Nationalstaat
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Gründerzeit und Gründerkrach
Die Folge der Welle von Aktienspekulationen im Deutschen Reich nach 1850 war der große „Gründerkrach“ im Jahr 1873. Damit trat die galoppierende Industrialisierung für nahezu zwei Jahrzehnte bis Anfang der 90er Jahre in eine schleichende Stagnation ein.
In der Rückkehr zum Schutzzoll-System und einer zunehmenden Staatstätigkeit (auch bekannt als Wagnersches Gesetz) steckt für Kurz eine immanente Logik des „industriellen Kapitalismus’“, der logistische Strukturen fordere, die „nicht selbst wieder kapitalistisch nach den Gesetzen rein betriebswirtschaftlicher Rationalität betrieben werden können“. Da allerdings der Staat im liberalkonservativen Verständnis selber kein gewinnproduzierender ‚Unternehmer‘ mehr hätte sein können, sei „ein ‚Finanzierungsproblem’ seiner wachsenden Aufgaben in der industriellen Marktwirtschaft“ entstanden. Die Lösung habe allein in der moderaten Besteuerung von „Markteinkommen“ und zunehmender Verschuldung gelegen.
- Sozialstaat
Der Liberalkonservatismus sei zur Abwendung sozialer Revolten geneigt gewesen, „dem Staat eine gewisse soziale Verantwortung zu übertragen – selbstverständlich […] untrennbar vermengt und verbunden mit seiner Repressionsfunktion“. Kurz bezeichnet dies als „Wiederverheiratung“ des Liberalismus mit dem „absolutistischen Apparat“, der in allen wichtigen Ländern Europas stattgefunden habe.
Laut Kurz habe Bismarck bei seiner Sozialgesetzgebung eine durch machtpolitisches Kalkül geleitete Doppelstrategie gefahren: die „blanke Naturgesetzlichkeit des Marktes“ habe durch „staatlich gemanagtes Sozialwesen“ ergänzt werden sollen:
- „Parallel zum Verbotsdruck nach alter leviathanischer Manier machte seine Regierung in einer ‚klassisch’ gewordenen Weise mit den paternalistischen sozialstaatlichen Überlegungen des Liberalkonservatismus ernst und brachte eine Art ‚weiße Revolution’ von oben in der Sozialgesetzgebung hervor, die zum Prototyp des modernen Wohlfahrtsstaates im 20. Jahrhundert werden sollte“.
Kurz bezweifelt eine tatsächliche Verbesserung der sozialen Situation durch die Bismarckschen Sozialgesetzgebung, die für ihn nur die Massenarmut „normalisiert“ und eine Solidarisierung der Lohnarbeiter untereinander verhindert habe. In gerade dieser Situation sei die – seiner Meinung nach aus dem Liberalismus herkünftige – Sozialdemokratie zu einer gesellschaftlichen Kraft angewachsen. Da die Arbeiter der nächsten Generation keine Erinnerung mehr an vorindustrielle Zustände gehabt hätten, habe sich das Fernziel des sozialistischen Staates in eine „ferne und unwirkliche Zukunft“ verrückt.
Gegenwart und Zukunft
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Für Kurz haben die ökonomischen Krisen der beiden letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, einhergehend mit dem staatlichen Rückzug aus der sozialen Verantwortung und dem Erstarken des Neoliberalismus, zur größten Welle von Massenverarmung seit dem frühen 19. Jahrhundert geführt. Dabei sei der größte Teil der Dritten Welt vollständig ruiniert worden, inklusive der aufstrebenden südostasiatischen Länder, ebenso die Staaten der ehemaligen Sowjetunion und in ganz Osteuropa. Aber auch im Westen würden jährlich größere Regionen und Bevölkerungsgruppen der Massenverarmung anheimfallen. Kurz zieht daraus den Schluss, dass das globale kapitalistische System vollkommen versagt habe.
Kurz führt das Phänomen der Verarmung an verschiedenen Beispielen aus. So gebe es weltweit eine wachsende Verelendung von Kindern: die Kinderarbeit in der Dritten Welt, aber auch in Deutschland und den USA nehme zu; das Phänomen der Straßenkinder habe sich ebenfalls massiv ausgedehnt. Seit den 1990er Jahren sei es zudem zu einem weltweiten Anschwellen des Hungers gekommen. Auch in den westlichen Industrieländern nehme die Unterernährung und damit einhergehende Mangelerkrankungen zu. In der medizinischen Versorgung würden die gesetzlichen Krankenversicherungen überall zur „Armenkasse“ umfunktioniert. Jenseits der großen Industrienationen gebe es in den meisten östlichen und südlichen Ländern medizinische Hilfe ohnehin nur noch gegen Barzahlung. Zunehmend würde „die Geldarmut sogar dazu ausgenutzt, die Armen als regelrechte Organbanken für die Besserverdienenden auszuschlachten“, wozu sich die „vom Weltmarkt ruinierte Dritte Welt“ geradezu anbieten würde[8] – für Kurz das wohl „letzte noch denkbare Stadium der Angebotsökonomie“. Die allgemeine „Dehumanisierung des kapitalistischen Medizin- und Gesundheitswesens“ setze sich auch vor allem darin fort, wie mit pflegebedürftigen Alten umgegangen werde. Selbst engste Angehörige hätten oft nur noch den Status entfernter Verwandter, sobald sie hinter den Mauern einer Pflege- oder Aufbewahrungsanstalt verschwunden seien. Dabei nähmen die Altenheime für die verarmten Massen unter dem zunehmenden Kostendruck „KZ-ähnlichen Charakter“ an.
Fazit des Autors
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im Epilog des Buches zieht Kurz das Fazit, dass der Kapitalismus auf seine eigene Selbstvernichtung zulaufe, die auch in einer Zerstörung der menschlichen Gesellschaft enden könne. Um dieser Gefahr entgegenzutreten, müssten „radikale theoretische Kritik und Rebellion zusammenkommen“. Kurz sieht zwei mögliche Wege zur Überwindung des kapitalistischen Gesellschaftssystems: der kürzeste Weg sei „die Besetzung der Produktionsbetriebe, Verwaltungsinstitutionen und sozialen Einrichtungen durch eine Massenbewegung, die sich die gesellschaftlichen Potenzen direkt aneignet und die gesamte Reproduktion in eigener Regie betreibt, also die bislang herrschenden ‚vertikalen’ Institutionen schlicht entmachtet und abschafft“. Denkbar wäre auch eine „Übergangsphase, in der sich eine Art Gegengesellschaft bildet, die bestimmte soziale Räume gegen die kapitalistische Logik eröffnet, aus denen Markt und Staat vertrieben werden“. Als ein mögliches institutionelles Gefüge der Zukunft, das „Marktwirtschaft und Demokratie ablösen könnte“, sieht er die Einrichtung von „Räten“, d. h. „beratende Versammlungen aller Gesellschaftsmitglieder auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Reproduktion“. Hierzu müsste eine bewusste „Palaverkultur“ geschaffen werden, um „alles zu bereden und abzuwägen“.
Kurz sieht für eine solche zukünftige Gesellschaft vor allem drei Aufgaben:
- die „vorhandenen Ressourcen an Naturstoffen, Betriebsmitteln und […] menschlichen Fähigkeiten so einzusetzen, dass allen Menschen ein gutes, genussvolles Leben frei von Armut und Hunger gewährleistet wird“;
- „die katastrophale Fehlleitung der Ressourcen […] in sinnlose Pyramidenprojekte und Zerstörungsproduktionen zu stoppen“;
- „den durch die Produktivkräfte der Mikroelektronik gewaltig angeschwollenen gesellschaftlichen Zeitfonds in eine ebenso große Muße für alle zu übersetzen“.
Bei der Lösung dieser Probleme handle es sich letztlich „weder um ein materielles noch um ein technisches oder organisatorisches Problem, sondern allein um eine Bewusstseinsfrage“. Für Kurz ist es aber wahrscheinlich, dass der dazu notwendige „Bewusstseinssprung“ nicht mehr vollzogen wird. Der Kapitalismus sei aber dennoch nicht überlebensfähig, was „die unaufhaltsame Entzivilisierung der Welt“ nach sich ziehe. Die einzige Handlungsalternative sei „eine Kultur der Verweigerung“. Dies bedeute, „jede Mitverantwortung für ‚Marktwirtschaft und Demokratie‘ zu verweigern, nur noch ‚Dienst nach Vorschrift‘ zu machen und den kapitalistischen Betrieb zu sabotieren, wo immer das möglich ist“.
Rezeption
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Kurz’ provokatives und den Verkaufszahlen nach erfolgreiches[9] Buch ist in der allgemeinen Öffentlichkeit recht stark, von wissenschaftlicher Seite kaum rezipiert worden.
Nach dem Erscheinen kam es in Tages- und Wochenzeitungen zu einer kontroversen Auseinandersetzung um das Werk. In der Rezeption fallen dabei die kritischen Stimmen teilweise sehr scharf aus, die positiven Stimmen begrüßen dagegen vor allem Kurz’ Vorgehen einer radikalen Kritik am Wirtschaftssystem. Ablehnende Autoren hingegen werfen ihm grundlegende methodische Mängel, (historische) Verfälschungen und den Aufruf zu einer verfehlten Rebellion wie auch das Fehlen praktischer Konsequenzen vor.
Das Unternehmen dieser „fulminanten und radikalen Kritik am kapitalistischen Weltsystem“ wird in der Frankfurter Rundschau als ein „kühnes Unterfangen“ bezeichnet, in einer Zeit „gesellschaftlicher Tabuisierung von Kapitalismuskritik“.[10] Der positive Beitrag im Rahmen einer „Kontroverse“ in der Zeit hält das Buch von Kurz für „die wichtigste Veröffentlichung der letzten zehn Jahre in Deutschland“.[11] Gelobt wird hier auch die detaillierte Vorgehensweise.[11] Die WOZ begrüßt den „Materialreichtum“.[12] Trotz Mängeln könne man – so die FR – seiner „zeitkritischen Diagnose einer Verhärtung der kapitalistischen Bewusstseinsform“ durchaus zustimmen.[10] Für den insgesamt sehr lobenden Beitrag der Zeit ist das Buch „ein großer Wurf, ein wahrhaft notwendiger Protest“, zu dessen wichtigsten Erkenntnissen es gehöre, „dass es immer nur relativ kurze Phasen waren, in denen ein expandierender Kapitalismus so etwas wie Massenwohlstand hervorbrachte, und auch das nur in Westeuropa, Angloamerika und Japan.“[11]
Auf der Gegenseite wird bereits die Grundlage der Argumentation von Kurz deutlich kritisiert: Problematisch sei insbesondere schon seine Verwendung von 'Kapitalismus'. Er – so übereinstimmend die stark ablehnende Süddeutsche Zeitung sowie der kritische Beitrag in der Zeit – definiere den Begriff nicht, verwende ihn undifferenziert[13][14] als „Kampfbegriff“[13] und – wie die grundsätzlich eher lobende FR kritisiert – behaupte, dass der Kapitalismus an allem schuld sei.[10] Andere Aspekte, die – so bemängelt der ablehnende Artikel in der FAZ – für Probleme beispielsweise in Afrika oft als ursächlich angesehen würden, würden bei Kurz ausgeblendet bzw. dem undifferenzierten Kapitalismusbegriff angelastet.[15] In der Folge gehe er die „kaum von der Hand zu weisen[den]“ „Defizite“ des Kapitalismus nicht an und schütte „das Kind mit dem Bade aus.“[15] Die SZ diagnostiziert einen verfehlten Ansatz: „Anstatt nun aber zu fragen, warum gerade der Kapitalismus sich alternativlos durchgesetzt hat, […], verbeißt sich Kurz in alte Denkschemata. Ob und wie die Fehler und Defekte des Kapitalismus korrigiert oder zumindest durch politische Gestaltung aufgefangen werden können – all das interessiert ihn nicht.“[13] Kurz’ Vorgehen und insbesondere der durch die historische Perspektive zu große Kontext sowie das Postulieren notwendiger geschichtlicher Entwicklungswege stünden einer sinnvollen fundamentalen Analyse unseres Wirtschaftssystems im Wege.[13]
Kurz’ Umgang mit der Geschichte wird ebenso zurückgewiesen. Die historische Darstellung selbst – so die SZ deutlich – sei „ein Sammelsurium fragwürdiger Analogien und anmaßender Urteile“.[13] Der Freitag meint, es werde Beliebiges aus der Historie herausgegriffen.[16] Außerdem fehlt der SZ eine Auseinandersetzung mit Denkansätzen, die nicht in Kurz’ Weltbild passten.[13]
Das von Kurz geforderte Rätesystem hält die FAZ für einen „Ladenhüter des neunzehnten Jahrhunderts“. Aufgrund der ausdifferenzierten Gesellschaft gebe es den bei Kurz unterstellten einheitlichen Volkswillen nicht. Auch die von Kurz genannte Alternative einer Revolution bzw. verweigernden Rebellion sei nicht überzeugend und sein Aufruf hierzu „mache das Buch endgültig zum Skandal“.[15]
Ausgaben
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Robert Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft. 1. – 4. Auflage, Ullstein-TB 36308, München / Berlin 2001–2005, ISBN 978-3-548-36308-0; erweiterte Neuauflage: Eichborn, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-8218-7316-9 (Download exit-online.org (PDF; 2,4 MB) 257 Seiten. 2. Auflage, Ullstein, München 2002).
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Schwarzbuch Kapitalismus. (PDF; 2,4 MB) exit-online.org
- Stephan Grigat: Robert Kurz „Schwarzbuch Kapitalismus“. In: Streifzüge, 2/2000
- Michael Heinrich: Blase im Blindflug. Hält das „Schwarzbuch Kapitalismus“ von Robert Kurz, was der Titel verspricht? In: Konkret, März 2000, S. 40–41
Anmerkungen und Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Zitiert wird nach der 2002 erschienenen Ullstein Taschenbuch-Ausgabe.
- ↑ „Gruppe Krisis“, diverse Autoren, Juni 1999: Manifest gegen Arbeit.
- ↑ Alfred Baumann: Ein Leichnam regiert die Gesellschaft. Telepolis, 8. Januar 2000
- ↑ Zum folgenden vgl. Robert Kurz: Das Weltkapital, S. 7 f.
- ↑ Zitiert nach John Kenneth Galbraith: Die Geschichte der Wirtschaft im 20. Jahrhundert. Ein Augenzeuge berichtet, Hamburg 1995.
- ↑ Vgl. Erich Ludendorff: Der totale Krieg. München 1935.
- ↑ Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Leipzig 1845.
- ↑ Vgl. angeblich in einem nicht näher bezeichneten Artikel in: „Der Spiegel 46/1996“ – weder ist in dieser Ausgabe irgendetwas zu einem naheliegenden Thema zu sehen, noch lassen sich die Zitate anders als in diesem Wikipedia-Artikel auffinden.
- ↑ Platz 8 auf der ZEIT-Bestsellerliste „Sachbuch“, Die Zeit, Nr. 2/2000 (Erstveröffentlichungen Sachbuch. Ermittelt aus den Verkäufen von Libri (24. Januar bis 4. Februar 2000) an den Buchhandel weltweit).
- ↑ a b c Günther Frieß, Frankfurter Rundschau, 25. Mai 2000.
- ↑ a b c Hans-Martin Lohmann: Schwarzbuch Kapitalismus. In: Die Zeit, Nr. 51/1999.
- ↑ Stefan Zenklusen, Robert Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus. ( vom 30. September 2007 im Internet Archive) In: Die Wochenzeitung, 07/2000.
- ↑ a b c d e f Michael Birnbaum: Wer hat Angst vorm schwarzen Buch? (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im Mai 2019. Suche in Webarchiven) Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. In: Süddeutsche Zeitung.
- ↑ Robert Heuser: Schwarzbuch Kapitalismus. In: Die Zeit, Nr. 51/1999.
- ↑ a b c Ralf Altenhof: Militant und skandalträchtig (Rezension: Sachbuch). In: FAZ, 24. Januar 2000.
- ↑ Balduin Winter: Die Gedanken sind frei – Des Ableitungsfanatikers Robert Kurzens Katzenkonzert auf die Marktwirtschaft. In: Freitag, 5, 26. Januar 2001.